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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 02.09.2008
Aktenzeichen: 5 StR 248/08
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 349 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

5 StR 248/08

vom 2. September 2008

in der Strafsache

gegen

wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u. a.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 2. September 2008 beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. November 2007 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Das Landgericht hat festgestellt:

Am 21. Dezember 2005 brachte der Angeklagte den damals sechs Jahre alten Nebenkläger, einen Spielkameraden seines Sohnes, mit dem Auto nach Hause. Bevor er den Wagen startete, bot er dem auf der Rückbank sitzenden Nebenkläger an, zu ihm nach vorn zu kommen und dort das Auto zu lenken. Er hob ihn hoch und setzte ihn sich auf den Schoß. Während der Nebenkläger am Lenkrad spielte, zog er dem Kind die Hosen herunter, öffnete seine Hose und führte sein Geschlechtsteil in dessen Anus ein. Der das Kind betreuenden Tante fiel am darauffolgenden Tag eine Rötung im "gesamten Bereich zwischen den Gesäßbacken" auf.

Nachdem der Nebenkläger am 15. Februar 2006 abermals seinen Spielkameraden besucht hatte, fuhr ihn der Angeklagte wiederum nach Hause. Als dieser ihn fragte, ob er "mit dem Auto fahren wolle", setzte sich der Nebenkläger auf seinen Schoß. Dabei "ahnte" er "nichts Böses", da er den letzten Übergriff als "Versehen" ansah und "ihn bereits verdrängt hatte". Der Angeklagte zog ihm die Hosen herunter und führte erneut sein erigiertes Geschlechtsteil in den Anus des Jungen ein. Als der Nebenkläger nach Hause kam, fiel seiner Mutter eine starke Rötung im Bereich zwischen den Gesäßbacken auf. Auf ihre Fragen erklärte er, zwei Jungen aus seiner Schulklasse hätten ihm "oberhalb der Bekleidung den Finger in den Po gesteckt". Erst am übernächsten Tag offenbarte er gegenüber seiner Mutter die Tatbegehung durch den Angeklagten.

2. Die Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand (vgl. BGH NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abgedruckt). Die Jugendkammer hat ihre Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten allein auf die Angaben des Nebenklägers gestützt. Den an diese Beweiskonstellation zu stellenden Anforderungen (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 14; Indizien 2) genügen die Urteilsgründe jedoch nicht. Die beweiswürdigenden Erwägungen lassen vielmehr besorgen, dass die Strafkammer nicht alle zur Beeinflussung der Entscheidung geeigneten Umstände in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise in die Überzeugungsbildung einbezogen hat.

Das Landgericht stellt - insoweit der aussagepsychologischen Sachverständigen folgend - für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit maßgeblich auf eine "hohe Aussagequalität" der Angaben des Nebenklägers ab. Die diese Wertung tragenden Erwägungen sind aber lückenhaft und entbehren einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Tatsachengrundlage.

a) Es begegnet schon durchgreifenden Bedenken, dass die Urteilsgründe eine geschlossene Darstellung der Angaben des Nebenklägers vermissen lassen. Die Beschreibung der Bekundungen als detailliert, konstant, komplex und plastisch macht eine solche Darstellung nicht entbehrlich. Denn die als Anknüpfungspunkte für diese Würdigung mitgeteilten dürftigen Aussagebestandteile betreffen sämtlich nur das Randgeschehen im Auto, nicht hingegen die eigentlichen sexuellen Übergriffe. Wie der Nebenkläger dieses Geschehen geschildert hat und ob die für die Glaubhaftigkeit der Aussage angeführten Kriterien auch diesem Handlungsteil innewohnen, lässt sich nicht nachvollziehbar beurteilen. Auf der Grundlage der Feststellungen, die sich in der keinesfalls kindgemäßen Darstellung eines sexuellen Kerngeschehens erschöpfen, wäre eine solche Bewertung freilich nicht gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang erschließt sich auch die Erwägung des Landgerichts nicht, es sei nachvollziehbar, dass die Erinnerungen des Nebenklägers an den ersten Vorfall nicht mehr so gut seien wie an die zweite Tat. Denn die Feststellungen zu den gleichförmig verlaufenden Taten belegen ein unterschiedliches Erinnerungsvermögen nicht. Offen bleibt auch, worauf sich die Feststellung gründet, der Angeklagte sei beim zweiten Vorfall zum Samenerguss gelangt. Denn es wird nicht mitgeteilt, ob der Nebenkläger hierzu Wahrnehmungen gemacht hat oder ob dies einen Rückschluss aus dem - vom Nebenkläger erst bei der Sachverständigen mitgeteilten - Umstand darstellt, ihm sei daheim "etwas Weißes aus dem Po" herausgekommen.

b) Vor allem aber lässt die unzureichende Erörterung der Entwicklung der Aussage des Nebenklägers besorgen, das Landgericht habe für die Würdigung der Glaubhaftigkeit bedeutsame Umstände nicht bedacht. Angesichts der Auffälligkeiten im Aussageverhalten hätte sich aber eine sorgfältige Würdigung der Aussagegenese aufgedrängt.

aa) So ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht, wann der Nebenkläger den Angeklagten erstmals einer weiteren Tat - der festgestellten ersten Tat - bezichtigt hat. Die Darstellung der Offenbarung gegenüber seiner Mutter enthält eine solche Anschuldigung nicht. Die Feststellung, er habe bei den "Anhörungen" von zwei Taten gesprochen, vermag diese Erörterung nicht zu ersetzen. Denn insbesondere wegen der auch von der Sachverständigen hervorgehobenen möglichen suggestiven Einflüsse hätte es für die Beurteilung der Erlebnisfundiertheit der Aussagen von Bedeutung sein können, wann der Nebenkläger die weitergehende Anschuldigung erhoben und in welchen zeitlichen Zusammenhang er sie zu dem Vorkommnis im Februar gestellt hat. Weiterhin hätte sich die Erörterung aufgedrängt, ob er diese Tat von sich aus in Verbindung mit den von seiner Tante beobachteten körperlichen Auffälligkeiten gebracht hat oder etwa die Tante später diese Verknüpfung hergestellt hat und sich nur deswegen die erste Tatzeit feststellen ließ.

bb) Aber auch hinsichtlich der zweiten Tat sind die Feststellungen zur Aussagegenese unvollständig. Den Urteilsgründen lässt sich hierzu nur entnehmen, der Nebenkläger habe seiner Mutter auf deren eindringlichen Vorhalt, verbunden mit der Drohung, er bekomme "davon ... Krebs", erklärt, der Angeklagte habe ihm "das nämlich angetan". Inwieweit das Kind die Vorwürfe dann von sich aus konkret berichtete oder ob dies auf entsprechende Fragen der Mutter geschah, bleibt offen. Auch wird nicht mitgeteilt, wie sich der Geschädigte bei seiner Offenbarung zur früheren Bezichtigung der Mitschüler und zum Grund für eine mögliche Falschbelastung derselben verhalten hat. Die Feststellung dieses Aussageverhaltens wäre aber angesichts der Beweissituation erforderlich gewesen. Die Strafkammer erkennt zwar, dass eine suggestive Beeinflussung vorgelegen haben könnte, schließt dies aber unter Hinweis auf die zeugenschaftlichen Angaben der Mutter aus, sie habe nichts in den Geschädigten "hineingefragt". Damit genügt das Landgericht seiner im Ansatz zutreffend erkannten Erörterungspflicht nicht. Denn es übernimmt nur eine Wertung der Zeugin, ohne diese anhand einer Rekonstruktion der Befragungssituation nachvollziehbar zu belegen. Dieser Gesichtspunkt hätte auch deswegen in den Blick genommen werden müssen, weil die Schilderung der Mutter, sie sei bei diesem Gespräch weiterhin von einem Übergriff durch Mitschüler ausgegangen und habe nicht daran gedacht, dass ihr Sohn "Opfer einer Missbrauchshandlung" geworden sein könnte, in einem gewissen - möglicherweise aufklärbaren, jedenfalls aber erörterungsbedürftigen - Spannungsverhältnis zu der Feststellung steht, die am Tag zuvor konsultierte Ärztin habe bereits Zweifel an einer Verursachung der Verletzungen durch Mitschüler geäußert.

cc) Zudem hätte die erstmals gegenüber der Sachverständigen erfolgte Erweiterung der Aussage hinsichtlich des weißen Ausflusses sorgfältiger in den Blick genommen werden müssen. Denn diese ist für die Tatbegehung durch einen geschlechtsreifen Täter von erheblicher Bedeutung. Das Landgericht teilt hierzu mit, dass die Erweiterung durch die kindgerechtere Befragung erklärt werden könne, lässt aber offen, ob dahingehende Fragen von der Sachverständigen überhaupt gestellt worden sind oder der Nebenkläger dies von sich aus berichtete und in welchen Kontext er es einstellte, ob er es etwa auch seiner Mutter berichtet habe oder diese gar dabei gewesen sei. Dadurch bleibt auch unerörtert, warum dieser körperliche Umstand bei der Konsultation der Ärztin nicht erwähnt wurde. Die Stellungnahme der für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung hinzugezogenen Sachverständigen zu dieser Aussageerweiterung wird nicht mitgeteilt.

c) Schließlich lassen die Urteilsgründe eine ausreichende Erörterung der Möglichkeit der Verursachung der Verletzung durch Mitschüler vermissen. Dies wäre erforderlich gewesen, da sich die festgestellten rein äußerlichen Verletzungen auch durch die vom Nebenkläger zunächst gegenüber Mutter, Lehrerin und Ärztin behauptete Variante der Drangsalierung durch Mitschüler erklären lassen, zumal dies eine gewisse Bestätigung in der Feststellung sexualisierter Übergriffe innerhalb der Schulklasse des Nebenklägers gefunden hat. Das Landgericht, welches - freilich nicht tatsachenfundiert - nur einen Übergriff durch Mitschüler unterhalb der Kleidung ausschließt, lässt diese Verursachungsvariante unerörtert, den Urteilsgründen lässt sich auch kein tragfähiger Grund für einen Ausschluss entnehmen.

Ein solcher Grund kann nicht in dem Zweifel an einer Verursachung der Verletzungen durch Mitschüler gesehen werden, den die am Tag nach dem behaupteten Übergriff hinzugezogene Ärztin geäußert hatte. Denn es ergibt sich nicht, worauf sich diese Zweifel gründen. Würden sie sich an dem Verletzungsbild festmachen, wären sie möglicherweise geeignet, die aktuelle Darstellung des Nebenklägers zu stützen. Es ist aber auch möglich und auf der Grundlage der Feststellungen hierzu keinesfalls fern liegend, dass die Duldung der beschriebenen Handlung bei gleichaltrigen Tätern der Ärztin lediglich ungewöhnlich erschien.

Zu einer Erörterung dieser Verursachungsvariante hätte auch deswegen Anlass bestanden, weil sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, ob der Nebenkläger in der Hauptverhandlung die Anschuldigungen gegenüber seinen Mitschülern - kumulativ - aufrecht erhalten oder sie als unwahr dargestellt hat. Wäre das Landgericht von Letzterem ausgegangen, hätte es die Fähigkeit des Nebenklägers zur Aufrechterhaltung einer unzutreffenden Belastung namentlich benannter Personen im Rahmen eines Handlungsstrangs über zwei Tage und gegenüber mehreren Personen bei der Würdigung der Aussage berücksichtigen müssen, woran es jedoch fehlt.

3. Im Falle eines erneuten Schuldspruchs wird das neue Tatgericht den Zeitabstand zwischen der Eröffnung des Vorwurfs gegenüber dem Angeklagten und der Anklage einerseits sowie dem Beginn der Hauptverhandlung andererseits zu beachten und unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Gebots der zügigen Verfahrenserledigung zu würdigen haben (vgl. hierzu BGHSt 52, 124). Jenseits dessen bemerkt der Senat ergänzend, dass im Hinblick auf die von der psychologischen Sachverständigen hervorgehobene kritische Auswirkung des Zeitablaufs für die Aussagequalität gerade kindlicher Zeugen eine zügigere Behandlung sachdienlich gewesen wäre.



Ende der Entscheidung

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