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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 15.07.1999
Aktenzeichen: I ZR 130/96
Rechtsgebiete: UWG
Vorschriften:
UWG § 1 |
An den Kartellsenat des Bundesgerichtshofes wird nach § 132 Abs. 3 GVG die folgende Anfrage gerichtet:
Wird an der Rechtsauffassung festgehalten, der zufolge dem Hersteller, der seine Abnehmer im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems gebunden hat, gegen den Außenseiter, der lediglich unter Ausnutzung des Vertragsbruchs eines gebundenen Händlers in Besitz der Ware gelangt ist, ein Anspruch aus § 1 UWG unter der Voraussetzung zusteht, daß das Vertriebsbindungssystem gedanklich und praktisch lückenlos ist?
BGH, Beschl. v. 15. Juli 1999 - I ZR 130/96 - OLG Hamm LG Hagen
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
Verkündet am: 15. Juli 1999
Führinger Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Außenseiteranspruch
in dem Rechtsstreit
Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. April 1999 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Erdmann und die Richter Prof. Dr. Mees, Dr. v. Ungern-Sternberg, Starck und Dr. Bornkamm
beschlossen:
Tenor:
An den Kartellsenat des Bundesgerichtshofes wird nach § 132 Abs. 3 GVG die folgende Anfrage gerichtet:
Wird an der Rechtsauffassung festgehalten, der zufolge dem Hersteller, der seine Abnehmer im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems gebunden hat, gegen den Außenseiter, der lediglich unter Ausnutzung des Vertragsbruchs eines gebundenen Händlers in Besitz der Ware gelangt ist, ein Anspruch aus § 1 UWG unter der Voraussetzung zusteht, daß das Vertriebsbindungssystem gedanklich und praktisch lückenlos ist?
Gründe:
I. Der Kläger ist ein Verein, in dem etwa 2.900 VW- und Audi-Händler organisiert sind. Ausweislich seiner Satzung verfolgt er das Ziel, die Einhaltung der Regeln des lauteren Wettbewerbs im Kraftfahrzeuggewerbe zu überwachen und Verstöße zu verfolgen.
Die Beklagte, die mit VW und Audi vertraglich nicht verbunden ist, warb in Zeitungsanzeigen für "EG-Neuwagen" u.a. auch der Marken VW und Audi, wobei sie lediglich den Typ, eventuelle Ausstattungsdetails und den Preis anführte. Dabei handelte es sich um Fahrzeuge, die unter Ausnutzung des Preisgefälles innerhalb der Europäischen Union nach Deutschland (re-)importiert worden waren. Ob die Beklagte die Fahrzeuge selbst eingeführt oder im Inland von freien Händlern erworben hat, ist zwischen den Parteien streitig.
Der Kläger hat diese Werbung als wettbewerbswidrig beanstandet. Er hat - soweit hier von Bedeutung - vorgetragen, Fahrzeuge der Marken VW und Audi würden ausschließlich über ein lückenloses selektives Vertriebssystem abgesetzt. Die Beklagte könne sich daher diese Fahrzeuge nur im Wege des Schleichbezugs oder dadurch beschafft haben, daß sie einen gebundenen Händler zum Vertragsbruch verleitet oder dessen Vertragsbruch zumindest ausgenutzt habe. Der Kläger hat die Beklagte dementsprechend auf Unterlassung in Anspruch genommen und u.a. beantragt,
es der Beklagten zu untersagen,
im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs für den Verkauf von VW/Audi EU-Neufahrzeugen zu werben, die sie durch Schleichbezug, durch Ausnutzung von Vertragsbruch oder durch Verleitung zum Vertragsbruch im In- oder Ausland der EU als Wiederverkäuferin erworben hat.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat sich darauf berufen, daß das Vertriebssystem von VW und Audi nicht lückenlos sei.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers u.a. deswegen zurückgewiesen, weil in dem selektiven Vertriebssystem der VW-/Audi-Organisation erhebliche Lücken bestünden, was sich allenthalben durch entsprechende Angebote von Parallel- oder Reimporten erweise.
II. Der Kläger stützt seine Unterlassungsklage auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der zufolge dem Hersteller, der seine Abnehmer im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems gebunden hat, gegen den Außenseiter, der lediglich unter Ausnutzung des Vertragsbruchs eines gebundenen Händlers in Besitz der Ware gelangt ist, unter der Voraussetzung ein Anspruch aus § 1 UWG zusteht, daß das Vertriebsbindungssystem gedanklich und praktisch lückenlos ist. Der im vorliegenden Fall zur Entscheidung berufene I. Zivilsenat möchte an dieser Rechtsauffassung nicht festhalten. Zwar kam dem auf § 1 UWG gestützten Anspruch gegenüber dem Außenseiter in den vergangenen Jahren keine große Bedeutung mehr zu, weil die strengen Anforderungen an die praktische Lückenlosigkeit im allgemeinen zur Verneinung dieses Merkmals führten. Der Senat ist jedoch der Ansicht, daß an dem Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit nicht festgehalten werden sollte. Dies zwingt zur Entscheidung der an sich vorrangigen Frage, ob es gerechtfertigt ist, das Verhalten des Außenseiters, der lediglich den Vertragsbruch eines Dritten ausnutzt, nach wie vor als wettbewerbswidrig nach § 1 UWG zu beurteilen. Dies ist aus der Sicht des Senats zu verneinen.
Da es sich bei den Entscheidungen, von denen der Senat abweichen möchte, nicht allein um solche des I. Zivilsenats, sondern auch um Entscheidungen des Kartellsenats handelt, bedürfte es an sich einer Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen (§ 132 Abs. 2 GVG). Eine solche Vorlage ist jedoch nur zulässig und geboten, wenn der Kartellsenat an der in den fraglichen Entscheidungen zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung festhält (§ 132 Abs. 3 GVG). Der Klärung dieser Frage dient die vorliegende Anfrage.
III. Die Auffassung des I. Zivilsenats, die freilich zur Aufgabe einer jahrzehntelangen Rechtsprechung nötigt, beruht auf den folgenden Erwägungen:
1. Dem Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit des Vertriebsbindungssystems sollte für die Frage der Inanspruchnahme des Außenseiters keine entscheidende Bedeutung mehr beigemessen werden.
a) Allerdings kommt dabei - entgegen der zunächst von der Revision geäußerten Auffassung - dem Umstand keine maßgebliche Bedeutung zu, daß die Beurteilung eines Vertriebsbindungssystems nach Art. 81 Abs. 1 und 2 EG (früher Art. 85 Abs. 1 und 2) nicht davon abhängt, ob es gedanklich und praktisch lückenlos ist. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat zwar in der Sache "Metro/Cartier" entschieden, daß die Lückenlosigkeit eines selektiven Vertriebssystems nach dem Gemeinschaftsrecht keine Voraussetzung für seine Rechtswirksamkeit darstellt; daher dürfe einem Vertriebssystem, selbst wenn es in diesem Sinne lückenhaft sei, die Anerkennung nicht versagt werden (Urt. v. 13.1.1994 - Rs. C-376/92, Slg. 1994, I-15 = GRUR 1994, 300, 302 Tz. 28 f.). Entgegen einer im Schrifttum geäußerten Auffassung (Bechtold, NJW 1994, 3211; dagegen Ensthaler, NJW 1995, 1200) ist damit jedoch lediglich die EG-kartellrechtliche Wirksamkeit der zugrundeliegenden Vereinbarungen angesprochen worden, ohne etwas über die Voraussetzungen eines flankierenden lauterkeitsrechtlichen Anspruchs gegen den Außenseiter zu sagen. Dies hat der Gerichtshof inzwischen ausdrücklich klargestellt (EuGH, Urt. v. 5.6.1997 - Rs. C-41/96, Slg. 1997, I-3123 = GRUR Int. 1997, 907, 908 Tz. 12 - VAG-Händlerbeirat/SYD-Consult).
Insofern gilt nichts anderes als im Verhältnis zum autonomen deutschen Kartellrecht: Die kartellrechtliche Wirksamkeit eines selektiven Vertriebsbindungssystems bzw. der zugrundeliegenden vertraglichen Vereinbarungen hängt auch hier nicht von der Lückenlosigkeit des Systems ab (vgl. BGH, Urt. v. 15.7.1999 - I ZR 14/97, Umdr. S. 11 f. - Entfernung der Herstellungsnummer, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen; anders für die Preisbindung Emmerich in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl., § 16 Rdn. 106 f.; Nöcker, Der Mißbrauch bei der erlaubten Preisbindung für Markenwaren, 1971, S. 130 ff.; vgl. auch Klosterfelde/Metzlaff in Langen/Bunte, KartR, 8. Aufl., § 16 GWB Rdn. 101 f.). Hiervon bleibt jedoch unberührt, daß sich aus EG-Kartellrecht ebenso wie aus dem nationalen Kartellrecht (vgl. § 20 Abs. 1 und 2 GWB) eine Notwendigkeit zum diskriminierungsfreien Einsatz eines Vertriebsbindungssystems ergeben kann (vgl. EuGH, Urt. v. 25.10.1983 - Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151 = GRUR Int. 1984, 28, 29 Tz. 36 bis 38 - AEG-Telefunken; BGH, Urt. v. 10.11.1987 - KZR 15/86, WuW/E 2451, 2457 = GRUR 1988, 327 = WRP 1988, 296 - Cartier-Uhren; Urt. v. 12.5.1998 - KZR 23/96, WuW/E DE-R 206, 208 = GRUR 1999, 276 = WRP 1999, 101 - Depotkosmetik). b) Die lückenlose Einhaltung eines Vertriebsbindungssystems ist von der Rechtsprechung in den Fällen, in denen ein Ausnutzen eines fremden Vertragsbruchs in Rede stand, als eine Voraussetzung dafür angesehen worden, daß der Hersteller, ein Händler oder ein deren Interessen wahrnehmender Wettbewerbsverband einen systemfremden Außenseiter - wie im Streitfall die Beklagte - unter dem Gesichtspunkt einer wettbewerbswidrigen Behinderung in Anspruch nehmen kann.
Dabei geht es von vornherein nicht um die Fälle, in denen der Außenseiter sich die Ware auf Schleichwegen verschafft, beispielsweise durch einen vorgeschobenen Mittelsmann unter Verheimlichung des wahren Abnehmers, durch Zusammenwirken mit einem ungetreuen Angestellten des gebundenen Händlers oder unter arglistigem Verschweigen einer gegen ihn verhängten Liefersperre. Denn in diesen Fällen handelt der Außenseiter stets wettbewerbswidrig, ohne daß es insofern auf die lückenlose Einhaltung des Systems ankäme (vgl. BGHZ 40, 135, 138 - Trockenrasierer II [KartellS]; BGH, Urt. v. 14.7.1988 - I ZR 184/86, GRUR 1988, 916, 917 = WRP 1988, 734 - PKW-Schleichbezug; Urt. v. 5.12.1991 - I ZR 63/90, GRUR 1992, 171, 173 = WRP 1992, 165 - Vorgetäuschter Vermittlungsauftrag; Urt. v. 30.6.1994 - I ZR 56/92, GRUR 1994, 827 = WRP 1994, 730 - Tageszulassungen). Auch in den - seltenen - Fällen, in denen dem Außenseiter nachgewiesen werden kann, daß er den gebundenen Händler zum Vertragsbruch verleitet hat, bedarf es allein einer Feststellung, daß die vertragliche Verpflichtung des gebundenen Händlers (noch) besteht, nicht dagegen weiterer Feststellungen zur Lückenlosigkeit (insofern allerdings mißverständlich BGHZ 40, 135, 139 - Trockenrasierer II). Es verbleiben die Regelfälle, in denen lediglich das Ausnutzen eines fremden Vertragsbruchs oder das Ausnutzen eines Schleichbezugs durch einen Vorlieferanten in Betracht kommt.
aa) Steht - wie regelmäßig und wie auch im Streitfall - nicht fest, welcher gebundene Händler die Ware unter Verstoß gegen das Verbot der Abgabe an (systemfremde) Wiederverkäufer veräußert hat, kann von einem Ausnutzen eines fremden Vertragsbruchs oder von einem Schleichbezug durch einen Vorlieferanten nur ausgegangen werden, wenn der Hersteller mit allen Abnehmern eine entsprechende Bindung vereinbart hat, wenn also das System gedanklich lückenlos ist. Ist die Lückenlosigkeit in diesem Sinne im Prozeß gegen den Außenseiter dargetan, spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, daß dieser die Waren nur durch fremden Vertragsbruch oder auf Schleichwegen erlangt haben kann (RGZ 151, 239, 255; BGHZ 36, 370, 376 - Rollfilme [KartellS]; 40, 135, 140 - Trockenrasierer II [KartellS]; BGH, Urt. v. 10.12.1957 - I ZR 175/56, GRUR 1958, 240, 245 = WRP 1958, 88 - Markenschokolade; Urt. v. 9.11.1967 - KZR 9/65, GRUR 1968, 272, 275 - Trockenrasierer III; Urt. v. 9.5.1985 - I ZR 99/83, GRUR 1985, 1059 = WRP 1985, 555 - Vertriebsbindung; Urt. v. 22.6.1989 - I ZR 126/87, GRUR 1989, 832, 833 = WRP 1990, 321 - Schweizer Außenseiter). Hierin liegt die beweisrechtliche Bedeutung der Lückenlosigkeit.
bb) Die sachlich-rechtliche Bedeutung der Lückenlosigkeit ist von der Rechtsprechung zunächst in Fällen der - damals generell für Markenwaren zulässigen - Preisbindung betont worden. Sie beruht auf der Erwägung, daß dem gebundenen Händler die Einhaltung der ihm obliegenden Verpflichtung dann nicht mehr zugemutet werden kann, wenn seine Mitbewerber ohne eine entsprechende rechtliche oder tatsächliche Bindung Wettbewerb treiben können (BGHZ 36, 370, 375 f. - Rollfilme; 40, 135, 139 - Trockenrasierer II; BGH GRUR 1968, 272, 275 - Trockenrasierer III). Dies kann zum einen der Fall sein, wenn nicht alle Mitbewerber in derselben Weise gebunden werden, wenn das System also schon gedanklich lückenhaft ist. Eine solche Situation kann aber zum anderen auch eintreten, wenn gegen gebundene Mitbewerber, die vertragsbrüchig werden, von seiten des Herstellers nicht vorgegangen wird, wenn das System also in seiner praktischen Handhabung Lücken aufweist. Dahinter verbirgt sich die Erwägung, daß in Fällen, in denen schon dem gebundenen Händler die Einhaltung der sich aus der Bindung ergebenden Verpflichtungen nicht mehr zugemutet werden kann, die Mißachtung des Bindungssystems schon gar nicht dem nichtgebundenen Außenseiter als eine sittenwidrige Handlungsweise zur Last zu legen ist (vgl. BGH GRUR 1968, 272, 275 - Trockenrasierer III). Hinzu tritt die Erwägung, daß in einem auf diese Weise praktisch lückenhaften System auch der Bezug der Ware vom an sich gebundenen Händler nicht mehr notwendig einen Vertragsbruch oder einen Schleichbezug voraussetzt (BGH, Urt. v. 7.2.1991 - I ZR 104/89, GRUR 1991, 614, 616 = WRP 1991, 391 - Eigenvertriebssystem).
Daß eine solche Lückenhaftigkeit den an sich vertragstreuen Händler von seinen Pflichten entbinden kann, ist eine Erwägung, die in Fällen der Preisbindung nicht fern liegt. Dem Begehren des Herstellers, der auf einer Einhaltung der Preisbindung besteht, steht der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegen, wenn die Mitbewerber des gebundenen Händlers die gleiche Ware zu einem niedrigeren Preis veräußern können - sei es, daß sie keiner Bindung unterliegen, oder sei es, daß gegen sie nicht vorgegangen wird (BGHZ 36, 370, 376 - Rollfilme; BGH, Urt. v. 10.1.1964 - Ib ZR 78/62, GRUR 1964, 320, 321 = WRP 1964, 161 - Maggi; Urt. v. 3.6.1964 - Ib ZR 49/63, GRUR 1964, 629, 631 = WRP 1964, 315 - Grauer Markt; Urt. v. 26.4.1967 - Ib ZR 22/65, GRUR 1968, 95, 99 = WRP 1967, 367 - Büchereinachlaß; hierzu Knöpfle, NJW 1969, 1001 ff.).
In der Vergangenheit sind diese Grundsätze sowohl vom Kartellsenat als auch vom I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes uneingeschränkt auch auf Vertriebsbindungssysteme angewandt worden (Kartellsenat: BGHZ 40, 135, 137 f. - Trockenrasierer II; BGH GRUR 1968, 272, 274 f. - Trockenrasierer III; I. Zivilsenat: BGH, Urt. v. 21.2.1968 - Ib ZR 11/66, GRUR 1969, 222, 223 - Le Galion; GRUR 1985, 1059 - Vertriebsbindung; GRUR 1991, 614, 616 - Eigenvertriebssystem; Urt. v. 19.3.1992 - I ZR 122/90, GRUR 1992, 627, 629 = WRP 1992, 553 - Pajero; vgl. ferner v. Gamm, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl., Kap. 34 Rdn. 38; Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 20. Aufl., § 1 UWG Rdn. 796 ff.; Piper in Köhler/Piper, UWG, § 1 Rdn. 391 ff.). Dies erscheint deswegen nicht selbstverständlich, weil die materiell-rechtlichen Wirkungen der Lückenhaftigkeit eines derartigen Vertriebssystems nicht notwendig die gleichen sind wie in Fällen der Preisbindung: Im Hinblick auf die Bedeutung des Preises im Wettbewerb kann dem gebundenen Händler eine Einhaltung der Preisvorgaben des Herstellers häufig schon dann nicht mehr zugemutet werden, wenn seine Preise nicht nur kurzfristig durch nichtgebundene oder durch die Bindung mißachtende Händler unterboten werden und er dadurch Nachteile im Wettbewerb erleidet. Ganz anders verhält es sich dagegen, wenn der im Rahmen eines selektiven Vertriebs gebundene Händler im Wettbewerb auf einen nichtgebundenen Mitbewerber trifft. In diesem Fall kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß die Einhaltung der dem gebundenen Händler auferlegten Verpflichtungen nur deswegen unzumutbar wird, weil die Waren auch von systemfremden Händlern angeboten werden (vgl. Beier, GRUR 1987, 131, 139). Bleibt die vertragliche Verpflichtung der gebundenen Händler - was die Regel sein wird - durch das Angebot der Außenseiter unberührt, entfällt die materiell-rechtliche Wirkung, die sich aufgrund möglicher Lücken des Vertriebsbindungssystems ergeben können. Damit ist das nur auf diese Weise zu begründende generelle Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit für den Anspruch gegen den Außenseiter nachhaltig in Frage gestellt.
c) Es kommt hinzu, daß das Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit im Zuge der Schaffung größerer Wirtschaftsräume kaum noch oder nur noch unter Verzicht auf wesentliche Absatzmärkte erfüllt werden kann. Steht ein Bezug der Waren aus dem Ausland in Rede, ergeben sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bereits dann nicht mehr zu schließende praktische Lücken, wenn die Ware sich dort rechtmäßig im Verkehr befindet und - unbeeinträchtigt vom Vertriebsbinder - rechtmäßig bezogen werden konnte (BGH GRUR 1989, 832 - Schweizer Außenseiter). Ein solcher rechtmäßiger Bezug ist etwa in der Schweiz, aber auch in Österreich möglich, da dort der Außenseiter, der Ware von einem gebundenen Händler unter Ausnutzung des von diesem begangenen Vertragsbruchs erwirbt, vom Vertragsbinder nicht in Anspruch genommen werden kann (zur Rechtslage in der Schweiz BGE 114 II 91 = GRUR Int. 1988, 706 - Dior-Vertriebsbindung; BGH GRUR 1989, 832, 833 - Schweizer Außenseiter; zur Rechtslage in Österreich OGH ÖBl. 1985, 68 = GRUR Int. 1986, 210 - Grundig-Vertriebsbindung).
d) Daß die Rechtsprechung des Kartellsenats und des I. Zivilsenats in der Vergangenheit maßgeblich auf die praktische Lückenlosigkeit eines selektiven Vertriebssystems abgestellt und diesem Merkmal eine eigenständige Bedeutung beigemessen hat, die von der Frage der Zumutbarkeit der Einhaltung einer auferlegten Bindung losgelöst ist, begründet eine Sonderentwicklung im deutschen Recht, für die es in vergleichbaren Rechtsordnungen keine Parallele gibt. So ist den Rechtsordnungen Österreichs und der Schweiz, die über ein ähnlich konzipiertes Lauterkeitsrecht verfügen, ein eigenständiges Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit als Voraussetzung für einen Anspruch gegen einen Außenseiter fremd (vgl. OGH ÖBl. 1985, 68, 70 = GRUR Int. 1986, 210 - Grundig-Vertriebsbindung; ÖBl. 1987, 17, 18 = GRUR Int. 1987, 264 - Guerlain; BGE 114 II 91, 102 = GRUR Int. 1988, 706 - Dior-Vertriebsbindung, jeweils in Auseinandersetzung auch mit dem deutschen Recht; hierzu Knaak, GRUR Int. 1986, 212; Kraßer, GRUR Int. 1988, 709, 710; Baudenbacher, GRUR Int. 1988, 931, 932 f.). Auch das französische Rechtssystem, das selektiven Vertriebssystemen einen verhältnismäßig weitreichenden Schutz gegen Außenseiter gewährt, kennt das Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit nicht. Wird dort darauf abgestellt, ob ein System geschlossen ist oder nicht, geht es allein um die - die gedankliche Lückenlosigkeit betreffende - beweisrechtliche Frage, ob die Beteiligung an einem Vertragsbruch vermutet werden kann (dazu Baudenbacher/Klauer, GRUR Int. 1991, 799, 806 m.w.N.). Steht ein Bezug von einem gebundenen Händler in Rede, brauchen weitere Nachforschungen hinsichtlich der Einhaltung der Vertriebsbindung nicht angestellt zu werden (Cour de Cassation Dalloz 1992, 505 = GRUR Int. 1993, 967 - Rochas, mit Anm. Szönyi).
2. Entfällt das Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit, an dem es - wie dargelegt - in den meisten Fällen fehlte und das daher in der Vergangenheit eine kaum überwindbare Schranke für die Inanspruchnahme des Außenseiters durch den Vertriebsbinder gebildet hat, stellt sich die Frage, ob generell an der Möglichkeit einer solchen Inanspruchnahme auch in Fällen festgehalten werden sollte, in denen lediglich ein Ausnutzen eines fremden Vertragsbruchs, nicht dagegen ein Verleiten zum Vertragsbruch oder ein Schleichbezug in Rede steht. Der I. Zivilsenat möchte dies verneinen.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes handelt der Kaufmann, der den Vertragsbruch eines Vertragspartners seines Wettbewerbers nur ausnutzt, ohne den Gebundenen zu dem Vertragsbruch zu verleiten, nicht wettbewerbswidrig, solange nicht besondere die Unlauterkeit begründende Umstände hinzutreten (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 30.1.1976 - I ZR 108/74, GRUR 1976, 372, 374 = WRP 1976, 237 - Möbelentwürfe; Urt. v. 4.10.1990 - I ZR 139/89, GRUR 1991, 449, 453 - Betriebssystem, insoweit nicht in BGHZ 112, 264; Urt. v. 24.2.1994 - I ZR 74/92, GRUR 1994, 447, 449 = WRP 1994, 511 - Sistierung von Aufträgen; Baumbach/Hefermehl aaO § 1 UWG Rdn. 703 ff. m.w.N.). Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß die schuldrechtliche Bindung zwischen dem Wettbewerber und seinem Vertragspartner im allgemeinen Dritten gegenüber keine rechtlichen Wirkungen zu entfalten vermag und daß die Annahme eines Wettbewerbsverstoßes schon bei einem Ausnutzen fremden Vertragsbruchs gewissermaßen zu einer - im Interesse der Verkehrsfähigkeit unerwünschten - Verdinglichung der schuldrechtlichen Verpflichtungen führen würde.
b) Nach Auffassung des Senats können allein daraus, daß der Außenseiter lediglich den Vertragsbruch eines gebundenen Händlers ausnutzt, derartige besondere Umstände zur Begründung der Unlauterkeit nicht hergeleitet werden.
aa) In den Fällen der Preisbindung hat die Rechtsprechung ein solches zusätzliches Unlauterkeitsmerkmal in der Weiterveräußerung der Ware unter dem gebundenen Preis gesehen (vgl. BGHZ 37, 30, 34 - Selbstbedienungsgroßhandel [KartellS]; BGH GRUR 1968, 272, 274 f. - Trockenrasierer III). Hinzu kommt in derartigen Fällen, daß jede Preisunterbietung durch einen Außenseiter das Bindungssystem gefährdet, weil dem Gebundenen die Einhaltung der vorgegebenen Preise dann nicht zugemutet werden kann, wenn seine Preise von ungebundenen Wettbewerbern unterboten werden. Ob diese Umstände für die Annahme eines Wettbewerbsverstoßes ausreichen, bedarf im Streitfall keiner Klärung.
bb) Bei der Vertriebsbindung ist lediglich auf den wettbewerblichen Vorsprung abgestellt worden, den der Außenseiter in zweifacher Weise erziele: zum einen im Verhältnis zu anderen ungebundenen Mitbewerbern dadurch, daß er im Gegensatz zu ihnen sein Sortiment durch die Waren des Vertriebsbinders vervollständigen könne (BGHZ 37, 30, 34 f. - Selbstbedienungsgroßhandel; BGH GRUR 1968, 272, 275 - Trockenrasierer III), und zum anderen im Verhältnis zu den gebundenen Händlern, die verpflichtet seien, die Vorgaben des Vertriebsbinders einzuhalten (vgl. Baumbach/Hefermehl aaO § 1 Rdn. 803 a.E., 804; Beier, GRUR 1987, 131, 135 f.). Beide Gesichtspunkte reichen nach Ansicht des Senats bei wertender Betrachtung nicht aus, um eine Unlauterkeit zu begründen.
(1) Was zunächst das Verhältnis zu anderen ungebundenen Wettbewerbern angeht, ist es diesen unbenommen, sich ebenfalls mit der Ware einzudecken, die - ohne daß dies der Vertriebsbinder zu verhindern vermochte - in den ungebundenen Handel gelangt ist und damit ungeachtet vertraglicher Beschränkungen, die zwischen dem Vertriebsbinder und seinen Händlern bestehen, ein verkehrsfähiges Wirtschaftsgut darstellt. Ihnen gegenüber scheidet daher ein lauterkeitsrechtlich bedenklicher Wettbewerbsvorsprung aus. Würde der Vorwurf des sittenwidrigen Verhaltens allein daran anknüpfen, daß ein Händler die Ware auf einer vorgelagerten Absatzstufe entgegen einer vertraglichen Verpflichtung an einen Wiederverkäufer veräußert hat, haftete der Ware trotz eines in sachenrechtlicher Hinsicht einwandfreien Erwerbs ein Makel an, der ihre Verkehrsfähigkeit beeinträchtigen würde. Der vertraglichen Bindung zwischen dem Hersteller und seinem Abnehmer würde damit zu Unrecht eine quasi-dingliche Wirkung zugebilligt (vgl. die Kritik an der bisherigen Rechtsprechung bei Emmerich aaO § 16 Rdn. 138; Klosterfelde/Metzlaff aaO § 16 GWB Rdn. 122; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Rdn. 401).
(2) Aber auch im Verhältnis zu den gebundenen Händlern verschafft sich der Außenseiter keinen die Unlauterkeit begründenden Vorsprung. Dabei ist zu berücksichtigen, daß er eine unbeschränkt verkehrsfähige Ware erwirbt und daß er in der Art und Weise, wie er mit dieser Ware weiter verfährt, an keinerlei Verpflichtungen gebunden ist, die im Zuge eines vorangegangenen Erwerbsvorgangs schuldrechtlich vereinbart worden sind. Ihn treffen die Verpflichtungen gerade nicht, deren Beachtung der systemgebundene Händler vertraglich übernommen hat. Der gebundene Händler bedarf auch nicht des lauterkeitsrechtlichen Schutzes. Ihm steht es frei, ob er sich gegenüber dem Hersteller bindet, u.a. weil er auf eine zuverlässige Belieferung oder auf sonstige Vorzüge Wert legt, in deren Genuß nur die systemangehörigen Händler kommen, oder ob er sich bemüht, sich wie der Außenseiter auf dem freien Markt mit der fraglichen Ware einzudecken. Wählt er den Weg in die Vertriebsbindung, können Störungen, die sich aufgrund des Wettbewerbs durch ungebundene Händler ergeben, nur im Verhältnis zum Vertragspartner, dem Hersteller, beseitigt werden, den der Abnehmer beispielsweise dazu anhalten kann, alle Abnehmer den gleichen Bindungen zu unterwerfen und die Einhaltung der von den Abnehmern übernommenen Verpflichtungen zu kontrollieren. Auch der Hersteller, der sich durch das Verhalten des Außenseiters beeinträchtigt sieht, ist auf die Vertragsbeziehungen zu seinen Abnehmern zu verweisen, denen gegenüber ihm vertragliche Erfüllungs- und gegebenenfalls Schadensersatzansprüche zustehen (vgl. hierzu Kraßer, Der Schutz von Preis- und Vertriebsbindungen gegenüber Außenseitern, 1972, S. 208 ff., 270 ff.).
(3) Bei der Bejahung des Anspruchs gegen den Außenseiter hat in der Vergangenheit noch ein weiterer - unausgesprochen gebliebener - Gesichtspunkt eine Rolle gespielt. Im Hinblick auf das von der Rechtsprechung angenommene Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit wurde jedes Vertriebsbindungssystem durch das Auftreten eines Außenseiters in seinem Bestand gefährdet. Denn dieses Erfordernis beruht auf der - nach Ansicht des Senats allerdings nicht ohne weiteres zutreffenden - Annahme, daß den gebundenen Abnehmern die Einhaltung der vertraglichen Pflichten nicht mehr zuzumuten sei, wenn sie dem Wettbewerb ungebundener Händler ausgesetzt seien. Wird - wie es nach Ansicht des Senats geboten ist - an dem Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit ohnehin nicht festgehalten, entfällt auch das beschriebene besondere Schutzbedürfnis (vgl. dazu die Vorschläge von Schricker, GRUR 1976, 528, 543; ferner Fezer, GRUR 1990, 551, 553 ff.).
cc) Es ist schließlich darauf hinzuweisen, daß die Rechtsordnungen Österreichs und der Schweiz, die in vergleichbarer Weise wie das deutsche Recht zwischen dem Verleiten zum Vertragsbruch und dem bloßen Ausnutzen eines fremden Vertragsbruchs unterscheiden, den Wettbewerbsvorsprung, den sich der Außenseiter verschafft, - nicht zuletzt mit Blick auf eine ansonsten drohende Vermengung relativer und absoluter Rechte - nicht ausreichen lassen, um die Unlauterkeit zu begründen (OGH ÖBl. 1985, 68, 70 = GRUR Int. 1986, 210 - Grundig-Vertriebsbindung; BGE 114 II 91, 98 ff. = GRUR Int. 1988, 706 - Dior-Vertriebsbindung). Das französische Recht, das als Beispiel für einen weitreichenden Schutz selektiver Vertriebssysteme herangezogen werden kann, erkennt dagegen eine Verantwortlichkeit des Außenseiters für die Einhaltung der Vertriebsbindung an. Diese Haltung beruht jedoch auf einem gegenüber dem deutschen Recht weitergehenden Schutz vertraglicher Positionen mit Hilfe der deliktsrechtlichen Generalklausel des Art. 1382 Code civil (vgl. dazu Baudenbacher/Klauer aaO S. 801 f.; Cour de Cassation Dalloz 1992, 505 = GRUR Int. 1993, 967 - Rochas; Dalloz 1992, 506 = GRUR Int. 1994, 69 - Azzaro; Dalloz 1992, 506 = GRUR Int. 1994, 70 - Hermès).
3. Die selektiven Vertriebsbindungssysteme werden bei dem zugrundegelegten Verständnis nicht schutzlos gestellt. Handelt es sich um ein nach deutschem und europäischem Kartellrecht unbedenkliches System und ist - beispielsweise aufgrund einer (gedanklich) lückenlosen Bindung aller Abnehmer innerhalb des in Rede stehenden Wirtschaftsraums - ein Mißbrauch nicht zu erwarten, steht es dem Hersteller frei, die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch ein Nummernsystem zu kontrollieren (vgl. bereits BGH GRUR 1969, 222, 224 - Le Galion). Wird dem Hersteller die Kontrolle eines solchen nicht zu beanstandenden Systems durch die Entfernung oder durch das Unkenntlichmachen der Kontrollnummern erschwert, steht ihm auch gegenüber dem Außenseiter, der eine solche veränderte Ware vertreibt, unter dem Gesichtspunkt einer wettbewerbswidrigen Behinderung ein Unterlassungsanspruch nach § 1 UWG zur Seite. Dem stehen die Senatsentscheidungen "Entfernung von Kontrollnummern I bis IV" (BGHZ 104, 185; BGH, Urt. v. 5.5.1988 - I ZR 179/86, GRUR 1988, 826 = WRP 1988, 725; Urt. v. 1.6.1988 - I ZR 83/87, WRP 1989, 369; Urt. v. 26.5.1988 - I ZR 238/86, WRP 1989, 366) nicht entgegen. Dort ist lediglich ausgesprochen, daß die Entfernung derartiger Nummern wettbewerbsrechtlich dann nicht untersagt werden kann, wenn sie der Durchsetzung eines Systems dienen, das den Schutz der Rechtsordnung nicht für sich in Anspruch nehmen kann. Dies hat der Senat in einem ebenfalls am 15. Juli 1999 verkündeten Urteil klargestellt (I ZR 14/97, Umdr. S. 14 ff. - Entfernung der Herstellungsnummer, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen).
Ende der Entscheidung
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