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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 06.11.1998
Aktenzeichen: 2 StR 636/97
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 261
StPO § 354 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

2 StR 636/97

vom

6. November 1998

in der Strafsache

gegen

wegen Verdachts des Mordes

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 4. November 1998 in der Sitzung vom 6. November 1998, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof

Dr. Jähnke,

die Richter am Bundesgerichtshof

Niemöller, Detter, Dr. Bode, Rothfuß

als beisitzende Richter,

Bundesanwalt Wienroeder

als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Rechtsanwalt

in den Terminen zur Verhandlung und Verkündung,

Rechtsanwalt

in der Verhandlung

als Verteidiger,

die Angeklagte in Person

in der Verhandlung,

Rechtsanwalt,

Rechtsanwalt

in den Terminen zur Verhandlung und Verkündung als Nebenklägervertreter,

Justizobersekretärin

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 24. April 1997 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

I.

Die Angeklagte war durch Urteil des Landgerichts Fulda vom 8. Januar 1988, das der Senat am 17. Februar 1989 bestätigt hatte (BGHSt 36, 119), wegen Mordes an ihren Kindern M. und K. zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt worden.

Mit Beschluß vom 4. Dezember 1995 (vgl. StV 1996, 138 f) hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten der Angeklagten und die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet. Das nunmehr zuständige Landgericht Gießen hat die Angeklagte freigesprochen. Gegen den Freispruch richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft - welche der Generalbundesanwalt vertritt - und des Nebenklägers. Sie rügen die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts.

II.

Die Rechtsmittel haben mit der Sachrüge Erfolg, eines Eingehens auf die Verfahrensrügen bedarf es deshalb nicht.

1. Nach den Feststellungen war die Ehe der Angeklagten mit dem Nebenkläger zerrüttet. Zwischen den Eheleuten kam es des Öfteren zu verbalen und auch tätlichen Auseinandersetzungen. Die Angeklagte hatte sich einem anderen Mann, dem amerikanischen Staatsangehörigen P., zugewandt. Dem Nebenkläger blieb das Verhältnis nicht verborgen. Sie selbst konfrontierte ihn schon bald mit ihrem Entschluß, sich scheiden zu lassen und mit P. und den Kindern zusammenleben zu wollen. Eine Scheidung akzeptierte der Nebenkläger aber nicht. Die Eheleute lebten danach "distanziert und weitgehend wortlos nebeneinander".

2. Am Sonntag, dem 3. August 1986 kam es zwischen den Eheleuten W. zu einer tätlichen Auseinandersetzung. Die Angeklagte fuhr danach mit den Kindern und P. zum Baden. Nachdem sie die Kinder wieder nach Hause gebracht hatte, wo sich der Nebenkläger aufhielt, verließ sie gegen 20.15 Uhr die Wohnung und verbrachte den Abend mit P.. Gegen 3.20 Uhr kehrte sie in die Wohnung zurück.

3. Am Vormittag des 4. August 1986 erledigte die Angeklagte mit dem Familien-PKW verschiedene Besorgungen in einem Nachbarort. Gegen 11.00 Uhr wurde sie an der Stelle gesehen, an der drei Tage später die Leiche von M. gefunden wurde. Nach ihrer Rückkehr zur Wohnung beteiligte sie sich an der Suche nach den Kindern, die zwischenzeitlich vermißt wurden. Am 7. August 1986 wurden die Leichen der Kinder gefunden.

4. Die Angeklagte erklärte in mehreren Vernehmungen, die Kinder hätten noch gelebt, als sie am Montagvormittag (4. August 1986) die Wohnung verlassen habe. Am 29. August 1986 bekundete sie in einer Beschuldigtenvernehmung, die Kinder hätten tot in ihren Betten gelegen, als sie am 4. August 1986 gegen 3.20 Uhr nach Hause gekommen sei. Ihr Mann habe, während sie außer Haus gewesen sei, die Kinder getötet, damit, wie er geäußert habe, keiner sie im Scheidungsfalle bekomme.

5. Nach den Feststellungen des Landgerichts sind die Kinder M. und K. entweder in der Nacht vom 3. zum 4. August 1986 durch den Nebenkläger oder am Vormittag des 4. August 1986 von der Angeklagten getötet worden. Die Schwurgerichtskammer hat sich nicht in der Lage gesehen zu klären, ob der Nebenkläger während der Abwesenheit der Angeklagten die Kinder tötete und sie diese bei ihrer Ankunft tot vorfand oder ob die Angeklagte sie am Vormittag des nächsten Tages tötete und an den späteren Fundorten ablegte.

6. Wenn die Kinder am Vormittag des 4. August 1986 noch gelebt haben, kommt nach Ansicht des Landgerichts nur die Angeklagte als Täterin in Betracht. Freigesprochen hat das erkennende Gericht die Angeklagte, weil es sich von dieser Tatsache nicht zu überzeugen vermochte. Das Landgericht hat zwar eine Reihe von Umständen festgestellt, die die Angeklagte in starkem Maße belasten. Es hat sich aber nicht in der Lage gesehen, die Täterschaft mit letzter Sicherheit zu klären, zumal es kein Motiv für die Tötung der Kinder durch die Angeklagte hat feststellen können und - sachverständig beraten - das Verhalten der Angeklagten nach dem Tod der Kinder als "psychologisch nachvollziehbar und mit der Persönlichkeit der Angeklagten vereinbar" beurteilt hat. In diesem Zusammenhang vermochte es auch den Angaben der Eheleute F. nicht zu folgen, die bekundet hatten, sie hätten die Kinder am Vormittag des 4. August 1986 noch gesehen.

III.

Die Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft.

1. Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Die revisionsrechtliche Beurteilung ist auf die Prüfung beschränkt, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gegen gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtlich zu beanstanden sind tatrichterliche Beweiserwägungen ferner dann, wenn sie erkennen lassen, daß das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt und dabei verkannt hat, daß eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemand anzweifelbare Gewißheit nicht erforderlich ist, vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zuläßt (st. Rspr., vgl. BGHSt 10, 208 f.; BGH StV 1994, 580 m.w.N.; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 22, 25; zuletzt BGH, Urteil vom 21. August 1997 - 5 StR 339/97 - und Urteil des Senats vom 18. Februar 1998 - 2 StR 471/97).

2. Solche Rechtsfehler liegen hier vor. Sie betreffen die Würdigung der von den Eheleuten F. als Zeugen gemachten Angaben.

Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen sind die Kinder entweder in der Nacht vom 3. zum 4. August 1986 von R. W. oder am Vormittag des 4. August 1986 von der Angeklagten getötet worden. Die Eheleute F. haben von ihrer ersten Vernehmung am 11. August 1986 an und auch in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Gießen "sicher und widerspruchsfrei in konstanter Weise übereinstimmend" geschildert, die Kinder am Montagvormittag gesehen zu haben. Traf dies zu, dann konnte unter den gegebenen, von der Schwurgerichtskammer festgestellten Umständen nicht der Ehemann der Angeklagten, sondern nur diese selbst die Kinder umgebracht haben.

Das Landgericht ist den Bekundungen der Eheleute F. jedoch nicht gefolgt. Die dafür gegebene Begründung begegnet in mehrfacher Hinsicht Bedenken.

a) Das Landgericht prüft die Aussagen eingehend und stellt fest, daß "ein Irrtum der Eheleute F. trotz lediglich kurzer Wahrnehmung und unzureichender Lichtbildvorlage unwahrscheinlich erscheine", es bestehe "kein ernsthafter Anhalt für das Vorliegen von Wahrnehmungsmängeln", eine Verwechslung der Kinder durch die Zeugen "erscheine kaum vorstellbar", für eine bewußt unwahre Aussage der Zeugen gebe es keine "greifbaren Anhaltspunkte" (UA S. 106). Nach diesen Ausführungen hat das Landgericht keine ernsthaft in Betracht kommenden Hinweise dafür gesehen, daß die Angaben der Zeugen F. unrichtig sein könnten. Weshalb das Landgericht den Bekundungen gleichwohl nicht gefolgt ist, bleibt unklar. Die Urteilsgründe sind in diesem Punkt widersprüchlich. Konnte das Landgericht nach Prüfung aus den Bekundungen selbst oder aus dem sonstigen Beweisergebnis keine rational nachvollziehbaren Gründe für Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zeugen oder an der inhaltlichen Richtigkeit der Aussagen finden, so waren diese zutreffend. Daraus mußte das Landgericht dann aber die Folgerungen ziehen. Es konnte nicht die Zeugen einerseits für glaubwürdig halten, andererseits davon absehen, ihre Aussagen dem Urteil zugrundezulegen.

b) Das Landgericht führt allerdings auch aus, insgesamt sei ein Irrtum der Eheleute F. "unwahrscheinlich". Damit könnte zwar zum Ausdruck kommen, ein Irrtum der Zeugen sei nicht völlig ausgeschlossen, ihre Angaben genügten deshalb nicht für die Feststellung, die Kinder hätten noch am Montagvormittag gelebt. Wie dargelegt, hat das Landgericht einen Irrtum der Zeugen aber nicht als eine ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit angesehen. Wenn die Schwurgerichtskammer dann trotzdem an der Richtigkeit der Bekundungen zweifelte, ist dies allenfalls mit einer Überspannung der Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung zu erklären (vgl. dazu BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 7 = BGH NStZ 1988, 236, 237; zuletzt Urteil des Senats vom 29. April 1998 - 2 StR 65/98). Denn eine höhere Gewißheit für die Richtigkeit der Zeugenbekundungen als die festgestellte wäre nur als Ausschluß von abstrakt-theoretischen Zweifeln denkbar. Ein solcher kann aber nicht gefordert werden.

c) Soweit die Schwurgerichtskammer die Bekundungen der Eheleute F., obwohl sie "insgesamt auch heute noch eindeutig einen schwerwiegenden Tatverdacht" gegen die Angeklagte begründen, ihrer Entscheidung deshalb nicht zugrundelegt (UA S. 108), weil "ihre Aussagen - im Gegensatz zu den sehr viel weiterreichenden Erkenntnisgrundlagen des Landgerichts Fulda - nach dem Ergebnis dieser Beweisaufnahme nicht mehr neben zahl- reichen anderen nicht zu erschütternden Indizien stehen", ist zu besorgen, daß das Landgericht dabei von einem unrichtigen Maßstab ausgegangen ist. Maßgebend war allein das Beweisergebnis der neuen Hauptverhandlung, das eigenständig gewürdigt werden mußte. Wenn dies für die Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten ausreichte, war es unerheblich, ob früher als wesentlich angesehene Beweise entkräftet oder in ihrem Gewicht gemindert waren. Mit der Beweissituation im früheren Verfahren vor dem Landgericht Fulda mußte die Schwurgerichtskammer sich nicht auseinandersetzen, sie durfte vor allem nicht deshalb, weil früher als Beweis dienende Umstände nicht mehr als erwiesen oder aussagekräftig angesehen werden konnten (z.B. das Faserspurengutachten), eine Verurteilung als nicht mehr möglich ansehen.

d) Bedenken unterliegt die Beweiswürdigung auch insoweit, als das Landgericht meint, auf die Aussagen der Zeugen F. könne eine Verurteilung allein nicht gestützt werden, da zusätzliche Belastungsmomente fehlten.

aa) Die Strafkammer hat insoweit schon versäumt, die Aussagen der Eheleute F. zusammen mit den Bekundungen der weiteren Zeugen zu würdigen, welche die Kinder ebenfalls noch lebend gesehen haben. Die Zeugin N. hat durchgängig, die Zeugin A. zumindest in früheren Verfahrensabschnitten bekundet, die Kinder an jenem Vormittag gesehen zu haben, und zwar unabhängig voneinander, bei verschiedenen Gelegenheiten und aus verschiedenen Wahrnehmungspositionen.

Zwar ist die Annahme der Schwurgerichtskammer, daß sich die Zeugin N. und die Zeugin A. (die Großmutter der Angeklagten), die ihre diesbezügliche frühere Aussage widerrufen hatte, jeweils geirrt haben könnten, für sich genommen möglich und daher grundsätzlich vom Revisionsgericht hinzunehmen. Die Kammer hat jedoch nicht erwogen, ob gegen einen Irrtum der Zeugen sprechen kann, daß mehrere Personen bekundet haben, unabhängig voneinander die Kinder in unterschiedlichen Situationen lebend gesehen zu haben. Nicht bedacht ist, daß die Wahrscheinlichkeit eines gleichzeitigen Irrtums bei mehreren Personen - die unabhängig voneinander im Kern dasselbe Beweisthema bestätigen - geringer sein kann als bei einer einzelnen Zeugenaussage.

Dem muß nicht entgegenstehen, daß andere Personen, vor allem die Spielkameraden von M. und K., diese am Vormittag nicht gesehen haben. Da deren Beobachtungsmöglichkeiten sich zeitlich unterschieden von denen der Zeugen, die die Kinder gesehen haben, waren deren Bekundungen für die Überzeugungsbildung des Landgerichts ohne Bedeutung.

bb) Zweifel an der Richtigkeit der von den Zeugen F. gemachten Angaben lagen angesichts des gesamten Beweisergebnisses auch nicht dergestalt auf der Hand, daß die Bedeutungslosigkeit ihrer Bekundungen für das Ergebnis offenkundig war. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall.

Als gewichtige Anhaltspunkte für eine Täterschaft der Angeklagten hat das Landgericht nämlich rechtsfehlerfrei festgestellt:

die in sich wenig plausible, nicht nachvollziehbare Einlassung der Angeklagten, ihr Verhalten an den Tagen bis zur Auffindung der Leichen der Kinder, das Ergebnis der Obduktion, die Kleidung der Kinder, die zeitliche Möglichkeit der Angeklagten, die Tat am Vormittag des 4. August 1986 begehen zu können sowie die Beobachtungen der Zeugin E., der Schwester der Angeklagten, in der Nacht vom 3. zum 4. August 1986.

Vor allem die Obduktionsbefunde deuten auf eine Tötung der Kinder nach der Einnahme eines Frühstücks, also am Montagvormittag, hin. Gegen deren Tötung in der Nacht spricht auch, daß sie Tageskleidung trugen, zum Teil gekämmt waren und Haarspangen bei sich hatten, die sie üblicherweise vor dem Schlafengehen ablegten.

IV.

Die Sache muß deshalb neu verhandelt werden. Der Senat hielt es für angebracht, die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main zurückzuverweisen.

Die Entschädigungsregelung des angefochtenen Urteils ist gegenstandslos.



Ende der Entscheidung

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