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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 11.07.2006
Aktenzeichen: 5 StR 125/06
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 275a Abs. 5
StGB § 66b Abs. 1
StGB § 66b Abs. 2
StGB § 66b
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

5 StR 125/06

vom 11. Juli 2006

in der Strafsache

gegen

wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. Juli 2006, an der teilgenommen haben:

Richter Basdorf als Vorsitzender,

Richter Häger, Richterin Dr. Gerhardt, Richter Dr. Brause, Richter Schaal als beisitzende Richter,

Bundesanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Rechtsanwalt als Verteidiger,

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 23. August 2005 wird verworfen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.

- Von Rechts wegen -

Gründe:

Das Landgericht hat die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, bleibt ohne Erfolg.

I.

Der Verurteilte wurde mit Urteil des Jugendsenats des Bezirksgerichts Potsdam vom 27. Juni 1991 wegen Mordes in zwei Fällen (begangen am 28. August 1988 und am 26. Februar 1989) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Der Verurteilte hatte zwei Frauen jeweils nach vorhergehenden Vergewaltigungsversuchen getötet.

Die Strafhaft endete am 5. Januar 2005. Anschließend war der Verurteilte bis zum 23. August 2005 nach § 275a Abs. 5 StPO untergebracht.

Während des Strafvollzuges wurde der Verurteilte zweimal wegen Betäubungsmitteldelikten zu Freiheitsstrafen von drei und fünf Monaten verurteilt, weil er im September 1998 im Besitz von 20 Amphetamintabletten gewesen war und er zwei Jahre später Haschisch an Mitgefangene verkaufen wollte. In den ersten acht bis neun Jahren erwies sich der Verurteilte als besonders schwieriger Gefangener, gegen den zahlreiche Disziplinarverfahren wegen verschiedener Vorfälle (u. a. Besitz verbotener Gegenstände, Alkohol- und Betäubungsmittelkonsum, Misshandlung eines Mitgefangenen, verbale Entgleisungen gegenüber männlichen Bediensteten der Vollzugsanstalt) durchgeführt werden mussten. Sexuelle Übergriffe während der Haftzeit wurden nicht bekannt. Seit 1995 besserte sich sein Verhalten, nachdem er dem Alkohol gänzlich entsagt hatte. Es kam nurmehr vereinzelt noch zu undisziplinierten Verhaltensweisen des Verurteilten, die sich jedoch in lautstarken Protesten und Forderungen erschöpften.

Die psychiatrischen Gutachten erbrachten unterschiedliche Ergebnisse. Während der Sachverständige W. meint, dass der Verurteilte infolge seiner antisozialen Fehlentwicklung und der damit einhergehenden sexuell devianten Entwicklung im Sinne eines sexuellen Sadismus weiterhin gefährlich sei, hält der Sachverständige L. die Prognose für unsicher und meint, dass ein Rückfall eher nicht zu erwarten sei. Die seit Inhaftierung des Verurteilten beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten korrespondierten mit den schon von der ebenfalls gehörten Sachverständigen Ho. bereits 1991 beschriebenen Persönlichkeitsauffälligkeiten, die aus psychiatrischer Sicht die Annahme einer Persönlichkeitsstörung zuließen, wobei er allerdings eher von Empathiedefiziten als vom Vorliegen eines sexuellen Sadismus ausgehe. Insgesamt hätten sich keine neuen psychologischen bzw. psychopathologischen Befund- oder Anknüpfungstatsachen ergeben, die zu einer Neubewertung der Gesamtproblematik oder zur Feststellung einer überhöhten Gefährlichkeit drängten.

Das Landgericht hat sich der letztgenannten Auffassung angeschlossen und hat die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung abgelehnt, weil keine neuen Tatsachen erkennbar geworden seien, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten hinwiesen. Die gemäß § 66b Abs. 1 und 2 StGB gebotene Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzuges ergebe überdies nicht, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft erhebliche Straftaten begehen werde.

II.

Die Entscheidung des Landgerichts hält sachlich-rechtlicher Prüfung stand. Wie die Bundesanwaltschaft in der Antragschrift vom 10. April 2006 zutreffend ausgeführt hat, ist die Auffassung der Strafkammer, dass die für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, frei von Rechtsfehlern.

Allerdings hinderte der Umstand, dass für die noch unter Geltung von DDR-Recht begangenen Anlasstaten zur Zeit ihrer Aburteilung keine Sicherungsverwahrung verhängt werden durfte, die Anwendung jedenfalls des § 66b Abs. 2 StGB nicht (vgl. BGH NJW 2006, 1442, 1443; 1446, 1447; NStZ 2006, 276, 277). Indes bedarf es auch in diesem Fall neuer Tatsachen, die nicht allein in der Änderung der Rechtslage gefunden werden können (vgl. BGHSt 50, 284, 296).

"Neue Tatsachen" der in § 66b StGB genannten Art sind nur solche, die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind (vgl. BGHSt 50, 180, 187; BGH NJW 2006, 1442, 1444). Ob diese Tatsachen bereits im Ausgangs- oder einem früheren Verfahren Grundlage einer sachverständigen Bewertung waren, ist ohne Belang (vgl. BGH NStZ 2006, 276, 278). Maßgeblich ist nicht die neue oder sogar erstmalige Bewertung von Tatsachen. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung bereits vorlagen und bekannt oder erkennbar waren (vgl. BGHSt 50, 275, 278; BGH NJW 2006, 1442, 1444). Hiervon durfte das Landgericht ausgehen. Denn die Sachverhalte, die der Verurteilung vom 27. Juni 1991 zugrunde lagen, belegen ausreichend, dass die nunmehr festgestellten Persönlichkeitsdefizite des Verurteilten und sein Gefährlichkeitspotenzial bereits zum Zeitpunkt der Verurteilung vorlagen und erkennbar waren.

Abweichend von der Auffassung der Beschwerdeführerin sieht die Strafkammer zutreffend auch in den Vorfällen während der Haftzeit überwiegend keine neuen Tatsachen gemäß § 66b Abs. 1 und 2 StGB (vgl. dazu BGHSt 50, 284, 297 f.; BGH NJW 2006, 1446, 1448; BGH, Urteil vom 19. Januar 2006 - 4 StR 393/05). Der Verurteilte habe bereits vor seiner Inhaftierung im Übermaß dem Alkohol zugesprochen. Weder seine zahlreichen verbalen Ausfälle noch seine Angriffe gegen Sachen sowie die Verstöße gegen die Anstaltsordnung könnten als "neue Tatsachen" herangezogen werden. Dieses Auftreten des Verurteilten habe seiner Erfahrung entsprochen, dass derjenige besonders viel gelte, der Regeln breche und sich lauthals widersetze oder lautstark Forderungen stelle. Damit folgt die Kammer auch insoweit dem Gutachten von L. , wonach die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten den schon früher erkennbaren Persönlichkeitsdefiziten des Verurteilten entsprächen.

Ob der Umstand, dass der Verurteilte eine Therapie abgebrochen hat, als neue Tatsache bewertet werden kann, ist hier schon deshalb zweifelhaft, weil Anhaltspunkte dafür fehlen, dass der Verurteilte während der früheren Hauptverhandlung seine Therapiewilligkeit bekundet hat (vgl. BGHSt 50, 275, 280 f.; 284, 298). In diesem Zusammenhang weist die Strafkammer auch darauf hin, dass der Verurteilte zwei Therapieangebote angenommen hat, die aus Gründen, die er nicht zu vertreten hatte, beendet werden mussten. Dass er dann eine weitere Therapie abgelehnt habe, weil er keine Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung gesehen habe, sei nachvollziehbar und wiege nicht so schwer, dass dem Abbruch die Bedeutung einer "neuen Tatsache" im Sinne des § 66b StGB zugemessen werden könne. Dies lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

Als neue Tatsache bewertet das Landgericht allerdings, dass der Verurteilte sich zweimal nach dem Betäubungsmittelgesetz strafbar gemacht hat. Dass die Strafkammer diese Verfehlungen nicht als ausreichend erachtet hat, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen, ist nicht zu beanstanden. Denn die neuen Tatsachen, die die Einleitung eines Verfahrens zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen können, müssen im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips schon für sich und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdigung aller Umstände Gewicht haben im Hinblick auf mögliche erhebliche Beeinträchtigungen des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der sexuellen Selbstbestimmung anderer (vgl. BGHSt 50, 284, 297; NJW 2006, 1446, 1448). Dies trifft hier ersichtlich nicht zu. Bis auf einen Vorfall im Jahre 1993, der im Übrigen strafrechtlich nicht geahndet worden ist, sind keine weiteren körperlichen Übergriffe des Verurteilten auf Mitgefangene mehr festgestellt worden.

Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft lässt das Urteil auch nicht die gebotene Gesamtwürdigung vermissen. Das Landgericht hat vielmehr mit sorgfältiger Begründung und unter angemessener Berücksichtigung der Entwicklung des Verurteilten dargelegt, warum die für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderlichen Voraussetzungen bei dem Verurteilten nicht vorliegen.



Ende der Entscheidung

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