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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 21.12.2007
Aktenzeichen: 2 StR 485/06 (1)
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 206 a
Ein Beschluss, durch den das Strafverfahren gemäß § 206 a Abs. 1 StPO aufgrund irrtümlicher Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen eines Verfahrenshindernisses eingestellt wurde, ist jedenfalls dann, wenn der Irrtum durch ein täuschendes Verhalten des Beschuldigten selbst oder durch ein diesem zuzurechnendes Täuschungsverhalten eines Dritten verursacht worden ist, durch Beschluss des einstellenden Gerichts aufzuheben. Das Verfahren ist in diesem Fall in dem Verfahrensstand fortzusetzen, in welchem es sich vor der Einstellungsentscheidung befand (Fortführung von BGHSt 45, 108).
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

2 StR 485/06

vom 21. Dezember 2007

in der Strafsache

gegen

wegen Betrugs u. a.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 21. Dezember 2007 gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Senats vom 12. Januar 2007, durch den das Verfahren eingestellt worden ist, wird aufgehoben. Das Verfahren wird fortgesetzt.

2. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 17. Juli 2006 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

Gründe:

1. Das Landgericht hatte den Angeklagten zunächst durch Urteil vom 19. Januar 2005 wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug in zwei Fällen (Fälle 1 und 2) unter Einbeziehung von elf Einzelstrafen aus einer gesamtstrafenfähigen früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und wegen Nötigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (Fall 3) zu einer weiteren Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und eine Maßregel gemäß §§ 69, 69 a StGB angeordnet. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat durch Beschluss vom 7. September 2005 - 2 StR 342/05 - den Schuldspruch des genannten Urteils dahin geändert, dass der Angeklagte in den Fällen 1 und 2 insgesamt einer Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug schuldig ist; im Fall 3 der Urteilsgründe sowie im gesamten Strafausspruch hatte er das Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache insoweit zurückverwiesen.

Durch das angefochtene Urteil vom 17. Juli 2006 hat das Landgericht, nachdem es das Verfahren im Fall 3 gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt hatte, den Angeklagten wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus zwei Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

Gegen dieses Urteil hat die Verteidigerin des Angeklagten am 18. Juli 2006 Revision eingelegt, die sie am 22. August 2006 mit der allgemeinen Sachrüge begründet hat; der Angeklagte hat nach Zustellung des Urteils am 22. August 2006, am 18. September 2006 eine Verfahrensrüge zu Protokoll der Geschäftsstelle des Landgerichts erhoben. Der Generalbundesanwalt hat am 2. November 2006 beantragt, die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.

2. Während des Revisionsverfahrens teilte mit am 30. November 2006 eingegangenem Schreiben (möglicherweise) der Vater des Angeklagten mit, sein Sohn sei verstorben; zugleich übersandte er eine Sterbeurkunde des Standesamts Aachen vom 20. November 2006, wonach der Angeklagte am Morgen desselben Tags in Aachen verstorben sei. Auf das Ersuchen des Senats um Überprüfung übersandte die Staatsanwaltschaft Aachen mit Schreiben vom 21. Dezember 2006 eine Sterbeurkunde des Standesamts Aachen vom 18. Dezember 2006. Daraufhin hat der Senat durch Beschluss vom 12. Januar 2007 das Verfahren wegen Eintritts eines Verfahrenshindernisses gemäß § 206 a Abs. 1 StPO eingestellt (zur Notwendigkeit vgl. BGHSt 45, 108) und die Kosten des Rechtsmittelverfahrens der Staatskasse auferlegt.

Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Aachen haben ergeben, dass die Sterbeurkunde mit Hilfe einer gefälschten Todesbescheinigung erlangt wurde und dass der Angeklagte tatsächlich nicht verstorben, sondern derzeit flüchtig ist. Gegen ihn sowie gegen seinen Vater führt die Staatsanwaltschaft Aachen Ermittlungsverfahren wegen Betrugs, Urkundenfälschung u. a.. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, dem Revisionsverfahren Fortgang zu geben.

3. Das Verfahren war unter Aufhebung des Einstellungsbeschlusses vom 12. Januar 2007 fortzusetzen.

a) Die Einstellung eines Strafverfahrens durch Beschluss gemäß § 206 a StPO wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses ist, wie sich schon aus § 206 a Abs. 2 StPO ergibt, formeller und materieller Rechtskraft fähig. Sie hat grundsätzlich dieselben Rechtswirkungen wie ein verfahrenseinstellendes Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO (Rieß in LR 25. Aufl. § 206 a Rdn. 78; Paeffgen in SK-StPO § 206 a Rdn. 31; Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. § 206 a Rdn. 11; jeweils m.w.N.). Ob dies in jeder Hinsicht auch hinsichtlich einer möglichen Durchbrechung der Rechtskraft gilt, ist im Einzelnen streitig; Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hierzu liegt, soweit ersichtlich, nicht vor. Nach in Rechtsprechung und Literatur weitgehend übereinstimmender Ansicht kann jedenfalls dann, wenn das Verfahren wegen (behebbaren) Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung, etwa eines Strafantrags oder einer Ermächtigung, eingestellt worden ist, bei nachträglich zulässigem Eintritt dieser Voraussetzung das Verfahren fortgeführt oder ein neues Verfahren durchgeführt werden (vgl. Meyer-Goßner aaO Einl. Rdn. 154). Wenn die Einstellung dagegen aufgrund irrtümlicher Annahme von Tatsachen erfolgt ist, welche ein Verfahrenshindernis begründen, soll wegen der Rechtskraftwirkung des Einstellungsbeschlusses dessen Aufhebung unter Fortsetzung des Verfahrens ausgeschlossen sein (vgl. BayObLGSt 1970, 115; OLG Köln NJW 1981, 2208; Meyer-Goßner aaO § 206 a Rdn. 11; Rieß aaO § 206 a Rdn. 75; Seidl in KMR StPO § 206 a Rdn. 46; Tolksdorf in KK-StPO 5. Aufl. § 206 a Rdn. 15; a.A. Peters JR 1970, 392). Teilweise wird vertreten, nach irrtümlicher Einstellung dürfe ein neues Verfahren eingeleitet werden, wenn sich nachträglich herausstellt, dass das Verfahrenshindernis in Wirklichkeit nicht bestand (Seidl aaO Rdn. 47; Tolksdorf aaO Rdn. 15; Paeffgen aaO Rdn. 31; Rieß aaO Rdn. 77, 78). Bei nachträglichem Wegfall eines Verfahrenshindernisses wird eine Fortsetzung des Verfahrens oder neue Anklageerhebung für zulässig gehalten (Meyer-Goßner aaO).

b) Der Senat teilt diese Ansichten jedenfalls für den hier vorliegenden Fall nicht, dass der Irrtum über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines Verfahrenshindernisses durch ein täuschendes Verhalten des Beschuldigten selbst oder ein diesem zuzurechnendes Täuschungsverhalten eines Dritten verursacht worden ist. Eine Durchbrechung der Rechtskraft ist in diesem Fall nach dem Rechtsgedanken des § 362 StPO zulässig und geboten (zur analogen Anwendung von § 362 StPO vgl. auch Rieß aaO § 206 a Rdn. 78). Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zu Ungunsten des Angeklagten ist danach unter anderem in Fällen zulässig, in welchen die vorangehende, formell rechtskräftige Entscheidung auf der Grundlage von Beweisergebnissen erfolgte, deren auf Täuschung beruhende Unrichtigkeit zu Gunsten des Angeklagten sich nachträglich erweist (§ 362 Nr. 1, 2 StPO); darüber hinaus auch bei feststehender schuldhafter Amtspflichtverletzung eines Richters oder Schöffen in dem Ausgangsverfahren (§ 362 Nr. 3 StPO). Diese Voraussetzungen unterscheiden die in § 362 StPO geregelte Durchbrechung der Rechtskraft grundlegend von Fällen, in denen eine möglicherweise unzutreffende Entscheidung aufgrund eines Rechtsirrtums zustande gekommen ist. Den Fällen, die das Bayerische Oberste Landesgericht (JR 1970, 391 mit krit. Anm. Peters) und das Oberlandesgericht Köln (NJW 1981, 2208) zu entscheiden hatten, lagen jeweils Einstellungsentscheidungen aufgrund irriger Annahmen zugrunde, die ihre Ursache im Bereich der Justiz hatten (Abhandenkommen eines Eröffnungsbeschlusses und einer verjährungsunterbrechenden Verfügung aus der Akte). Auch hiervon unterscheidet sich der hier vorliegende Fall einer aus der Sphäre des Beschuldigten herrührenden aktiven Täuschung grundlegend. Die Beseitigung der Rechtskraft ist in den genannten Fällen des § 362 StPO im Hinblick auf die offensichtlich unrechtmäßige materielle Grundlage der formell rechtskräftigen Entscheidung gerechtfertigt. Nicht anders ist es im hier vorliegenden Fall einer durch Täuschung herbeigeführten Verfahrensbeendigung durch Prozessentscheidung.

Den Fällen der manipulativen Einwirkung auf das Verfahren mit einer den Beschuldigten bei der Sachentscheidung möglicherweise begünstigenden Wirkung steht der Fall, dass der Beschuldigte selbst oder in seinem Auftrag ein Dritter durch Täuschung oder Drohung eine ihn begünstigende formelle Verfahrensbeendigung bewirkt hat, zumindest gleich. Aus dem Umstand, dass das Gesetz keine ausdrückliche Regelung über die Wiederaufnahme oder Fortführung eines durch Beschluss nach § 206 a StPO eingestellten Verfahrens enthält, ergibt sich nicht, dass ein solcher Beschluss, wenn die Unrichtigkeit der ihm zugrunde liegenden Tatsachenannahme bewiesen ist, eine weiter reichende Rechtskraftwirkung haben könnte als ein freisprechendes oder verfahrenseinstellendes Urteil. Jedenfalls dann, wenn die irrtümliche Annahme eines endgültigen Verfahrenshindernisses auf einer dem Beschuldigten zuzurechnenden Täuschungshandlung beruht, ist eine Durchbrechung der Rechtskraft des gemäß § 206 a Abs. 1 StPO einstellenden Beschlusses geboten.

c) Zur Verfahrensfortsetzung bedarf es in diesem Fall weder einer neuen Anklage noch eines erneuten Eröffnungsbeschlusses; vielmehr ist durch Beschluss entsprechend § 206 a StPO der Einstellungsbeschluss aufzuheben und das Verfahren in dem Stand fortzusetzen, in welchem es sich vor der irrtümlichen Einstellung befand. Das gilt auch, wenn die Einstellung im Rechtsmittelverfahren erfolgt ist. Ein dem entgegenstehender Vertrauenstatbestand kann durch die dem Angeklagten oder durch ein ihm zurechenbares Verhalten eines Dritten arglistig herbeigeführte Verfahrenseinstellung nicht begründet sein. Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ausgeführt worden ist, bei Eintritt eines endgültigen Verfahrenshindernisses im Revisionsverfahren werde durch Erlass eines Einstellungsbeschlusses das angefochtene, noch nicht rechtskräftige Urteil ohne Weiteres "gegenstandslos" (vgl. etwa BGHR StPO § 467 Abs. 3 Verfahrenshindernis 2; BGH, Beschl. vom 10. Juli 2001 - 1 StR 235/01), erscheint dies schon deshalb zweifelhaft, weil zur Begründung der Kostenentscheidung in entsprechenden Einstellungsbeschlüssen regelmäßig auf die Erfolgsaussichten der Revision und damit gerade auf die inhaltliche Richtigkeit des Urteils abgestellt worden ist. Da ein nicht rechtskräftiges Urteil nach Verfahrenseinstellung nicht vollstreckt werden kann, kommt es auf die materielle Bedeutung der "Gegenstandslosigkeit" nicht an; die Verfahrensbeendigung durch Einstellung im Rechtsmittelverfahren ist jedenfalls nicht mit einer (formellen) Aufhebung des angefochtenen Urteils gleichzusetzen.

d) Vorliegend ist erwiesen, dass das angenommene Verfahrenshindernis tatsächlich nicht vorlag. Der Angeklagte ist nicht verstorben, sondern hält sich verborgen; bei der - von dem Vater des Angeklagten oder unter dessen Namen von dem Angeklagten selbst - vorgelegten Todesbescheinigung des angeblichen Arztes "Dr. W." handelte es sich um eine Fälschung. Diese Täuschung ist dem Angeklagten, der bereits in der Vergangenheit in einer Vielzahl von Fällen mit gefälschten, angeblich von Amtsträgern, Rechtsanwälten oder Verfahrensbeteiligten herrührenden Urkunden Einfluss auf verschiedene Strafverfahren zu nehmen versucht hat, offenkundig zuzurechnen. Der Einstellungsbeschluss vom 12. Januar 2007 war daher aufzuheben und das Revisionsverfahren fortzusetzen.

4. Die Revision des Angeklagten gegen das angefochtene Urteil war gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen, da die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben hat.

Ende der Entscheidung

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