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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 09.09.2003
Aktenzeichen: 4 StR 173/03
Rechtsgebiete: GVG, StPO
Vorschriften:
GVG § 171 a ff. | |
StPO § 58 Abs. 1 | |
StPO § 238 Abs. 2 |
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
vom 9. September 2003
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 9. September 2003 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Tenor:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 11. Dezember 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Nach den getroffenen Feststellungen kam es am Tattag in Schwerin in Anwesenheit "einer Gruppe von mehreren Armeniern" (UA 6) zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen dem aus Armenien stammenden Angeklagten und dem aserbaidschanischen Staatsangehörigen P., in deren Verlauf der Angeklagte mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz drei Schüsse aus einer Pistole auf den Geschädigten abfeuerte, die diesen lebensgefährlich verletzten.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Die Revision hat mit einer zulässig ausgeführten Verfahrensrüge Erfolg. Sie beanstandet zu Recht, daß die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind (§ 338 Nr. 6 StPO).
1. Der Verfahrensbeschwerde liegt folgendes Prozeßgeschehen zugrunde:
Zu Beginn der Hauptverhandlung noch vor Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse regte der Vorsitzende an, "die armenischen Zuschauer von der Teilnahme an der Hauptverhandlung auszuschließen, da sie möglicherweise als Zeugen in Betracht kommen". Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft stimmte der Anregung zu, während der Verteidiger "zu dem weitgehenden Ausschluß der Öffentlichkeit" eine gerichtliche Entscheidung beantragte. Daraufhin erging folgender Beschluß:
"In dem Ermittlungsverfahren hat der Geschädigte auf die Frage, wer in der Spielothek gewesen sei, erklärt: 'Alle Armenier aus Schwerin.' Hieraus und aus den weiteren Zeugenaussagen zu der Anzahl der am Tatort anwesenden Ausländer ergibt sich, daß wesentlich mehr Tatzeugen vorhanden sind, als die Anklage aufführt. Da sich erst im Lauf der Beweisaufnahme klären wird, welche Armenier noch als Zeugen bekannt werden, ist es erforderlich, diese Personengruppe vorübergehend aus dem Saal zu weisen".
Anschließend verließ - wie durch die vom Senat freibeweislich eingeholten dienstlichen Äußerungen bestätigt worden ist - eine aus sechs bis acht Zuhörern, "die alle nach dem äußeren Erscheinungsbild der armenischen Volksgruppe zuzuordnen waren", bestehende Personengruppe geschlossen den Sitzungssaal. Nachdem nach weiteren sieben Hauptverhandlungstagen die Beweisaufnahme geschlossen worden war, ordnete, wie das Protokoll ausweist, der Vorsitzende zu Beginn des folgenden Hauptverhandlungstages vor Stellung der Schlußanträge die Aufhebung des Beschlusses über den Ausschluß armenischer Zuhörer an.
2. Zu Recht macht die Revision geltend, durch diese Verfahrensweise habe die Schwurgerichtskammer ohne zureichenden Grund die Öffentlichkeit teilweise ausgeschlossen und damit den Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 169 GVG) verletzt. Dieser Grundsatz ist nicht nur dann berührt, wenn die Öffentlichkeit insgesamt ohne gesetzlichen Grund ausgeschlossen wird, sondern schon dann, wenn auch nur eine einzige Person in einer nicht dem Gesetz entsprechenden Weise aus dem Verhandlungsraum entfernt wird (st. Rspr.; BGHSt 3, 386, 388; 18, 179, 180; 24, 329, 330). So verhält es sich hier.
Daß der Ausschluß der armenischen Zuhörer keine Stütze in den §§ 171 a ff. GVG findet, die die Voraussetzungen und die Verfahrensweise eines Ausschlusses der Öffentlichkeit regeln, versteht sich von selbst. Die Befugnis des Gerichts, die armenischen Zuhörer aus dem Sitzungssaal zu verweisen, ergibt sich auch nicht aus § 58 Abs. 1 StPO. Aus Sinn und Zweck dieser Vorschrift, nach der Zeugen einzeln und in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen sind, hat der Bundesgerichtshof den Grundsatz abgeleitet, daß es zulässig ist, Personen zum Verlassen des Sitzungssaales aufzufordern, sobald mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß sie als Zeugen in Betracht kommen (vgl. BGHSt 3, 386, 388; BGH NStZ 2001, 163). Dabei steht bei der Entscheidung über die Frage, ob ein Zuhörer als Zeuge in Betracht kommt und ob er deswegen den Sitzungssaal zu verlassen hat, dem für die Entscheidung zuständigen Vorsitzenden ebenso wie dem gegen dessen Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO angerufenen Gericht ein Beurteilungsspielraum zu, der nur dann überschritten wird, wenn der Ausschluß eines Zuhörers auf sachwidrigen Erwägungen beruht (BGH NStZ aaO und BGHR StPO § 338 Nr. 6 Zuhörer 7).
In diesem Sinne war der Ausschluß sämtlicher anwesender armenischer Zuhörer sachwidrig. Denn Voraussetzung für einen zulässigen Ausschluß von Zuhörern von der weiteren Teilnahme an der Hauptverhandlung ist stets, daß das Gericht tatsächliche Anhaltspunkte dafür hat, daß jeder einzelne von der Maßnahme Betroffene Sachdienliches zur Aufklärung beitragen kann und deshalb als potentieller Zeuge in Betracht kommt. Hierfür genügt es nicht, daß das Gericht seiner Entscheidung lediglich ein Gruppenmerkmal (etwa Rasse, Geschlecht, Körpergröße, Haarfarbe, Beruf oder - wie hier - die Volkszugehörigkeit) zugrundelegt, das auf weiter in Betracht kommende Zeugen zutrifft. Es darf nicht unterschiedslos alle anwesenden Zuhörer, die dieses Gruppenmerkmal aufweisen, aus dem Sitzungssaal verweisen, ohne sich zuvor, etwa durch informelle Befragung der übrigen Verfahrensbeteiligten, Zeugen - hier namentlich des noch am selben Tage vernommenen Geschädigten - und der betroffenen Zuhörer selbst zu vergewissern, wer tatsächlich als Zeuge in Betracht kommt. Ohne diese notwendige Individualisierung überläßt es das Gericht dem Zufall, ob sich unter den von dem Ausschluß betroffenen Zuhörern überhaupt - und gegebenenfalls welche - Personen befinden, die ernsthaft als Zeugen in Betracht kommen.
Diesen Anforderungen wird die Verfahrensweise des Landgerichts auch unter Berücksichtigung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (vgl. hierzu BGH NStZ aaO) nicht gerecht. Nach den vom Senat eingeholten dienstlichen Erklärungen bestanden für das Gericht zum Zeitpunkt des Ausschlusses der Zuhörer keine Hinweise, daß über die in der Anklage genannten Zeugen hinaus die Vernehmung weiterer armenischer Zeugen beantragt werden würde (was dann tatsächlich auch bis zum Schluß der Beweisaufnahme nicht der Fall war). Eine Identifizierung und informatorische Befragung der anwesenden armenischen Zuhörer hat nicht stattgefunden. Der Identifizierung hätte es aber schon deshalb bedurft, um herauszufinden, welche Zuhörer überhaupt aus Schwerin stammten. Schon deshalb läßt sich der Ausschluß der gesamten anwesenden armenischen Personengruppe auch nicht mit dem Hinweis des Gerichts rechtfertigen, der Geschädigte habe im Ermittlungsverfahren gegenüber der Polizei die Frage nach bei der Tat anwesenden weiteren Personen mit "alle Armenier aus Schwerin" beantwortet. Hinzu kommt, daß die so protokollierte Antwort ersichtlich nicht wörtlich zu nehmen war.
3. Der aufgezeigte Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz ist absoluter Revisionsgrund (§ 338 Nr. 6 StPO), so daß schon deshalb das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen werden muß.
Ende der Entscheidung
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