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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 14.06.2000
Aktenzeichen: 3 StR 26/00
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 231 Abs. 2
StPO § 231 Abs. 2

Die Fortsetzung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten nach § 231 Abs. 2 StPO setzt nicht voraus, daß der Angeklagte über diese Möglichkeit zuvor belehrt worden ist.

BGH, Urt. vom 14. Juni 2000 - 3 StR 26/00 - LG Verden


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 StR 26/00

vom

14. Juni 2000

in der Strafsache

gegen

wegen schwerer räuberischer Erpressung

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 14. Juni 2000, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Kutzer,

Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan,

die Richter am Bundesgerichtshof Winkler, Pfister, von Lienen als beisitzende Richter,

Bundesanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Rechtsanwalt als Verteidiger,

Justizamtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 24. September 1999 aufgehoben, soweit gegen den Angeklagten die Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf zwei Verfahrensrügen und die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat nur in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

1. Die Befangenheitsrüge versagt. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zu Recht ausgeführt hat, braucht nicht entschieden zu werden, ob die Strafkammer in der konkreten Prozeßsituation verpflichtet gewesen wäre, dem Antrag des Verteidigers auf Unterbrechung der Hauptverhandlung für mindestens einen Tag zur Vorbereitung des Schlußvortrags und etwaiger Hilfsbeweisanträge stattzugeben. Gegen eine solche Verpflichtung spricht zumindest, daß an diesem Tag die Hauptverhandlung nach der sich aus dem Ladungsplan ergebenden Vorausplanung beendet werden sollte, lediglich ein Sachverständiger noch ergänzend gehört wurde und auch die Staatsanwaltschaft in der Lage war, das Ergebnis der sechstägigen Hauptverhandlung unmittelbar nach Schließung der Beweisaufnahme am Vormittag zusammenzufassen. Die Entscheidung der Strafkammer ist nicht willkürlich. Aus ihr läßt sich nicht die Besorgnis der Befangenheit herleiten.

2. Ohne Erfolg bleibt auch die Rüge der vorschriftswidrigen Abwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung (§ 338 Nr. 5 StPO) durch Verletzung des § 231 Abs. 2 StPO. Ihr liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde: Am 6. Hauptverhandlungstag war der Angeklagte nicht erschienen. Die Strafkammer war davon überzeugt, daß der Angeklagte eigenmächtig ausgeblieben war, setzte die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten mit einer ergänzenden Anhörung eines Sachverständigen sowie mit dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft fort und führte sie am 7. Hauptverhandlungstag mit dem Plädoyer des Verteidigers und der Urteilsverkündung in Abwesenheit des Angeklagten zu Ende. Die Revision zieht ein eigenmächtiges Ausbleiben des an diesem Tag geflüchteten Angeklagten nicht in Zweifel und beanstandet auch die Ermessensentscheidung der Kammer, die fernere Anwesenheit des Angeklagten für entbehrlich zu halten, nicht. Gleichwohl ist sie der Ansicht, die Strafkammer hätte nicht nach § 231 Abs. 2 StPO verfahren dürfen, weil der auf freiem Fuß befindliche Angeklagte bei der Ladung zu den Fortsetzungsterminen nicht auf die Möglichkeit hingewiesen worden war, daß auch ohne ihn weiterverhandelt werden könnte. Sie stützt sich dabei auf eine Entscheidung des OLG Düsseldorf (NJW 1970, 1889). Diese Auffassung der Revision teilt der Senat indes nicht.

a) Der Angeklagte ist nach § 231 Abs. 1 StPO grundsätzlich zur ununterbrochenen Anwesenheit während der gesamten Hauptverhandlung verpflichtet. Verstößt er gegen diese Verpflichtung, indem er sich aus der Hauptverhandlung entfernt oder bei der Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung ausbleibt, so kann diese nach § 231 Abs. 2 StPO in seiner Abwesenheit zu Ende geführt werden, wenn er über die Anklage schon vernommen war und das Gericht seine fernere Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet. Voraussetzung ist allerdings, daß sich der Angeklagte eigenmächtig entfernt oder eigenmächtig ausbleibt, d.h., daß er ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt (BGHSt 37, 249, 251, 255). Eigenmächtig handelt deshalb u.a. derjenige Angeklagte nicht, der in der Fortsetzungsverhandlung ausbleibt, ohne ordnungsgemäß geladen worden zu sein (vgl. BGHSt 38, 271, 273).

b) Eine ordnungsgemäße Ladung zum Fortsetzungstermin setzt nicht voraus, daß der Angeklagte dabei über die möglichen Konsequenzen seines Ausbleibens belehrt wird. Der vom OLG Düsseldorf (NJW 1970, 1889) geäußerten, nicht näher begründeten und die Entscheidung nicht tragenden Gegenansicht, die in der Literatur teilweise auf Zustimmung gestoßen ist (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 231 Rdn. 14; Schlüchter in SK-StPO 6. Erg.Lfg. § 229 Rdn. 10, § 231 Rdn. 21; Paulus in KMR 5. Erg.Lfg. § 231 Rdn. 21; Julius in HK-StPO § 229 Rdn. 9; Hilger NStZ 1984, 41, 42; ablehnend wohl Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 229 Rdn. 7, der einen Hinweis nur als möglicherweise angebracht bezeichnet; ebenso Tolksdorf in KK 4. Aufl. § 229 Rdn. 9: "zweckmäßig") vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

§ 231 Abs. 2 StPO sieht eine solche Belehrung nicht vor. Damit unterscheidet sich die Regelung von denen in § 216 Abs. 1 Satz 1, § 232 Abs. 1 und § 323 Abs. 1 Satz 2 StPO, wo Warnungen bzw. Hinweise für den Angeklagten gesetzlich vorgeschrieben sind. Die Verhaftung oder Vorführung des Angeklagten im Falle unentschuldigten Ausbleibens, die Durchführung der gesamten Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, sowie die Verwerfung der Berufung des Angeklagten ohne Sachverhandlung sind jeweils davon abhängig, daß dem Angeklagten ein entsprechender Hinweis in der Ladung gegeben worden ist. Das Gesetz sieht somit dann eine Belehrung vor, wenn es besonders einschneidende Folgen an das Ausbleiben des Angeklagten knüpft. Bei § 231 Abs. 2 StPO ist die Situation insoweit anders, als der Angeklagte hier bereits zur Sache vernommen worden und die Prozeßlage so gestaltet sein muß, daß die weitere Anwesenheit des Angeklagten entbehrlich erscheint. Anhaltspunkte für eine Lücke in der gesetzlichen Regelung bestehen nicht. Eine entsprechende Anwendung der Belehrungsvorschriften ist daher nicht geboten.

Auch aus dem Begriff der Eigenmacht ergibt sich keine Pflicht zur Belehrung (so aber Schlüchter in SK-StPO 6. Erg.Lfg. § 231 Rdn. 21). Von seiner grundsätzlichen Anwesenheitspflicht hat der Angeklagte durch die Ladung Kenntnis. Ein Hinweis dahingehend, das Gericht könne unter Umständen ohne Anwesenheit des Angeklagten das Verfahren fortsetzen, kann sogar die Gefahr in sich bergen, bei dem Angeklagten die Fehlvorstellung hervorzurufen, daß seine Anwesenheitspflicht beim Fortsetzungstermin nicht mehr bestehe.

Der Auffassung des OLG Düsseldorf stehen auch praktische Bedenken entgegen. Wie der Generalbundesanwalt zurecht ausgeführt hat, könnte eine Belehrungspflicht nicht auf den Fall des Ausbleibens bei der Fortsetzungsverhandlung beschränkt werden, da § 231 Abs. 2 StPO das Sich-Entfernen dem Ausbleiben gleichstellt. Konsequenterweise müßte daher stets in dem Moment, in dem der Angeklagte nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO Gelegenheit zur umfassenden Äußerung gehabt hatte (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 231 Rdn. 11; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 231 Rdn. 19), eine Belehrung des Angeklagten dahin erfolgen, daß er bei eigenmächtigem Sich-Entfernen oder Ausbleiben mit der Möglichkeit der Fortführung der Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit rechnen müsse, falls das Gericht seine fernere Anwesenheit nicht mehr für erforderlich erachten würde. Diese pauschale Belehrung brächte erst recht die Gefahr mit sich, daß der Angeklagte seine Anwesenheit als in seinem Belieben stehend ansieht.

3. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand. Nach § 66 Abs. 4 Sätze 3 und 4 StGB (= § 66 Abs. 3 Sätze 3 und 4 StGB in der zur Tatzeit geltenden Fassung) bleibt eine frühere Tat bei der Prüfung der formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind, wobei die Zeit, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist, nicht eingerechnet wird. Den Urteilsfeststellungen läßt sich nicht entnehmen, ob in diesem Sinne Verjährung bezüglich des Sparkassenüberfalls vom 16. Februar 1967 eingetreten war, als der Angeklagte am 20. Dezember 1978 u.a. einen Mordversuch unternahm. Der Angeklagte befand sich zwar innerhalb dieses Zeitraums (11 Jahre, zehn Monate und vier Tage) vom 2. März 1967 bis zu seiner vorzeitigen Entlassung mit Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung am 31. Januar 1974 im Freiheitsentzug (sechs Jahre, zehn Monate und 29 Tage), jedoch war er in dieser Zeit aus einem ihm gewährten Vollzugsurlaub nicht zurückgekehrt, hatte neue Straftaten begangen und war deshalb später wegen Diebstahls, Urkundenfälschung und Führens einer Schußwaffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden (UA S. 7). Nähere Angaben zu der Dauer der Nichtrückkehr enthält das Urteil nicht. Sie läßt sich auch nicht aus den mitgeteilten weiteren Vollstreckungsdaten rückschließen. Da der Senat nicht ausschließen kann, daß damit die ohnehin fast verstrichene Verjährungszeit vor der neuen Tat abgelaufen war, muß die Anordnung der Maßregel aufgehoben werden. Die ihr zugrundeliegenden Feststellungen, insbesondere die zu dem bei dem Angeklagten bestehenden Hang können bestehen bleiben. Der neue Tatrichter muß lediglich ergänzende Feststellungen zu den Vollstreckungsdaten treffen, um über die Maßregel entscheiden zu können. Sollte er feststellen, daß die Tat vom 16. Februar 1967 nicht mehr als Voraussetzung für die Sicherungsverwahrung in Betracht kommt, so wird er die Maßregel nicht auf § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB stützen können, da diese Vorschrift erst am 31. Januar 1998 in Kraft getreten ist und nur Anwendung findet, wenn der Täter eine der Straftaten der dort bezeichneten Art nach diesem Tag begangen hat (Art. 1 a Abs. 2 EGStGB).

4. Die Verhängung der Freiheitsstrafe ist durch diesen Rechtsfehler nicht zum Nachteil des Angeklagten berührt worden; vielmehr hat das Landgericht die Anordnung der Sicherungsverwahrung als bestimmenden Strafmilderungsgrund ausdrücklich in den Urteilsgründen hervorgehoben. Auch sonst hat die Überprüfung des Urteils keine weiteren Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Ende der Entscheidung

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