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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 09.02.2000
Aktenzeichen: 5 StR 451/99
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 78b
StGB § 78b

In Fällen staatlich zentral gelenkter Vergabe schädlicher Dopingmittel an uneingeweihte minderjährige Sportler hat die Verjährung in der DDR aufgrund eines quasigesetzlichen Verfolgungshindernisses geruht (im Anschluß an BGHSt 40, 113; BGHR StGB § 78b Abs. 1 - Ruhen 6).

BGH, Beschluß vom 9. Februar 2000 - 5 StR 451/99 - LG Berlin


BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

5 StR 451/99

vom

9. Februar 2000

in der Strafsache

gegen

wegen Beihilfe zur Körperverletzung

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Februar 2000 beschlossen:

Tenor:

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. Dezember 1998 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten, einen Arzt für Sportmedizin, wegen Beihilfe zur vorsätzlichen Körperverletzung in neun Fällen zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 80 DM (die zum Teil abweichende Angabe der Tagessatzhöhe im Urteilstenor ist ein offensichtliches Fassungsversehen, Bl. 105 R/Prot.Bd. II d.A., vgl. auch UA S. 182) verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Im Anschluß an die Ausführungen im Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts bedarf nur folgendes ausdrücklicher Erörterung.

I.

Gegenstand der Verurteilung war die Vergabe anaboler Steroide (männliche Sexualhormone) an neun Schwimmerinnen des Sportclubs (SC) Dynamo Berlin (Ost) in der Zeit zwischen 1975 und 1984. Solches Doping wurde in jener Zeit im zentral gelenkten DDR-Sport systematisch zur Leistungssteigerung bei Hochleistungssportlern eingesetzt, um verstärkt Weltklasseleistungen und Erfolge des DDR-Sports bei internationalen Wettbewerben, insbesondere Olympischen Spielen sowie Welt- und Europameisterschaften, zu ermöglichen. Mit der zentralen Organisation des Dopings wurde das Ziel möglichst effektiver Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit der Sportler durch Verabreichung pharmakologischer Mittel, zumeist Anabolika - als "unterstützende Mittel" bezeichnet -, in systematischer, straff gelenkter Vorgehensweise verfolgt. Gleichermaßen war man bestrebt, diese Verfahrensweise, insbesondere vor den Kontrollen bei internationalen Wettkämpfen, wirksam zu verschleiern.

Der Angeklagte war seit 1968 im Bereich Leistungsmedizin der vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) getragenen Sportvereinigung (SV) Dynamo in Berlin (Ost) tätig. Ab 1972 war er stellvertretender Bereichsleiter, 1982 wurde er Leiter der Sportmedizin beim - dem SV Dynamo untergliederten - SC Dynamo. Dort war er bereits seit 1975 bis zum Jahre 1989 für die Genehmigung der Ausgabe anaboler Steroide zuständig; zur Tatzeit genehmigte er die Aushändigung von Anabolika in Tablettenform an den - bereits rechtskräftig verurteilten - für die Sektion Schwimmen zuständigen Sektionsarzt B zum Zweck ihrer Verabreichung durch den - ebenfalls bereits rechtskräftig verurteilten - Trainer G an die hier betroffenen neun Sportlerinnen, die bei Aufnahme des Schwimmtrainings im "A-Kader" des SC Dynamo sämtlich minderjährig gewesen waren. Mit einer Ausnahme waren sie auch zu Beginn der auf die Genehmigung des Angeklagten zurückgehenden Mittelvergabe noch minderjährig, sieben von ihnen erst zwischen 13 und 16 Jahre alt. Sämtliche Sportlerinnen, einschließlich ihrer Eltern, wurden aufgrund zentral organisierter Geheimhaltung bewußt nicht über die ihnen verabreichten Mittel aufgeklärt. Gemäß den von Trainern und Ärzten befolgten Geheimhaltungsprinzipien wurden die Mittel nicht in Originalverpackungen ausgeteilt; den Sportlerinnen gegenüber wurde die Legende einzunehmender Vitamine oder Aufbaustoffe gebraucht.

So wurde vorgegangen, obgleich eine derartige medizinisch nicht indizierte Vergabe anaboler Steroide bei Frauen zur Störung des hormonellen Regelkreislaufs und des Fettstoffwechsels führt. Ferner können teils gravierende, unter Umständen irreversible Nebenwirkungen auftreten, so u.a. Stimmvertiefung, vermehrte Körperbehaarung, Akne, Wachstumsretardierungen sowie Leberschädigungen und Herzerkrankungen. Bei fünf der neun geschädigten Sportlerinnen kam es zu solchen Nebenwirkungen: Bei ihnen war die Mitteleinnahme mindestens mitursächlich für signifikante Stimmvertiefungen, bei zwei Frauen ferner für passagere Schädigungen der Leber, bei einer zudem für eine stark virilisierende Behaarung, bei einer anderen dieser fünf Frauen auch für einen sehr viel später diagnostizierten gutartigen Lebertumor.

II.

Verjährung der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten scheidet aus. In Fällen systematischer Vergabe schädlicher Dopingmittel an uneingeweihte minderjährige Sportler hat die Verjährung in der DDR aufgrund eines quasigesetzlichen Verfolgungshindernisses geruht.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hatte die Staatspraxis der DDR, Straftaten aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen generell nicht zu verfolgen, grundsätzlich die Wirkung eines gesetzlichen Verfolgungshindernisses im Sinne des § 83 Nr. 2 StGB-DDR (vgl. - deklaratorisch - Art. 1 des [1.] Verjährungsgesetzes vom 26. März 1993, BGBl I 392).

Entsprechend wird das Ruhen der Verjährung angenommen für die Strafverfolgung bei Schüssen an der innerdeutschen Grenze (BGHSt 40, 48; 40, 113), für von Angehörigen der DDR-Justiz in politischen Strafsachen begangene Rechtsbeugungen und damit tateinheitlich zusammentreffende Delikte (BGHSt 41, 247, 248; 41, 317, 320), für vom MfS veranlaßte Verschleppungen von Bundesbürgern in die DDR (BGHSt 42, 332, 336 ff.) und für Freiheitsberaubungen durch politische Denunziationen (vgl. BGH NStZ-RR 1997, 100, 101). Gemeinsam ist diesen Fallgruppen, daß sich das Erfordernis eines sicher feststehenden Willens der Staatsführung der DDR zur Nichtverfolgung (BGHSt 23, 137; 40, 113, 118) aus dem Umstand ergab, daß diese Straftaten bereits generell auf Veranlassung oder wenigstens mit Billigung der politischen Führung verübt worden waren (vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf des Bundesrates zum [1.] Verjährungsgesetz, BTDrs. 12/3080, S. 8). Ferner wird ein Ruhen der Verjährung auch angenommen für Körperverletzungen an Gefangenen durch Strafvollzugsbedienstete der DDR, die jedenfalls im Interesse des staatlichen Ansehens als geheimhaltungsbedürftig angesehen wurden (BGHR StGB § 78b Abs. 1 - Ruhen 2 und 6).

Gemäß diesen Grundsätzen hat die Verjährung nicht nur bei Straftaten geruht, die sich als schwerste Menschenrechtsverletzungen darstellen - wie etwa die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze -, bei denen eine Nichtverjährung auch nach § 84 StGB-DDR zu erwägen wäre (vgl. BGHSt 40, 113, 119); vielmehr kommt ein quasigesetzliches Verfolgungshindernis auch für weniger schwerwiegende Taten in Betracht, wenn diese in der DDR aus politischen Gründen oder sonst rechtsstaatswidrigen Motiven prinzipiell nicht verfolgt wurden.

2. Rechtsfehlerfrei ist das Landgericht davon ausgegangen, daß die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten in der DDR aus politischen Gründen systematisch nicht verfolgt worden sind. Dafür kommt es auf spezifisch politisch-weltanschauliche Zielrichtungen der DDR-Staatsführung in Verbindung mit der Sportförderung, wie sie im Urteil vorausgesetzt werden (UA S. 7), nicht einmal entscheidend an. Politisch-weltanschaulich ganz unterschiedlich ausgerichtete Staaten, die sich die Förderung des Hochleistungssports zum Ziel setzen, sehen unabhängig vom politischen System im internationalen Erfolg ihrer Sportler eine im staatlichen Interesse liegende Angelegenheit.

Ausschlaggebend ist zunächst, daß die Förderung des Hochleistungssports in der DDR - in Konsequenz zu ihrer sonstigen Staatsstruktur - als unmittelbar staatlich zu regelnde Angelegenheit zentral und straff organisiert war. Dabei war das im staatlichen Interesse verfolgte Streben nach dem Gewinn von internationalem Ansehen durch hochrangige sportliche Erfolge so stark ausgeprägt, daß dieses Ziel nicht nur durch beträchtlichen personellen und sachlichen Aufwand bei der staatlichen Organisation fairer Trainingsförderung von Hochleistungssportlern verfolgt wurde, sondern auch mittels systematischen Dopings, das jedenfalls seit 1974 - insbesondere auch in Form der hier in Rede stehenden Vergabe anaboler Steroide - staatlich zentral gesteuert eingesetzt wurde. Nur so hielt man die erstrebten großen und vielfältigen Erfolge für realisierbar.

Zudem unterlag dieses staatlich organisierte Doping strengster Geheimhaltung. Die Aufdeckung der international als unfair geächteten Praxis, im Hochleistungssport verbotene Dopingsubstanzen einzusetzen, hätte für die "stets auf internationale Anerkennung bedachte Partei- und Staatsführung der DDR" einen "nicht wiedergutzumachenden Prestigeverlust" bedeutet (UA S. 50); die Anerkennung der erstrebten und erzielten Erfolge des DDR-Sports wäre grundlegend in Frage gestellt worden.

So wurden das Doping selbst und dessen Geheimhaltung als zentrale staatliche Aufgaben verfolgt. Die gesundheitlichen Belange der betroffenen Sportler wurden dabei den mit der Hochleistungssportförderung verfolgten politischen Zielsetzungen untergeordnet. Bei minderjährigen Sportlern war deren Nichtinformation - wie die ihrer Eltern - gerade auch zum Zweck möglichst effektiver Geheimhaltung vorgesehen. Jedenfalls war ein solches Vorgehen gegenüber gedopten minderjährigen Leistungsschwimmerinnen, wie vom Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellt, zentral vorgegeben und geregelt.

Aus der Gesamtheit dieses systematischen staatlichen Vorgehens ergibt sich ohne weiteres, daß die - durch geheime Verabreichung anaboler Steroide an minderjährige Sportlerinnen - begangenen Körperverletzungen, die aus politischen Gründen begangen und geheimgehalten wurden, konsequent ebenso bewußt nicht verfolgt werden sollten.

3. Danach handelt es sich auch bei Fällen der vorliegenden Art um schwerwiegende Rechtsbrüche, welche die Anwendung der Grundsätze über das Ruhen der Verjährung rechtfertigen. Die betroffenen minderjährigen Sportlerinnen wurden von Staats wegen unter Hintanstellung wesentlicher persönlicher Belange für staatliche Zwecke instrumentalisiert. Obgleich sie nicht als Systemgegner angesehen wurden, vielmehr vom System als besonders förderungswürdig anerkannt waren, wurden auch sie zu Opfern des Systems, da ihnen ohne Rücksicht auf ihren Willen eine sogar ihrem Wissen vorenthaltene Aufopferung ihrer Gesundheit durch Hinnahme beträchtlicher gesundheitlicher Gefährdung abverlangt wurde. Dabei konnte das Ausmaß ihrer Rechtsbeeinträchtigung infolge derartigen Systemunrechts namentlich in - nicht trennscharf auszugrenzenden - Fällen irreversibler Schädigung das Ausmaß möglicher Rechtsgutsverletzungen in anerkannten Fällen des Ruhens der Verjährung deutlich übertreffen.

4. Das festgestellte Ausmaß organisierter gesundheitlicher Gefährdung bis hin zu konkreter Schädigung, an dem der Angeklagte nicht nur unwesentlich, seinen Funktionen und seinem Einfluß nach vielmehr bedeutsam beteiligt war, verbietet es - entgegen der Auffassung der Revision - von vornherein zu erwägen, die hier in Frage stehenden Fälle einer Fallgruppe minderer Kriminalität zuzurechnen, für welche die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - bislang nicht tragend (vgl. aber OLG Jena NJ 1997, 267) - eine Ausnahme von den Grundsätzen des Ruhens der Verjährung erwogen hat. Auf das Ausmaß der Rechtsgutsverletzung in jedem Einzelfall kann es dabei nicht ankommen. Eine abweichende Beurteilung drängt sich indes für etwa als strafbar anzusehende Dopingfälle auf, die erwachsene, nicht uninformierte Sportler betrafen.

Der Senat verkennt nicht, daß der Einsatz von Dopingmitteln im Hochleistungssport keine Besonderheit ist, die ausschließlich für totalitäre Unrechtssysteme kennzeichnend wäre (vgl. nur Berendonk, Doping Dokumente 1991 S. 228 ff.). Für die Frage eines das Ruhen der Verjährung bei in der DDR begangenen Fällen dieser Art ist dies indes nicht unmittelbar relevant.

III.

Das Landgericht hat in einer als "therapeutisch wirksam" angesehenen zyklischen Mittelvergabe, durch welche Hormonhaushalt und Fettstoffwechsel somatisch faßbar verändert, zudem Risikofaktoren für Folgeschäden geschaffen wurden, eine Gesundheitsschädigung im Sinne des Tatbestandes der Körperverletzung gesehen. Das ist - auch im Blick auf § 115 Abs. 1 StGB-DDR, der insoweit keine maßgeblich unterschiedlichen Anforderungen hat - rechtsfehlerfrei (vgl. auch BGHSt 43, 306; 346). Die Beweiswürdigung des Landgerichts, insbesondere zur Verantwortlichkeit des Angeklagten für die ihm angelasteten Beihilfehandlungen und zu den auch auf der Grundlage sachverständiger Beratung festgestellten Auswirkungen der ihm angelasteten Dopingvergabe, ist nicht zu beanstanden.

Ebenso rechtsfehlerfrei ist die Betrachtungsweise des Landgerichts, in einer Mittelvergabe an dieselbe Sportlerin in weiteren Zyklen, wodurch eine begonnene Gesundheitsbeeinträchtigung und -gefährdung aufrechterhalten bzw. verstärkt wurde, jeweils die Fortführung einer einheitlichen Tat der Körperverletzung zu sehen (vgl. BGH NStZ 2000, 25). Daß das Landgericht nicht erwogen hat, durch eine vom Angeklagten gleichzeitig vorgenommene Genehmigung der Mittelvergabe an mehrere Sportlerinnen eine Verbindung zu gleichartiger Idealkonkurrenz anzunehmen, beschwert den Angeklagten nicht. Eine derartige Betrachtungsweise läge freilich nahe; sie könnte hier zur Annahme einer einheitlichen Beihilfe zur Körperverletzung an neun Menschen führen. Der als einheitliche Hauptstrafe ausgesprochenen Geldstrafe (§ 64 StGB-DDR i.V.m. Art. 315 Abs. 2 EGStGB) lag indes ein zutreffend bestimmter Schuldumfang zugrunde, der von der Beurteilung der Konkurrenzen nicht abhängt. Daß dem Angeklagten ein umfassender Strafklageverbrauch auch für etwaige weitere Vorwürfe strafbarer Mitwirkung an der Vergabe von Dopingmitteln an andere Sportlerinnen zugute kommen muß, wenn ein solcher Tatvorwurf mit der Mittelvergabe an eine der hier Geschädigten möglicherweise zusammentraf, steht außer Frage. Auch hierfür bedarf es nicht eines Schuldspruchs wegen tateinheitlicher Begehungsweise.

Ende der Entscheidung

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