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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 26.10.2000
Aktenzeichen: 4 StR 319/00
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 260 Abs. 3
StGB § 177 Abs. 2
StGB § 240 Abs. 1 a.F.
StGB § 78 Abs. 3 Nr. 4
StGB § 78 b Abs. 3
StGB § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1
StGB § 177 Abs. 5
StGB § 63
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

4 StR 319/00

vom

26. Oktober 2000

in der Strafsache

gegen

wegen Vergewaltigung u.a.

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 26. Oktober 2000, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Meyer-Goßner,

die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Kuckein, Athing,

die Richterin am Bundesgerichtshof Solin-Stojanovic,

der Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann als beisitzende Richter,

Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 2. März 2000 mit den Feststellungen aufgehoben,

a) soweit das Verfahren hinsichtlich des Falles 2 der Anklageschrift eingestellt worden ist,

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im übrigen wegen Vergewaltigung in vier Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich begangen mit Körperverletzung, sowie wegen sexuellen Mißbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet; außerdem hat es den Fall 2 der Anklageschrift wegen Strafverfolgungsverjährung gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt.

Mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen diese Verfahrenseinstellung sowie dagegen, daß das Gericht bezüglich der Vergewaltigungstaten (Fälle 6, 7, 11 und 12 der Anklageschrift) die Einzelstrafen nicht der Vorschrift des § 177 Abs. 2 StGB entnommen hat. Das Rechtsmittel hat nur hinsichtlich der Verfahrenseinstellung Erfolg; im übigen ist es unbegründet.

I. Im Fall 2 der Anklageschrift liegt das vom Landgericht angenommene Verfahrenshindernis der Strafverfolgungsverjährung nicht vor.

Nach den insoweit getroffenen Urteilsfeststellungen hat der Angeklagte im Juni oder Juli 1994 im Badezimmer seines Hauses in Drieberg (Mecklenburg-Vorpommern) mit seiner Ehefrau gegen deren erklärten Willen den Geschlechtsverkehr ausgeübt, wobei er ihren Widerstand durch seine körperliche Überlegenheit überwand. Damit hat er sich, weil zur Tatzeit sich der Vergewaltigungstatbestand nur auf einen außerehelichen Beischlaf bezog (§ 177 Abs. 1 StGB a.F.), einer Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB a.F. schuldig gemacht.

Bezüglich dieser Tat ist - worauf die Revisionsführerin und der Generalbundesanwalt zu Recht hingewiesen haben - Strafverfolgungsverjährung noch nicht eingetreten, weil insoweit Art. 315 a Abs. 2 EGStGB in der Fassung des 3. Verjährungsgesetzes vom 22. Dezember 1997 (BGBl I 3223) entgegensteht. Nach dieser Vorschrift verjährt die Verfolgung von Taten, die in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet begangen worden sind und die - wie die Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB a.F. - im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind, frühestens mit Ablauf des 2. Oktober 2000. Die Vorschrift ist nach ihrem eindeutigen Wortlaut nicht auf bestimmte Delikte beschränkt. Die einschränkende Formulierung in der gesetzlichen Überschrift ("Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung für in der Deutschen Demokratischen Republik verfolgte und abgeurteilte Taten") findet im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag; sie ist für die Rechtsanwendung bedeutungslos (vgl. BGHSt 39, 353, 356 f.; vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. § 78 c Rdn. 39).

Zwar wurde bereits die Einfügung des Absatzes 2 des Art. 315 a StGB durch das 2. Verjährungsgesetz vom 27. September 1993 (BGBl I 1657) mit der besonderen Schwierigkeit bei der Ahndung von SED-Unrechtstaten und der sogenannten Vereinigungskriminalität begründet (vgl. BTDrucks. 12/5701, S. 2; zur Gesetzgebungsgeschichte Letzgus NStZ 1994, 57, 61 f.); die Vorschrift enthielt aber ein Hinausschieben des frühestmöglichen Verjährungseintritts für alle Straftaten der geringeren und mittleren Kriminalität, die bis zum 31. Dezember 1992 im Beitrittsgebiet begangen worden sind und noch nicht verjährt waren (vgl. Lackner/Kühl StGB 23. Aufl. § 2 Rdn. 27 b; Lemke in Nomos Kommentar zum StGB vor § 78 Rdn. 31; ders. NJ 1993, 529 f.; Zarneckow DRiZ 1997, 314, 315).

Das 3. Verjährungsgesetz vom 22. Dezember 1997 hat die Verjährungsfrist für die in Art. 315 a Abs. 2 EGStGB geregelte mittlere Kriminalität erneut, und zwar bis zum 2. Oktober 2000, verlängert und auch solche Straftaten, die nach dem 31. Dezember 1992 begangen wurden, in diese Regelung einbezogen. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs ergab sich die Notwendigkeit einer weiteren Verlängerung daraus, daß die Justiz in den neuen Bundesländern bei der Aufarbeitung des im Zuge der deutschen Einigung im Beitrittsgebiet begangenen strafbaren Unrechts trotz großer Anstrengungen an ihre Grenzen gestoßen ist; es sollte insbesondere eine Verjährung der einigungsbedingten Wirtschaftskriminalität verhindert werden. Trotz dieser Zielsetzung wurde in dem - später auch so verabschiedeten - Gesetzesvorschlag ausdrücklich von einer Sonderregelung für diesen Bereich abgesehen; vielmehr wurden im Anschluß an das 2. Verjährungsgesetz alle im Beitrittsgebiet begangenen "mittelschweren Delikte" erfaßt (vgl. BTDrucks. 13/8962, S. 3).

Allerdings gilt die Neufassung nach Art. 2 des 3. Verjährungsgesetzes nur für solche Straftaten, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes am 31. Dezember 1997 noch nicht verjährt waren. Dies war hier nicht der Fall, denn die für § 240 Abs. 1 StGB a.F. geltende Verjährungsfrist bemißt sich - entgegen der Ansicht des Landgerichts (UA 38) - nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB und beträgt damit fünf Jahre. Demnach war die im Juni oder Juli 1994 begangene Tat am 31. Dezember 1997 noch nicht verjährt, so daß vor dem 2. Oktober 2000 die Verjährung nicht eingetreten ist. Da das angefochtene Urteil vor diesem Termin ergangen ist, kann die Strafverfolgung gemäß § 78 b Abs. 3 StGB nicht mehr verjähren.

II. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen die Strafaussprüche hinsichtlich der Vergewaltigungstaten wendet, ist ihr Rechtsmittel unbegründet.

1. Die Strafzumessung - und damit auch die Wahl des anzuwendenden Strafrahmens - ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, der auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Täterpersönlichkeit gewonnen hat, die wesentlichen be- und entlastenden Umstände festzustellen, zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 29, 319, 320; 34, 345, 349). Ihm obliegt es daher auch, im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände zu entscheiden, ob das Tatbild vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem Maße abweicht, daß die Indizwirkung des Regelbeispiels entfällt und darüber hinaus die Anwendung eines nach der jeweiligen Strafvorschrift zur Verfügung stehenden Ausnahmestrafrahmens für minder schwere Fälle geboten erscheint (st. Rspr.; vgl. die zahlreichen Nachweise bei Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl. § 46 Rdn. 41 f.). Das Revisionsgericht kann nur dann eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht rechtlich anerkannte Strafzwecke außer Betracht gelassen hat oder sich die Strafe so weit nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein, daß sie nicht mehr innerhalb des dem Tatrichter bei der Strafzumessung eingeräumten Spielraums liegt (vgl. BGH aaO; BGHR StGB § 46 Abs. 1 Beurteilungsrahmen 1 und 6). Weist die tatrichterliche Wertung Rechtsfehler nicht auf, ist sie deshalb auch dann hinzunehmen, wenn eine andere Entscheidung ebenso möglich gewesen wäre oder vielleicht sogar nähergelegen hätte (vgl. BGHR StGB vor § 1/minder schwerer Fall Gesamtwürdigung, fehlerfreie 1 und 8).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen begegnet es - worauf auch der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin keinen durchgreifenden Bedenken, daß die Strafkammer hinsichtlich der Fälle 6, 7, 11 und 12 der Anklageschrift die Anwendung des Strafrahmens des § 177 Abs. 2 StGB abgelehnt hat.

In allen vier Fällen hat der Angeklagte das Regelbeispiel des § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB verwirklicht, indem er seine Ehefrau mit Gewalt zum Vollzug des Beischlafs genötigt hat. Im Rahmen ihrer - allerdings knappen - Gesamtschau der Umstände, die für die Beurteilung von Taten und Täter von Bedeutung sind, hat die Strafkammer in erster Linie auf die sehr engen persönlichen Bindungen zwischen Täter und Opfer abgestellt, die vierzehn Jahre lang ständig zusammengelebt und in dieser Zeit eine Vielzahl einverständlicher sexueller Kontakte hatten. Diese Wertung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Insbesondere ist nicht zu besorgen, daß das Gericht gemeint haben könnte, der Strafrahmen des § 177 Abs. 2 Satz 1 StGB sei auf eine Vergewaltigung innerhalb einer bestehenden Ehe generell nicht anwendbar, denn es hat auf das besondere persönliche Verhältnis zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin abgestellt und zudem die Bewertung des Schweregrades der Taten durch die Nebenklägerin berücksichtigt.

3. Auch die Entscheidung des Tatgerichts, wonach in allen vier Fällen der Vergewaltigung die mildernden Gesichtspunkte in einer Gewichtung überwiegen, daß sie jeweils die Annahme eines minder schweren Falles begründen, weist keinen Rechtsfehler auf. Daß die Verwirklichung des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB der Annahme eines minder schweren Falles nach § 177 Abs. 5 StGB nicht grundsätzlich entgegensteht, ist bereits mehrfach entschieden (vgl. nur BGH NStZ 1999, 615; BGHR StGB § 177 Abs. 5 Strafrahmenwahl 2).

Die Strafkammer hat ihre Entscheidung, jeweils minder schwere Fälle der Vergewaltigung anzunehmen, sorgfältig begründet (UA 43-46). Die Strafzumessungserwägungen sind weder in sich fehlerhaft noch verstoßen sie gegen anerkannte Strafzwecke. Ersichtlich hat die Strafkammer nicht lediglich den Umstand mildernd berücksichtigt, daß es sich jeweils um Geschlechtsverkehr mit einem vertrauten Partner gehandelt hat, sondern das ambivalente Verhalten der Ehefrau in ihre Überlegungen miteinbezogen. Diese hat selbst nach der ersten vorliegend abgeurteilten Vergewaltigung vom Mai 1998 mit dem Angeklagten weiterhin auf engstem Raum zusammengelebt und sogar noch nach Einreichung der Scheidungsklage mit ihm einverständlich Geschlechtsverkehr ausgeübt.

Daß die Strafkammer auch den Fall 7 der Anklageschrift als minder schweren Fall der Vergewaltigung gewertet hat, ist entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts letztlich ebenfalls rechtlich nicht zu beanstanden. Zwar hat der Angeklagte in diesem Fall - anders als bei den übrigen Vergewaltigungstaten, bei denen sich die Gewaltanwendung darauf beschränkte, daß er seine Ehefrau zum Bett "drängte" bzw. "schubste" und sie kraft seiner körperlichen Überlegenheit dort niederdrückte - erhebliche Gewalt angewendet. Trotzdem ist auch insoweit die Annahme eines minder schweren Falles durch die Strafkammer nicht unvertretbar, denn nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen war der Angeklagte nach einer provozierenden Frage seiner Ehefrau "außer sich vor Wut" geraten (UA 14); sein "Agieren in dieser Situation resultierte aus seiner Persönlichkeitsstörung, aufgrund derer er sich jetzt kaum noch steuern konnte" (UA 15). Somit ist der Ausbruch der Gewalt auf die Persönlichkeitsabnormitäten zurückzuführen, die in Verbindung mit seinen Anpassungsstörungen als schwere andere seelische Abartigkeit anzusehen sind und zu der Unterbringungsanordnung nach § 63 StGB geführt haben. Dem erhöhten Unrechtsgehalt der Tat, durch die auch zwei Tatbestände verwirklicht wurden, hat die Strafkammer im übrigen dadurch Rechnung getragen, daß sie insoweit die höchste Einzelstrafe verhängt hat [UA 47].

III. Die Aufhebung im Fall 2 der Anklage entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage. Die Maßregelanordnung wird von der teilweisen Urteilsaufhebung nicht berührt; sie bleibt daher bestehen.

Ende der Entscheidung

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