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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 17.11.1998
Aktenzeichen: 4 StR 528/98
Rechtsgebiete: StPO, StGB, GKG


Vorschriften:

StPO § 337 Abs. 1
StPO § 349 Abs. 2 und 4 Satz 2
StPO § 358 Abs. 1
StGB § 13 Abs. 2
StGB § 49 Abs. 1
GKG § 8 Abs. 1 Satz 1
GKG § 8 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

4 StR 528/98

vom

17. November 1998

in der Strafsache

gegen

wegen Totschlags u.a.

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführerin am 17. November 1998 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 24. April 1998 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hatte die Angeklagte "wegen Totschlags in Tateinheit mit Mißhandlung von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, tateinheitlich begangen mit der Verletzung der Fürsorgepflicht in zwei Fällen", zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Auf die Revision der Angeklagten hob der Senat jenes Urteil durch Beschluß vom 16. Oktober 1997 - 4 StR 487/97 (= StV 1998, 536) im Strafausspruch mit den Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurück. In der neuen Hauptverhandlung hat das Landgericht gegen die Angeklagte wiederum auf eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten erkannt.

Mit ihrer Revision rügt die Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Das Rechtsmittel hat jedoch mit der Sachbeschwerde Erfolg.

1. Der Strafausspruch kann nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht die innerprozessuale Bindung an die Feststellungen des ersten in dieser Sache ergangenen Urteils, die auch den rechtskräftigen Schuldspruch betreffen (vgl. BGHSt 30, 340, 342; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 43. Aufl. § 353 Rdn. 20 m.w.N.), nicht hinreichend beachtet hat.

a) Obwohl das Landgericht zutreffend von der Bindung an die Feststellungen zu dem rechtskräftigen Schuldspruch ausgegangen ist ( UA 4, 35), hat es eine umfassende Beweisaufnahme auch über die aufrechterhaltenen Feststellungen durchgeführt (vgl. zur Unzulässigkeit solcher Beweiserhebungen: BGHSt 30, 340, 342; BGHR StPO § 353 Abs. 2 Teilrechtskraft 9, 11). Soweit das Landgericht angenommen hat, es habe (nur) "hinsichtlich solcher Umstände tatrichterlicher Sachverhaltsdarstellung, die ausschließlich die Straffrage betreffen, abweichende oder ergänzende Feststellungen getroffen" (UA 4), hat es den Umfang der Bindung an die Feststellungen des ersten Urteils verkannt. Innerprozessuale Bindungswirkung entfalten nämlich nicht nur die Feststellungen zu den Tatbestandsmerkmalen, sondern auch jene Teile der Sachverhaltsdarstellung, die das Tatgeschehen im Sinne eines geschichtlichen Vorgangs näher beschreiben (vgl. im einzelnen: BGHSt 30, 340, 343, 344). Deshalb hätten insbesondere die denen des ersten Urteils (UA 18, 33 jenes Urteils) widersprechenden Feststellungen zur Versorgung der Kinder (UA 20, 33) und zu dem Hilfsangebot des Jugendamtes wenige Tage vor der Einlieferung der Kinder in das Krankenhaus (UA 35/36) dem Strafausspruch nicht zugrundegelegt werden dürfen. Dies gilt auch, soweit das Landgericht "in Abweichung zu den Feststellungen des Urteils des Schwurgerichts" (UA 23/24 jenes Urteils) davon ausgegangen ist, daß die Angeklagte ihren verstorbenen Sohn Daniel bereits zu Beginn des Jahres 1996 "bewußt knapp hielt" (UA 25). Der Bindung an die Feststellungen des damaligen Tatrichters zu den Ursachen der Ernährungsmängel steht nicht entgegen, daß sie in Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" getroffen worden sind (BGH NStZ 1988, 88).

b) Unter dem Gesichtspunkt der innerprozessualen Bindung begegnet es ferner durchgreifenden rechtlichen Bedenken, daß das Landgericht "unter besonderer Berücksichtigung des zugleich aktiven Tätigwerdens der Angeklagten das Unterlassen im Verhältnis zu einer entsprechenden Begehungs-tat nicht als weniger schwer" beurteilt hat (UA 71), weil die Angeklagte die Kinder "während der gesamten Tatzeit" in ihrem Kinderzimmer eingeschlossen und insbesondere dem dreijährigen Daniel die Möglichkeit genommen habe, "sich in irgendeiner Weise selbst zu versorgen"; sie habe "damit nicht nur das gebotene Verhalten unterlassen, sondern gezielt eine Abwendung des Erfolges vereitelt", und zudem "bewußt zur Hilfe bereite Personen belogen ... und so ein Einschreiten auch ohne die konkrete Bitte um Hilfe verhindert" (UA 68). Diese Erwägungen, die auf die Annahme einer mit direktem Vorsatz begangenen Begehungstat hinauslaufen, stehen in Widerspruch zu den bindenden Feststellungen des ersten Urteils, weil der damalige Tatrichter Totschlag durch Unterlassen und lediglich bedingten Vorsatz angenommen hat (UA 58, 60 jenes Urteils), mithin aus dem Verhalten der Angeklagten nicht - wie nunmehr das Landgericht - geschlossen hat, daß sie auf diese Weise eine Abwendung des Erfolges vereiteln wollte.

c) Auch soweit das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung davon ausgegangen ist, "daß der Angeklagten das hier gebotene Verhalten aus inneren oder äußeren Gründen (nicht) so erschwert war, daß sie ihren Pflichten nur bei größerer Willensanstrengung genügen konnte" (UA 67), entfernt es sich von den bindenden Feststellungen des früheren Urteils. Danach war die "psychisch instabile" Angeklagte "schon von ihrer Persönlichkeit her nicht in der Lage ..., die durch Daniel erfahrene Ablehnung zu ertragen und ihm die gleiche Zuwendung zu geben, wie den anderen Kindern", vielmehr war ihr dies aus emotionalen Gründen "unmöglich" (UA 42/43 jenes Urteils). Hiermit läßt sich aber auch die Annahme des Landgerichts nicht vereinbaren, der Angeklagten sei es "weder aufgrund der Persönlichkeitsstörung allgemein noch infolge der auf der Persönlichkeitsstörung basierenden schweren Beziehungsstörung im Verhältnis zu ihrem Sohn Daniel besonders erschwert (gewesen), sich hilfesuchend unter anderem an das Jugendamt zu wenden" (UA 69). Das Landgericht hat insoweit im übrigen nicht beachtet, daß die Angeklagte nach den Feststellungen des ersten Urteils "in die fixe Idee verrannt (war), eine Mutter, die ihre Kinder abgibt, ist eine schlechte Mutter" (UA 70 jenes Urteils), und sie das Jugendamt, auch nachdem sie "den katastrophalen Zustand" ihrer Kinder erkannt hatte, deshalb nicht um Hilfe bat, "weil ihr ... klar war, daß man ihr dann die Kinder sofort wegnehmen würde" (UA 31 jenes Urteils). Wegen der Bindungswirkung dieser Feststellungen mußte das ihnen widersprechende Ergebnis der neuen Beweisaufnahme, daß der Angeklagten vom Jugendamt ein für sie akzeptables Hilfsangebot gemacht wurde (UA 35, 36, 70), außer Betracht bleiben (vgl. BGHSt 30, 340, 342, 343).

d) Soweit das Landgericht wiederum eine nochmalige Strafrahmenmilderung nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB abgelehnt hat, ergeben sich damit rechtliche Bedenken gegen die Bemessung der Strafe auch deshalb, weil es seiner Entscheidung entgegen § 358 Abs. 1 StPO die rechtliche Beurteilung der Sache durch den Senat nicht zugrundegelegt hat. Der Senat hat die Erwägung des damaligen Tatrichters, das von der Angeklagten begangene Unrecht liege gerade in ihrem Unterlassen, beanstandet, weil damit entgegen der gesetzlichen Wertung des § 13 Abs. 2 StGB das strafbegründende Unterlassen zugleich als Grund für die Versagung genommen worden ist, und das erste Urteil im Strafausspruch aufgehoben, weil das Landgericht die gebotene Gesamtwürdigung insbesondere der unterlassungsbezogenen Umstände (vgl. BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 1; weitergehend nunmehr: BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 311/97) nicht vorgenommen hatte. Der Senat hatte dazu ausgeführt, zwar komme eine Milderung nach § 13 Abs. 2 StGB in Fällen wie dem vorliegenden nur ausnahmsweise in Betracht; hier habe das Landgericht "aber Umstände festgestellt, die den Schluß rechtfertigen, daß der Angeklagten die ordnungsgemäße Pflege und Versorgung - vor allem ihres Sohnes Daniel - namentlich aus inneren Gründen so erschwert war, daß sie ihren Pflichten nur bei größerer Willensanstrengung in vollem Umfang hätte genügen können." Dem ist das Landgericht mit der Erwägung entgegengetreten (UA 67), die für die Angeklagte sprechenden Umstände rechtfertigten diesen Schluß nicht. Insoweit komme "es nicht darauf an, daß die Angeklagte von Beginn an damit überfordert war, die Kinder ...in allen Belangen zu versorgen und ihre Entwicklung zu fördern." Abzustellen sei "hier vielmehr auf ihre Pflicht, den Kindern das Nötigste zukommen zu lassen, sie nicht hungern und dursten bzw. verdursten zu lassen." Indem das Landgericht angenommen hat, dies sei der Angeklagten nicht nur "gleichwohl möglich gewesen" (UA 67), "vielmehr" habe sie "gezielt eine Abwendung des Erfolges vereitelt" (UA 68), hat es mit seiner in Widerspruch zu den rechtskräftigen Feststellungen des ersten Tatrichters stehenden Gewichtung des Schuldgehalts der Tat in der Sache ein Beruhen des Strafausspruchs auf dem vom Senat beanstandeten Begründungsmangel (§ 337 Abs. 1 StPO) verneint. Das entspricht aber nicht der rechtlichen Beurteilung, wie sie das Landgericht seiner Entscheidung zugrundezulegen hatte (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 27; BGH Beschluß vom 3. November 1998 - 4 StR 523/98).

2. Der Senat verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StPO an das Landgericht Essen zurück.

3. Der neue Tatrichter wird Gelegenheit haben, in der Kostenentscheidung auch die Nichterhebung der Verfahrenskosten, die bei richtiger Behandlung der Sache in der Vorinstanz nicht entstanden wären, gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GKG anzuordnen (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 465 Rdn. 11 m. N.). Im Hinblick auf die unzulässigen Beweiserhebungen zum Schuldspruch wird zu erwägen sein, von der Erhebung nicht nur der insoweit in der Vorinstanz entstandenen gerichtlichen Auslagen, sondern auch der Kosten des zweiten Revisionsverfahrens und der nunmehr erforderlichen dritten Hauptverhandlung abzusehen (vgl. BGHR GKG § 8 Nichterhebung 1).



Ende der Entscheidung

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