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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 11.05.2006
Aktenzeichen: 4 StR 131/06
Rechtsgebiete: StPO, GVG
Vorschriften:
StPO § 59 | |
StPO § 60 Nr. 1 | |
StPO § 247 | |
StPO § 338 Nr. 5 | |
StPO § 349 Abs. 2 | |
StPO § 349 Abs. 4 | |
GVG § 171 b |
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
vom 11. Mai 2006
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes u. a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 11. Mai 2006 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Tenor:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Halle vom 23. November 2005 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass der Teilfreispruch entfällt.
Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.
Gründe:
Das Landgericht hatte den Angeklagten durch Urteil vom 3. Mai 2004 wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Jugendlichen in zwei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hatte es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und ihn zur Zahlung von Schmerzensgeld an die Geschädigten verurteilt. Dieses Urteil hat der Senat auf die Revision des Angeklagten durch Beschluss vom 21. April 2005 - 4 StR 89/05 - (NStZ-RR 2005, 232) insgesamt aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Es hat nunmehr den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen und sexuellen Missbrauchs eines Kindes unter Einbeziehung einer viermonatigen Freiheitsstrafe aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Ferner hat es erneut die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und den Angeklagten wiederum zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel führt lediglich zum Wegfall des Teilfreispruchs; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Teilfreispruch war nicht veranlasst. Zwar hat das Landgericht den Angeklagten, soweit es die sexuellen Übergriffe zum Nachteil des Ronny M. betrifft, statt der angeklagten zwei Fälle nur wegen einer Tat (§ 182 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB) verurteilt. Es hat jedoch die angeklagten Tathandlungen als erwiesen erachtet und lediglich nicht auszuschließen vermocht, dass beide Fälle bei einer einzigen Gelegenheit stattfanden und deshalb eine Tat im Rechtssinne bilden. Unter diesen Umständen war für einen Teilfreispruch kein Raum (BGHSt 44, 196, 201 f.).
2. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat im Übrigen keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 31. März 2006.
Ergänzende Ausführungen des Senats sind lediglich zu der Verfahrensrüge veranlasst, mit der der Beschwerdeführer den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geltend macht, weil die Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung des als Geschädigter vernommenen Zeugen Ronny M. in Abwesenheit des für die Dauer dieser Vernehmung gemäß § 247 (Sätze 1 und 2) StPO von der Verhandlung ausgeschlossenen Angeklagten stattgefunden habe. Auch diese Rüge dringt im Ergebnis nicht durch. Ihr liegt folgender von der Revision zutreffend mitgeteilter Verfahrensgang zugrunde:
a) Nachdem durch Kammerbeschluss bereits am zweiten Hauptverhandlungstag für die Dauer der Vernehmung des Ronny M. sowohl die Entfernung des Angeklagten gemäß § 247 StPO als auch der Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 171 b GVG angeordnet worden war, ordnete der Vorsitzende am vierten Hauptverhandlungstag die Videoübertragung der Vernehmung des Zeugen in einen Nebenraum an, damit der Angeklagte dort die Vernehmung in Wort und Bild unmittelbar mitverfolgen könne. Sodann wurde der Zeuge in Abwesenheit des Angeklagten vernommen. Nach 40 Minuten wurde die Sitzung unterbrochen, "damit der Verteidiger mit dem Angeklagten Rücksprache nehmen kann". Die Sitzung wurde neun Minuten später - weiterhin nicht öffentlich und in Abwesenheit des Angeklagten - fortgesetzt, wobei der Verteidiger erklärte, "dass die Pause ausreichend war, um mit seinem Mandanten Rücksprache zu nehmen". Danach sagte der Zeuge weiter zur Sache aus. Sodann ist im Protokoll vermerkt: Anordnung des Vorsitzenden "Der Zeuge bleibt nach richterlichem Ermessen gemäß § 59 StPO unvereidigt und wird im allseitigen Einverständnis entlassen". Die Entlassung des Zeugen erfolgte sechs Minuten nach Ende der vorangehenden Sitzungspause. Erst dann wurde die Öffentlichkeit wieder hergestellt und der Angeklagte wieder in den Gerichtssaal verbracht.
Danach wurden zunächst zwei Zeugen in Anwesenheit des Angeklagten und sodann - nunmehr wiederum nach Entfernen des Angeklagten gemäß § 247 StPO - das Kind Katja L. vernommen. Im Anschluss an dessen Vernehmung, die wiederum zeitgleich in Wort und Bild in den Nebenraum, in dem sich der Angeklagte aufhielt, übertragen wurde, erklärte der Angeklagte, dass er die Zeugenvernehmungen des Ronny M. und der Katja L. "voll umfänglich verfolgen konnte". Nachdem sodann noch fünf weitere Zeugen vernommen waren, erklärte der Angeklagte am Ende dieses Verhandlungstages, "dass er keine Fragen mehr an den Zeugen Ronny M. habe".
b) Dieser Verfahrensgang begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht. Allerdings gehören nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Verhandlung über die Vereidigung ebenso wie die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen nicht mehr zu dessen Vernehmung, sondern bilden einen selbständigen Verfahrensabschnitt. Danach ist in der Regel der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben, wenn der Angeklagte während dieser Verhandlungsteile von der Hauptverhandlung ausgeschlossen war (vgl. BGHSt 26, 218; BGH NStZ 2000, 440; BGH, Beschluss vom 21. März 2002 - 1 StR 543/01; kritisch - allerdings nicht tragend - BGH NStZ 1998, 425; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 19, 20 und StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 25). Der absolute Revisionsgrund scheitert hier indes trotz förmlicher Erfüllung seiner Voraussetzungen (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 25) angesichts der Besonderheiten des Verfahrensgangs im Zusammenhang mit der Vernehmung des Zeugen Ronny M.:
- Der Angeklagte hat die gesamte Vernehmung des Zeugen durch die Videoübertragung in Wort und Bild mitverfolgt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 26. August 2005 - 3 StR 269/05, StraFo 2005, 509). Dies sicherte die umfassende Information des Angeklagten über die Aussage. Das hat der Angeklagte mit seiner persönlichen Erklärung auch ausdrücklich bestätigt.
- Nach dem weit überwiegenden Teil der Vernehmung hatten während deren Unterbrechung der Verteidiger und der Angeklagte ausreichend Gelegenheit zur Besprechung. Zwar teilt die Revision den Inhalt dieser Rücksprache nicht mit. Es liegt aber nicht fern, dass Gegenstand auch ein Verzicht auf eine Vereidigung und auf weitere Fragen war, zumal der Vermerk über das "allseitige" Einverständnis mit der Entlassung ein insoweit von dem Verteidiger vorher vom Angeklagten eingeholtes Einverständnis jedenfalls nicht ausschließt (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 20 S. 2).
- Nach der Unterbrechung zur Rücksprache des Verteidigers mit dem Angeklagten wurde die Vernehmung des Zeugen bereits nach wenigen Minuten beendet (vgl. zum Fall einer möglicherweise vorher festgelegten ganz punktuellen Befragung des Zeugen BGH, Beschluss vom 24. Januar 2001 - 5 StR 603/00) und wurden Anträge zur Vereidigung auch seitens des Verteidigers nicht gestellt.
- Der Angeklagte hat - wovon hier auszugehen ist - durch die Videoübertragung auch die Anordnung des Vorsitzenden, den Zeugen nicht zu vereidigen und ihn zu entlassen, mitverfolgt. Gleichwohl hat er nach der weiteren Beweisaufnahme ausdrücklich auf weitere Befragung des Zeugen verzichtet.
Angesichts dieser Besonderheiten spricht hier nichts dafür, dass es sich bei der genannten Anordnung des Vorsitzenden um wesentliche Teile der Hauptverhandlung gehandelt haben könnte (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 21), bezüglich derer allein die bloße Abwesenheit des Angeklagten den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO begründete und - ungeachtet der Berücksichtigung des Zeugen- und Opferschutzes (vgl. dazu BGH NStZ 1998, 425, 426; Basdorf in Festschrift für Salger, 1995, S. 203, 205, 209 f.) - zur Aufhebung eines ansonsten materiell richtigen Urteils und zur Neuverhandlung der Sache führen müsste. Jedenfalls kann unter den hier gegebenen Umständen ausnahmsweise jegliches Beruhen des Urteils auf der bloßen Abwesenheit des Angeklagten während der Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung des Zeugen denkgesetzlich ausgeschlossen werden (vgl. BGHR StPO § 338 Beruhen 1 und StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Besetzungsrüge 6; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 338 Rdn. 2 m.w.Nachw.). Dies gilt hinsichtlich der Anordnung des Vorsitzenden, den Zeugen nicht zu vereidigen, schon deshalb, weil nach der Änderung des § 59 StPO durch das 1. Justizmodernisie-rungsgesetz vom 28. August 2004 (BGBl. I 2198) die Nichtvereidigung den Regelfall bildet (vgl. dazu BGH NJW 2006, 388, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; BGHR StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 25; BGH, Beschluss vom 30. März 2005 - 1 StR 67/05, NStZ-RR 2005, 208). Nichts spricht dafür, dass das Gericht bei Anwesenheit des Angeklagten in diesem Verfahrensabschnitt den Zeugen Ronny M. ausnahmsweise vereidigt hätte, zumal ersichtlich keiner der (anwesenden) Verfahrensbeteiligten überhaupt in Erwägung gezogen hat, eine Vereidigung zu beantragen. Es kommt deshalb insoweit auch nicht mehr darauf an, dass wegen des Ausmaßes der im Urteil festgestellten geistigen Behinderung dieses Zeugen (UA 23) einer Vereidigung von vorneherein nahe liegend auch das Vereidigungsverbot des § 60 Nr. 1 StPO entgegengestanden hat. Auch das Fragerecht (vgl. zur Sicherung des Fragerechts in diesen Fällen BGHR StPO § 247 Abwesenheit 20 S. 2 f.) ist nicht verletzt, weil der Angeklagte auf Fragen an den Zeugen ausdrücklich verzichtet hat.
Ende der Entscheidung
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