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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 23.08.2005
Aktenzeichen: 4 ARs 19/05
Rechtsgebiete: IRG
Vorschriften:
IRG § 83 Nr. 3 | |
IRG § 1 Abs. 3 | |
IRG § 1 Abs. 4 | |
IRG § 42 Abs. 1 | |
IRG § 1 Abs. 4 Satz 2 |
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
vom 23. August 2005
in dem Auslieferungsverfahren
gegen
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. August 2005 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Tepperwien, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz und Prof. Dr. Kuckein sowie die Richterinnen am Bundesgerichtshof Solin-Stojanovic und Sost-Scheible beschlossen:
Tenor:
Die Sache wird an das Kammergericht Berlin zurückgegeben.
Gründe:
I.
1. Das Ministerium für Justiz der Italienischen Republik hat mit Schreiben vom 18. September 2002 um die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Vollstreckung der in dem Urteil des Landgerichts Modica vom 6. März 2001 - Urteilsreg. Nr. 288/01 - wegen Hehlerei (Tatzeit: 26. April 1998) verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten sowie der Geldstrafe in Höhe von 1.200.000 Lire (= 619,75 Euro) ersucht. Das in Abwesenheit des durch einen bestellten Pflichtverteidiger vertretenen Verfolgten verkündete und nicht mit einem Rechtsmittel angefochtene Urteil ist seit dem 24. Juli 2001 rechtskräftig. Der Verfolgte war am 26. April 1998 von der italienischen Polizei darüber unterrichtet worden, dass gegen ihn wegen des Verdachts der Hehlerei ermittelt werde. Er benannte nach Aufforderung eine Adresse für künftig vorzunehmende Zustellungen, hat sich aber dann dem weiteren Verfahren entzogen. Unter der Zustellungsadresse war er nicht auffindbar.
Eine Zusicherung, dass dem Verfolgten nach der Auslieferung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren eingeräumt werde, haben die italienischen Behörden nicht abgegeben.
Zur Vollstreckung zweier weiterer gegen den Verfolgten ergangener italienischer Verurteilungen hat das Kammergericht die Auslieferung für zulässig erklärt. Der Verfolgte ist daraufhin am 19. Dezember 2003 nach Italien ausgeliefert worden.
2. Nach Auffassung des Kammergerichts in Berlin liegt wegen der Tat vom 26. April 1998 ein Abwesenheitsurteil in einem so genannten Fluchtfall vor, bei dem die Auslieferung des Verfolgten nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (BGBl II 1964, 1369) in Verbindung mit dem Zweiten Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommen vom 17. März 1978 (BGBl II 1990, 118; 1991, 874) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung (vgl. BVerfG StV 2004, 438, 440; BGHSt 47, 120, 123; Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 3. Aufl. § 73 IRG Rdn. 78 ff. jew. m.w.N.) zulässig wäre.
Nachdem der deutsche Gesetzgeber durch das Europäische Haftbefehlsgesetz - EuHbG - vom 21. Juli 2004 (BGBl I 1748), in Kraft getreten am 23. August 2004, den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates der Europäischen Union vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. EG Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1 ff.) - RbEuHb -, insbesondere durch die Neufassung des Achten Teils (§§ 78 ff.) des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 27. Juni 1994 (BGBl I 1537), in nationales Recht umgesetzt hat, beabsichtigt das Kammergericht über die Auslieferung auf dieser Rechtgrundlage zu entscheiden. Es ist der Ansicht, dass nunmehr die Auslieferung unzulässig sei, weil die gemäß § 83 Nr. 3 IRG i.d.F. des EuHbG für die Auslieferung zur Vollstreckung des Abwesenheitsurteils erforderliche Zusicherung der italienischen Behörden, dass dem Verfolgten nach seiner Überstellung das Recht auf Durchführung eines neuen Gerichtsverfahrens eingeräumt werde, nicht vorliege. § 83 Nr. 3 IRG gelte abschließend für alle Fallgestaltungen von Abwesenheitsurteilen, auch für "Fluchtfälle".
3. Da umstritten war (vgl. Hackner NStZ 2005, 311, 313 f.; Schmidt NStZ-RR 2005, 161, 165), ob sich nach dem Inkrafttreten des Europäischen Haftbefehlsgesetzes die Zulässigkeit der Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils in einem "Fluchtfall" allein nach § 83 Nr. 3 IRG i.d.F. des EuHbG oder über § 1 Absätze 3 und 4 IRG (Subsidiaritätsklausel) nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 in Verbindung mit dem Zweiten Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommen und der hierzu ergangenen Rechtsprechung richtet, hat das Kammergericht Berlin durch Beschluss vom 20. Dezember 2004 - (4) Ausl. A. 766/02 (148/04) - die Sache dem Bundesgerichtshof gemäß § 42 Abs. 1 IRG zur Klärung folgender Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorgelegt:
Ist allein § 83 Nr. 3 IRG im Fall eines in Italien ergangenen Abwesenheitsurteils anwendbar, wenn der Verfolgte zu dem Termin, der zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, deshalb nicht persönlich geladen oder von dem Termin nicht auf andere Weise unterrichtet worden war, weil er zwar Kenntnis von der Einleitung des Strafverfahrens hatte, sich ihm aber durch Flucht entzogen hat, oder ist über die Zulässigkeit der Auslieferung gemäß § 1 Abs. 4 Satz 2 IRG, dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen sowie dem Zweiten Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommen nach Maßgabe der zu dieser Rechtslage ergangenen Rechtsprechung zu entscheiden?
Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:
§ 83 Nr. 3 IRG ist im Fall eines in Italien ergangenen Abwesenheitsurteils nicht ausschließlich anwendbar, wenn der Verfolgte zu dem Termin, der zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, deshalb nicht persönlich geladen oder von dem Termin nicht auf andere Weise unterrichtet worden war, weil er zwar Kenntnis von der Einleitung des Strafverfahrens hatte, sich ihm aber durch Flucht entzogen hat; vielmehr gelten die in § 1 Abs. 3 IRG genannten Regelungen hilfsweise weiter.
II.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 18. Juli 2005 - 2 BvR 2236/04 - (BGBl I 2005, 2300) das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz - EuHbG) vom 21. Juli 2004 wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3, Art. 16 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für nichtig erklärt hat, hat sich die Vorlegungsfrage erledigt. Über die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten ist nunmehr auf der Grundlage des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Europäischen Haftbefehlsgesetzes zu entscheiden (vgl. Urteil des BVerfG aaO Rdn. 123).
Ende der Entscheidung
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