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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 31.03.1999
Aktenzeichen: 5 StR 596/98
Rechtsgebiete: StEG


Vorschriften:

StEG § 13
StEG § 13 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

5 StR 596/98

vom

31. März 1999

in der Strafsache

gegen

wegen Rechtsbeugung u. a.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 31. März 1999, an der teilgenommen haben:

Richterin Harms als Vorsitzende,

Richter Häger, Richter Basdorf, Richter Nack, Richterin Dr. Gerhardt als beisitzende Richter,

Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Rechtsanwalt als Verteidiger,

Justizobersekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. April 1998 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung freigesprochen. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Der Tatvorwurf betrifft die richterliche Tätigkeit des Angeklagten in einem politischen Strafverfahren in der DDR im Jahre 1958. Der Angeklagte war zu dieser Zeit Direktor des Stadtgerichts in Berlin(Ost). Dort wurde der damals 25-jährige in Berlin(West) wohnhafte Student S , der im März 1958 in Berlin(Ost) verhaftet worden war, wegen des Vorwurfs eines Verbrechens des Staatsverrates nach § 13 des Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuches vom 11. Dezember 1957 (DDR-GBl. I Nr. 78 S. 643) - im folgenden: StEG - angeklagt. Der Angeklagte, der als Direktor des Gerichts keinem eigenen Senat vorsaß, zog diesen ersten beim Stadtgericht anhängig gewordenen Staatsverratsprozeß nach Eröffnung des Hauptverfahrens an sich. So verurteilte der Strafsenat 1a unter Vorsitz des Angeklagten - und, wie er nicht in Abrede gestellt hat, mit seiner Billigung - unter weiterer Mitwirkung von zwei Schöffen den Verfolgten im September 1958 anklagegemäß zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren und zur Einziehung seines Vermögens.

a) S - West-Berliner Mitglied der SED - hatte von 1951 bis zu seinem Parteiausschluß 1955 an der Humboldt-Universität in Berlin(Ost) studiert. Etwa seit 1957 hatte er gemeinsam mit seinem Bekannten G Überlegungen zu einer politischen Neuorientierung der DDR nach außen getragen, wie sie G in einem "Offenen Brief eines Genossen" an die SED schriftlich niedergelegt hatte. G war wegen desselben Vorwurfs vom Bezirksgericht Frankfurt/Oder zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt worden; das Oberste Gericht der DDR hatte G s Berufung im August 1958 verworfen.

G und S hatten mit kommunistischen "Oppositions-bewegungen" in Polen und Ungarn und mit von der "Staatslinie" in der UdSSR und in der DDR abweichenden Ideen sympathisiert, die von den Kommunistischen Parteien in Jugoslawien und West-Europa vertreten wurden. Das tatsächliche System der DDR, insbesondere deren Parteibürokratie, stand nach ihrem Verständnis teilweise im Widerspruch zu marxistisch-leninistischen Grundanschauungen. G und S übten ferner heftige Kritik am Funktionärswesen der DDR, das ihres Erachtens eine - von ihnen letztlich als anti-sozialistisch bewertete - ähnliche Entwicklung wie in der Sowjetunion während des Stalinismus genommen hatte. Sie forderten gesellschaftliche und ökonomische Umgestaltungen, insbesondere mehr Meinungsfreiheit, sowie auch personelle Veränderungen bei den Spitzenfunktionären der Partei.

S war bestrebt gewesen, diese Ideen gegenüber einem größeren Kreis von Personen zu verbreiten, und zwar im Gegensatz zur anfänglichen Auffassung G s nicht nur bei SED-Mitgliedern, sondern insbesondere auch bei Mitgliedern von Jugendorganisationen der SPD in Berlin(West). Er hatte bereits eine umfangreiche Informationstätigkeit entfaltet, u. a. in Kreisen junger Künstler und bei den Mitgliedern der West-Berliner "Sektion" einer "Internationalen Gesellschaft für sozialistische Studien", an deren Gründungsversammlung er teilgenommen und vor der er später G s "Offenen Brief" vorgetragen und zustimmend erläutert hatte; zu jenen Mitgliedern zählten viele Personen, die zuvor aus der SED ausgeschlossen worden waren.

b) In den so festgestellten Aktivitäten des Verfolgten S sah der Angeklagte ausweislich des von ihm verfaßten Urteils ein Unternehmen der "Beseitigung der verfassungsmäßigen Staats- und Gesellschaftsordnung" der DDR "durch planmäßige Untergrabung" im Sinne des § 13 Nr. 1 StEG (zweite Alternative). Wegen der "außerordentlichen Gemeinschaftsgefährlichkeit des Verbrechens" angesichts der damals aktuellen politischen Lage der DDR wurde die angedrohte Mindeststrafe von fünf Jahren Zuchthaus um drei Jahre überschritten.

c) S hielt das Urteil nicht für gerecht, focht es gleichwohl nicht an und sieht es bis heute als "legal" an. Er befand sich insgesamt über viereinhalb Jahre in Haft. Nach Entlassung im September 1962 blieb er freiwillig in der DDR.

2. Das Landgericht hält die vom Angeklagten zu verantwortende Verurteilung des Verfolgten weder für eine Überdehnung der angewendeten Strafnorm noch für eine grob ungerechte, menschenrechtswidrige und willkürliche Sanktionierung; jedenfalls habe es dem Angeklagten am erforderlichen direkten Rechtsbeugungsvorsatz gefehlt. Diese Auffassung hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Schon eine Überdehnung der Strafvorschrift des § 13 StEG liegt objektiv auf der Hand. Die festgestellten Aktivitäten der Verbreitung systemkritischer Ideen durch einen jungen überzeugten Kommunisten, wie sie allein Gegenstand des Schuldspruchs gegen den Verfolgten waren, lassen sich unter den Wortlaut des mehrfach offen gestalteten Verbrechenstatbestandes kaum subsumieren. In den Forderungen nach Organisations- und Personaländerungen eine beabsichtigte ("Unternehmen") - oder auch nur bewußte und gewollte - "Beseitigung" der "verfassungsmäßigen Staats- oder Gesellschaftsordnung" der DDR und in den festgestellten Aktivitäten eine "planmäßige Untergrabung" zu sehen, ist schwer nachzuvollziehen; in dem vom Angeklagten verfaßten Urteil wird solches auch nur ansatzweise genauer begründet.

Die entsprechenden Urteilsmängel sind offensichtlich und vom Tatrichter - bis auf die eingeschränkte Interpretation der in der DDR-Verfassung nach dortigem Verständnis garantierten Meinungsäußerungsfreiheit, welche zutreffend ist (vgl. BGHSt 41, 247, 263 f.) - nicht hinreichend kritisch gewürdigt worden. Gleichwohl bedarf die Frage einer Überdehnung der Strafnorm hier - da das angefochtene Urteil jedenfalls hinsichtlich der Frage einer Rechtsbeugung durch willkürliche Sanktionierung keinen Bestand haben kann - keiner weiteren Vertiefung. Es liegt zudem nicht fern, daß die Anwendung des Verbrechenstatbestandes unter gebotener Berücksichtigung der Betrachtungsweise eines DDR-Justizangehörigen zur Tatzeit - also in einer Hochphase des "Kalten Krieges" -, möglicherweise auch vor dem Hintergrund der vom Obersten Gericht der DDR gebilligten Verurteilung G s, aus subjektiven Gründen noch nicht als Rechtsbeugung zu bewerten wäre (vgl. BGHSt 41, 317, 322; BGH NStZ-RR 1998, 360; vgl. andererseits BGHR StGB § 336 DDR-Recht 14).

b) Die Verneinung einer offensichtlich unerträglichen und willkürlichen, damit rechtsbeugerischen Sanktionierung des Verfolgten ist verfehlt. Zu beanstanden ist schon die Wertung des Tatrichters, die Freiheitsstrafe sei "aus heutiger Sicht zweifellos unverhältnismäßig und höchstwahrscheinlich auch rechtsstaatswidrig" (UA S. 33); selbstverständlich ist sie offensichtlich rechtsstaatswidrig. Insbesondere steht aber das Ergebnis der tatrichterlichen Wertung nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Fällen der Rechtsbeugung durch Anwendung des politischen Strafrechts der DDR.

aa) Zum einen wäre schon zu beachten gewesen, daß in einem Fall, der - wie der vorliegende - auch für einen DDR-Richter offensichtlich im Grenzbereich der Anwendbarkeit der Strafnorm lag, ihm dann ebenso offensichtlich mindestens auf der Sanktionsseite ganz besondere Zurückhaltung auferlegt war (st. Rspr.; vgl. BGHSt 41, 247, 275; BGHR StGB § 336 DDR-Recht 9, 10, 26 - 29; Rechtsbeugung 7). Daher liegt auf der Hand, daß jedenfalls eine deutliche Überschreitung der bereits außerordentlich massiven Mindeststrafe der - tatbestandlich zudem überaus offen ausgestalteten - Strafvorschrift des § 13 StEG (fünf Jahre Zuchthaus) um drei Jahre als rechtsbeugerisch zu werten ist. Der Tatrichter hat sich hiermit nicht hinreichend auseinandergesetzt.

bb) Abgesehen davon kann aber die Verneinung von Rechtsbeugung wegen der Höhe der Strafe bereits aus vordringlichen anderen Gründen keinen Bestand haben. Eine Bestrafung in der hier erkannten Höhe durfte - auch nach den maßgeblichen Vorstellungen eines DDR-Juristen zur Tatzeit - ersichtlich nur für Fälle schwerer Kriminalität verhängt werden. Sie ist von der Rechtsprechung des Senats wiederholt in Fällen vergleichbar massiv sanktionierter Meinungsäußerungsdelikte als rechtsbeugerisch bewertet worden (BGHR StGB § 336 DDR-Recht 11 und Staatsanwalt 1; vgl. auch BGHR StGB § 336 Konkurrenzen 1 zum Fall Bahro; BGH NStZ-RR 1999, 42; Willnow JR 1997, 221, 265, 270 m.w.N.).

Hier kann nach den vom Tatrichter getroffenen Feststellungen nichts anderes gelten: Der unbestrafte junge Verfolgte ist primär für Meinungsäußerungen bestraft worden; dabei ist nicht ersichtlich, daß den von ihm propagierten Ideen ein unmittelbarer Aufruf zu irgendeiner Form gewaltsamen Umsturzes entnommen worden (oder zu entnehmen gewesen) wäre. Auch wenn ein DDR-Richter zur Tatzeit die Verbreitung der Ideen des Verfolgten als gefährlich für den schützenswerten Bestand des Gemeinwesens erachtete, dieses zudem damals als besonders gefährdet und daher erhöht schutzbedürftig ansah, verbleibt ein offensichtlich unerträgliches Mißverhältnis zwischen angenommener Schuld und verhängter Strafe. Eine Bestrafung von derartiger Höhe zielte letztlich willkürlich allein auf die Einschüchterung politisch Andersdenkender zum Erhalt der bestehenden staatlichen Machtverhältnisse ab. Dies gilt umso mehr, als Anhaltspunkte für konkrete gewichtige Einflußmöglichkeiten des Verfolgten gar nicht erkennbar sind; die Strafe wurde mithin ganz vorrangig vom Ziel völlig überzogener plakativer Abschreckung bestimmt (vgl. BGHSt 41, 317, 336; BGHR StGB § 336 DDR-Recht 15). Schließlich deuten einige Passagen des vom Angeklagten verfaßten Urteils schon von ihrer Wortwahl her auf derartig rechtsbeugerisch verfolgte Ziele hin.

cc) Daß der Verfolgte selbst seine Verurteilung nicht als Rechtsbeugung bewertet wissen will, ist - nicht anders als im Fall Bahro - für die sachlichrechtliche Beurteilung der Frage des Schuldspruchs nicht von Bedeutung.

3. Die Sache bedarf umfassend neuer tatrichterlicher Prüfung. Etwa durchgreifende Bedenken gegen die Annahme des erforderlichen direkten Rechtsbeugungsvorsatzes, die einer Beanstandung des erfolgten Freispruchs im Ergebnis entgegenstehen könnten, sind im Falle eines markanten Unrechtsurteils, wie es hier nach den bislang getroffenen Feststellungen vorliegt, nicht ersichtlich (vgl. BGHSt 41, 247, 276 f.), und zwar auch nicht bezogen auf den - freilich besonders lange zurückliegenden - Tatzeitpunkt (vgl. BGHSt 41, 317, 337 ff.). Ob sich insoweit etwa Zweifel aus einer Billigung der ähnlichen Bestrafung G s durch das Oberste Gericht der DDR herleiten lassen, erscheint höchst fraglich (vgl. BGHR StGB § 336 DDR-Recht 27 m.w.N.), bedarf jedenfalls neuer tatrichterlicher Prüfung.

Verfolgungshindernisse liegen ersichtlich nicht vor (vgl. BGHSt 41, 317, 320).

Ende der Entscheidung

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