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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 08.12.1999
Aktenzeichen: I ZR 230/97
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 123 Abs. 1
BGB § 242 Bc
BGB § 123 Abs. 1, § 242 Bc

Zur Frage des Wegfalls der Geschäftsgrundlage und der Anfechtung eines Vergleichs, den ein Transportversicherer und ein Unternehmen, das bundesweit einen Paketbeförderungsdienst betreibt, für eine Vielzahl von Fällen abgeschlossen haben, und der den Vorwurf groben Organisationsverschuldens in Fällen des Verlustes von Transportgut zum Gegenstand hat.

BGH, Urt. v. 8. Dezember 1999 - I ZR 230/97 - OLG Frankfurt a.M. LG Frankfurt a.M.


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

I ZR 230/97

Verkündet am: 8. Dezember 1999

Walz Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. Dezember 1999 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Erdmann und die Richter Prof. Dr. Mees, Starck, Dr. Bornkamm und Pokrant

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 23. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 6. August 1997 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Die Klägerin, Transportversicherer mehrerer Unternehmen, die die Beklagte mit der Beförderung von Warensendungen beauftragt hatten, nimmt die Beklagte, die bundesweit einen Paketbeförderungsdienst betreibt, aus abgetretenem und übergegangenem Recht wegen des Verlustes von Transportgut in 28 Fällen auf Schadensersatz in Anspruch. Die Beklagte hatte in allen Schadensfällen, die sich zwischen 1992 und 1995 ereigneten, an die Versicherungsnehmer der Klägerin für jedes als abhanden gekommen gemeldete Transportstück - entsprechend der in Ziffer 14a ihrer Beförderungsbedingungen vorgesehenen Haftungsbeschränkung - 500,-- DM Ersatz geleistet. Diese Haftungsbeschränkung gilt gemäß Ziffer 14e der Beförderungsbedingungen nicht bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit der Beklagten, ihrer gesetzlichen Vertreter sowie ihrer Erfüllungsgehilfen.

Vor den streitgegenständlichen Schadensfällen fanden zwischen den Parteien bereits gerichtliche und außergerichtliche Auseinandersetzungen wegen des Verlustes von Transportgut statt, in denen es in erster Linie darum ging, ob sich die Beklagte auf die Haftungsbeschränkung in ihren Beförderungsbedingungen berufen könne. Im Verlaufe dieser Streitigkeiten legte die Beklagte auch ihre Organisationsbeschreibung (im folgenden: OB-U. ) vor. Auf deren Grundlage schlossen die Parteien im Juni 1994 einen Vergleich, der unter anderem folgende Regelung enthielt:

"Da der R. der verfahrensmäßige Ablauf des Paketversandes durch U. aus zahlreichen Schriftsätzen bekannt ist, verpflichtet sich die R. in Kenntnis dieses Verfahrens, ab sofort nicht mehr den Vorwurf groben Organisationsverschuldens zu erheben und aufrechtzuerhalten, es sei denn, daß ganz konkrete Verstöße gegen die von der U. selbst aufgestellten Verfahrensregeln und ähnliche von dem normalen Organisations- und Bearbeitungsablauf bei U. abweichende Umstände vorliegen, die nachweislich durch grobe Fahrlässigkeit verursacht worden sind. Die R. verzichtet auf die Geltendmachung und/oder Durchsetzung von Ansprüchen, soweit sie auf den durch den vorstehenden Satz ausgeschlossenen Vorwurf des 'groben Organisationsverschuldens' gestützt werden. Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen aus sonstigen Gründen bleibt hiervon unberührt."

Die Klägerin hat in der Berufungsinstanz geltend gemacht, an den Vergleich vom 6. Juni 1994 nicht mehr gebunden zu sein. Grundlage des Vergleichs sei eine sich damals verfestigende Rechtsprechung gewesen, die ein grobes Organisationsverschulden der Beklagten und vergleichbarer Unternehmen verneint habe, weil Paketdienstunternehmen aufgrund des Massentransportgeschäftes nicht den strengen Anforderungen, die an sonstige Transportbetriebe gestellt würden, unterlägen. Beide Parteien seien bei Abschluß des Vergleichs vom Fortbestand der damaligen, "für die Beklagte extrem günstigen Rechtsprechung" ausgegangen. Der Bundesgerichtshof habe - "für beide Parteien überraschend" - die Rechtsprechung geändert und auch beim Massenumschlag von Paketen eine strikte Einhaltung der Ein- und Ausgangskontrollen verlangt. Die unvorhersehbare "nachträgliche Umkehr der Rechtsprechung" falle nicht allein in ihren, der Klägerin, Risikobereich. Jedenfalls sei sie zur Anfechtung des Vergleichs wegen arglistiger Täuschung der Beklagten berechtigt, weil diese verschwiegen habe, daß sie sich nicht an die in der OB-U. vorgesehenen Kontrollen halte.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, das Abhandenkommen des Transportgutes im Obhutsbereich der Beklagten in den in Rede stehenden Fällen beruhe auf einer grob mangelhaften Organisation des Transportbetriebes. Sie hat dazu behauptet, es fehle insbesondere an sogenannten Schnittstellenkontrollen; beim Umladen der Pakete in den Umschlagstellen der Zwischen- und Hauptlager fänden keine Ein- und Ausgangskontrollen statt, vielmehr begnüge sich die Beklagte mit der Vornahme bloßer Stückzahlkontrollen und Plombierungen der Transportcontainer. Überdies weise die Organisation der Beklagten grobe Lücken im Bereich der Personalkontrollen auf. So könnten die Auslieferungsfahrer beispielsweise von den Sortierbändern Pakete anderer Auslieferungsbezirke herunternehmen und in ihr Fahrzeug verladen. Die von der Beklagten vorgesehenen Stichprobenkontrollen seien unzureichend und nahezu wirkungslos. Entgegen der bei Abschluß des Vergleiches bekannten Organisationsbeschreibung der Beklagten erfolgten die Sortier-, Be- und Entladevorgänge gerade nicht unter ständiger Aufsicht. Die Fahrer hätten zudem die Möglichkeit, die Lagerhallen vor Dienstantritt der Vorgesetzten zu betreten. Besonders gefahrenträchtig sei es auch, daß sämtliche Transportfahrzeuge der Beklagten nur mit einem Zündschloßsystem ausgestattet seien und es für die Türschlösser nur ein Schlüsselsystem mit 12 unterschiedlichen Schlüsseln gebe.

Die Klägerin hat weiter behauptet, sie sei wegen des Verlustes der hier in Rede stehenden Warensendungen von den Kunden der Beklagten aufgrund bestehender Transportversicherungsverträge in Anspruch genommen worden und habe den Schaden ihrer Versicherungsnehmer in Höhe des 500,-- DM übersteigenden Betrages reguliert.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

1. die Beklagte zur Zahlung von 148.203,45 DM nebst Zinsen zu verurteilen,

2. festzustellen, daß sie an den Vergleich vom 6. Juni 1994 nicht mehr gebunden ist.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat die Aktivlegitimation der Klägerin in Abrede gestellt und darüber hinaus die Übergabe der Pakete an sie zum Transport, deren Verlust auf dem Transportweg sowie den behaupteten Wert des in Verlust geratenen Gutes bestritten.

Ferner hat die Beklagte die Auffassung vertreten, die Klägerin handele treuwidrig, wenn sie ohne die von ihren Versicherungsnehmern vorgenommene Wertdeklaration einen über die Haftungsbegrenzung hinausgehenden Schaden geltend mache. Zudem sei es der Klägerin wegen des außergerichtlich abgeschlossenen Vergleichs verwehrt, sie wegen angeblich groben Organisationsverschuldens in Anspruch zu nehmen.

Hinsichtlich der Mehrzahl der streitgegenständlichen Schadensfälle hat die Beklagte die Einrede der Verjährung erhoben.

Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 1.000,-- DM nebst Zinsen verurteilt und im übrigen die Klage abgewiesen.

Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin und der erstmals in der Berufungsinstanz gestellte Feststellungsantrag sind erfolglos geblieben.

Mit der Revision, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt, verfolgt die Klägerin ihr Zahlungs- und Feststellungsbegehren weiter.

Entscheidungsgründe:

I. Das Berufungsgericht hat eine Haftung der Beklagten über die von ihr je Schadensfall gezahlten 500,-- DM hinaus verneint und die in der Berufungsinstanz erhobene Feststellungsklage für unbegründet erachtet. Dazu hat es ausgeführt:

Der Klägerin stünden keine Schadensersatzansprüche wegen groben Organisationsverschuldens der Beklagten zu, soweit sich die Organisationsmängel aus der dem Vergleichsschluß zugrundeliegenden OB-U. ergäben. Die Klägerin habe sich in dem Vergleich vom 6. Juni 1994 verpflichtet, sich nicht auf ein Organisationsverschulden der Beklagten zu berufen, als sie von dem verfahrensmäßigen Ablauf der Transportorganisation einschließlich des Systems der Fahrerkontrollen Kenntnis habe.

An den mit der Beklagten geschlossenen Vergleich sei die Klägerin weiterhin gebunden, so daß ihre (Zwischen-)Feststellungsklage unbegründet sei. Die Voraussetzungen für einen Wegfall der Geschäftsgrundlage des Vergleichs lägen ebensowenig vor wie diejenigen für ein Anfechtungs- oder Kündigungsrecht der Klägerin, da sich im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses jedenfalls keine ständige oder verfestigte Rechtsprechung "zugunsten" der Beklagten oder anderer vergleichbarer Unternehmen herausgebildet gehabt habe. Aufgrund der Bindung an den Vergleich könne die Klägerin nur solche Organisationsmängel geltend machen, die eine von der OB-U. abweichende oder gegen diese verstoßende Handhabung der Beklagten oder in der OB-U. nicht benannte besondere Umstände darstellten. Solche Verhaltensweisen der Beklagten habe die Klägerin jedoch nicht hinreichend substantiiert dargetan.

II. Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

Das Berufungsgericht hat eine Bindung der Klägerin an den in Rede stehenden außergerichtlichen Vergleich vom 6. Juni 1994 bejaht, weil sie hinsichtlich der vermutlichen Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Bereich des Speditionsrechts betreffend den Massengütertransport lediglich einer Fehleinschätzung unterlegen sei, so daß ein Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht in Betracht komme, und es für ein Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung an hinreichend substantiiertem Vortrag der Klägerin fehle. Diese Beurteilung hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Eine Unwirksamkeit des Vergleichs vom 6. Juni 1994 kommt im Streitfall nicht schon gemäß § 779 BGB wegen Irrtums über die Vergleichsgrundlage in Betracht. Die Klägerin ist nach ihrem eigenen Vorbringen bei Abschluß des in Rede stehenden Vergleichs davon ausgegangen, daß es eine sich seinerzeit verfestigende Rechtsprechung gegeben habe, die ein grobes Organisationsverschulden der Beklagten und vergleichbarer Unternehmen verneint habe, weil Paketdienstunternehmen aufgrund des Massentransportgeschäftes nicht den strengen Anforderungen unterlägen, die an sonstige Transportunternehmen gestellt würden, und daß diese "für die Beklagte extrem günstige Rechtsprechung" weiterhin fortbestehe. Hierbei hat es sich jedoch nicht um einen von beiden Parteien als feststehend zugrundegelegten Sachverhalt i.S. von § 779 BGB gehandelt, der der Wirklichkeit nicht entsprochen hat. Die Klägerin hat sich insoweit vielmehr in einem tatsächlichen Irrtum über einen Umstand befunden, der vor dem Vergleich als streitig oder ungewiß angesehen wurde und deshalb Gegenstand der Streitbeilegung war. Das führt nicht zur Anwendung des § 779 BGB.

2. Die Anwendbarkeit der für das Fehlen oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage geltenden allgemeinen Grundsätze ist damit allerdings nicht ausgeschlossen. Denn diese können auch dann Anwendung finden, wenn die Voraussetzungen des § 779 BGB, bei dem es sich lediglich um einen gesetzlich geregelten Sonderfall des Fehlens der Geschäftsgrundlage handelt, nicht vorliegen (vgl. BGH, Urt. v. 18.11.1993 - IX ZR 34/93, NJW-RR 1994, 434, 435, m.w.N.).

Die Revision wendet sich aber ohne Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, soweit die Klägerin bei Abschluß des Vergleichs von dem Fortbestand der für die Beklagte günstigen Rechtsprechung ausgegangen sei, habe es sich lediglich um einen Motivationsirrtum gehandelt, der nicht zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze betreffend den Wegfall der Geschäftsgrundlage führe.

Ob überhaupt und in welcher Weise eine nachträgliche Änderung der Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage auf bereits abgeschlossene Vergleiche einwirken kann und gegebenenfalls die Anpassung vertraglicher Vereinbarungen an die neue Situation erforderlich macht (vgl. dazu BGHZ 58, 355, 363 f.), bedarf im Streitfall keiner Entscheidung. Denn entgegen dem Vorbringen der Revision hat es in der höchstrichterlichen Rechtsprechung in bezug auf die Darlegungs- und Einlassungspflicht des Spediteurs nach Abschluß des in Rede stehenden Vergleichs jedenfalls keine grundlegende Änderung gegeben.

Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 19. Juni 1986 (I ZR 15/84, TranspR 1986, 459, 461 = VersR 1986, 1019) ausgesprochen, für den Fall, daß Gegenstände unversehrt in die Obhut des Spediteurs gelangt und danach beschädigt oder abhanden gekommen seien, habe er substantiiert darzulegen, wie und wo das Gut aufbewahrt worden sei und welche Sicherungsmaßnahmen der Spediteur gegen Verlust und Beschädigung ergriffen habe, da diese Maßnahmen ausschließlich in seiner Sphäre lägen und deshalb vom Auftraggeber kaum aufgeklärt werden könnten. In der Entscheidung vom 13. April 1989 (I ZR 28/87, TranspR 1989, 327, 328 = VersR 1989, 1066) hat der Senat dargelegt, daß es ein grobes Organisationsverschulden darstellen könne, wenn ein Unternehmen, das weltweit Kurierdienstleistungen anbietet, es pflichtwidrig unterlasse, auf einer zentralen Umschlagstation für eine Ein- und Ausgangskontrolle zu sorgen, weil es dann an einem ausreichenden Überblick über den Lauf und Verbleib der auf der Umschlagstation ein- und abgehenden Sendungen fehle mit der Folge, daß nach einer außer Kontrolle geratenen Sendung nicht gezielt gesucht werden könne. Das pflichtwidrige Unterlassen von Ein- und Ausgangskontrollen hat der Senat mithin bereits in der vorgenannten Entscheidung als besonders grobe Verletzung der einem Spediteur obliegenden Verpflichtung zu sorgfältiger Behandlung des ihm anvertrauten fremden Eigentums angesehen. Mit dem von der Revision angeführten Urteil des Senats vom 3. November 1994 (BGHZ 127, 275) ist daher keine grundlegende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Darlegungslast des Spediteurs eingeleitet worden, die bei Abschluß des Vergleichs vom 6. Juni 1994 für die Klägerin nicht vorhersehbar war; vielmehr hat eine Konkretisierung der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit gesteigerten Anforderungen an die Darlegungs- und Einlassungspflicht des Spediteurs stattgefunden.

3. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die weitere Annahme des Berufungsgerichts, der Klägerin stehe auch kein Recht zur Anfechtung des streitgegenständlichen Vergleichs wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB zu, weil es dafür an hinreichend substantiiertem Vortrag der Klägerin fehle. Insoweit bedarf der Sachverhalt einer weiteren tatrichterlichen Aufklärung.

a) Im vorliegenden Fall kommt nur eine Anfechtung wegen einer Täuschung durch Verschweigen von Tatsachen in Betracht. Dies setzt eine Aufklärungspflicht der Beklagten voraus, die ihre Grundlage in § 242 BGB hat. Eine derartige Pflicht, deren Verletzung eine arglistige Täuschung begründen kann, hat die Rechtsprechung aus den konkreten, zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen dann hergeleitet, wenn das Verschweigen von Tatsachen insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Vereitelung des Vertragszwecks gegen Treu und Glauben verstoßen würde und der Erklärungsgegner die Mitteilung der verschwiegenen Tatsache nach der Verkehrsauffassung erwarten durfte (vgl. BGH, Urt. v. 13.7.1988 - VIII ZR 224/87, NJW 1989, 763, 764; Urt. v. 13.12.1990 - III ZR 333/89, NJW-RR 1991, 439, 440). Dieser Grundsatz geht indes - wovon auch das Berufungsgericht ausgegangen ist - nicht so weit, daß die Beklagte der Klägerin jede Einzelheit des verfahrensmäßigen Ablaufs ihrer Transportorganisation mitteilen mußte. Grundsätzlich muß derjenige, der einen Vertrag schließt, sich selbst darüber vergewissern, ob er für ihn von Vorteil ist oder nicht. Darauf darf sich der andere Vertragsteil grundsätzlich einstellen. Er braucht deshalb nicht auf Umstände hinzuweisen, von denen er annehmen kann, daß darauf Wert gelegt und dementsprechend nach ihnen gefragt wird (vgl. BGH NJW 1989, 763, 764 m.w.N.).

b) Die Revision macht mit Recht geltend, daß die Beklagte unter den im Streitfall gegebenen Umständen ihre Aufklärungspflicht gegenüber der Klägerin verletzt hat. Sie rügt mit Erfolg, das Berufungsgericht habe bei seiner Beurteilung, es fehle jeglicher substantiierte Vortrag zum Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung, wesentliches Vorbringen der Parteien unberücksichtigt gelassen.

aa) Die Klägerin hatte ihre Kenntnisse über die Lager- und Transportorganisation der Beklagten vor Abschluß des in Rede stehenden Vergleichs insbesondere aus deren OB-U. erlangt, die nach den Feststellungen des Berufungsgerichts Grundlage des Vergleichs war. Sie hat des weiteren unwidersprochen vorgetragen (GA III 523 f.), die Beklagte habe stets behauptet, sie agiere ausschließlich gemäß ihrer Organisationsbeschreibung. Danach konnte die Klägerin redlicherweise davon ausgehen, daß die darin vorgesehenen Sicherheitsvorkehrungen gegen Verlust und Diebstahl tatsächlich eingehalten und daß ihr Abweichungen davon, die ein Verlust- und Entwendungsrisiko erheblich erhöhen, ungefragt offenbart würden. Dieser Offenbarungspflicht ist die Beklagte in vorwerfbarer Weise nicht nachgekommen.

Nach dem unbestrittenen Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz vom 11. November 1996 (GA III 517 f.) enthielt die dem Vergleich zugrundeliegende OB-U. in Ziffer 4e u.a. die "strikte Anordnung, daß Dritte nur in Begleitung eines Mitglieds des Managements Zugang zu den Gebäuden haben, in denen sich Pakete befinden". Die Klägerin hat in dem genannten Schriftsatz ferner unter Beweisantritt behauptet, betriebsfremde Dritte könnten entgegen den in der OB-U. enthaltenen Regelungen unbehelligt die Paketumschlagslager betreten, so z.B. in Köln und Freiburg. Die Beklagte hat in ihrem Schriftsatz vom 20. Januar 1997 (GA III 616) selbst eingeräumt, daß ihre Dauerkunden das Transportgut als Selbstanlieferer bis in das Halleninnere bringen. Hierin liegt eine besonders schadensträchtige Schwachstelle in der Lagerorganisation der Beklagten. Denn es liegt auf der Hand, daß eine derartige Organisation Dritten, die mit eigenen Fahrzeugen auf das Betriebsgelände oder gar in die Paketumschlagslager der Beklagten fahren können, die Möglichkeit eröffnet, nicht für sie bestimmte Pakete unbefugt in ihren Gewahrsam zu bringen. Wirksame Maßnahmen zur Verhinderung von Entwendungen durch unbefugte Dritte hat die Beklagte nicht dargelegt. Die Klägerin konnte erwarten, daß die Beklagte ihr diese wesentliche Abweichung von der OB-U. ungefragt offenlegt. Denn das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, daß die Klägerin hiervon vor Abschluß des Vergleichs auf andere Weise Kenntnis erlangt hatte.

bb) Ein weiterer erheblicher Organisationsmangel, den die Klägerin auch beanstandet hat und der aus der OB-U. nicht ersichtlich ist, ergibt sich aus dem eigenen Vorbringen der Beklagten im Schriftsatz vom 20. Januar 1997 (GA III 618). Danach kommt es vor - "häufig", wenn ein Großkunde eine Vielzahl von Paketen in selbstbeladenen Containern oder Wechselbrücken zum Versand bringt -, daß Pakete als übernommen quittiert werden, obwohl sie tatsächlich nicht in den Gewahrsam der Beklagten gelangt sind. Die OB-U. sieht demgegenüber vor, daß der Abholfahrer die Pakete zählt und die Angaben des Versenders auf dem Absendebeleg und auf den Paketen überprüft. Erst danach soll er die Anzahl der übernommenen bzw. der durch den Kunden verladenen Pakete quittieren. Tatsächlich übernimmt die Beklagte aber - wie sie selbst einräumt - von Großkunden in eigener Verantwortung beladene Container und Wechselbrücken, ohne eine zahlenmäßige Kontrolle vorzunehmen. Eine derart erhebliche Abweichung von dem in der OB-U. vorgesehenen verfahrensmäßigen Ablauf des Paketversands hätte die Beklagte der Klägerin vor Abschluß des Vergleichs ebenfalls offenbaren müssen. Denn durch das von der Beklagten teilweise praktizierte Verfahren wird an einer besonders schadensanfälligen Stelle im Transportablauf - bei der Einlieferung des Transportgutes - eine ständige Gefahrenquelle geschaffen. Daß die Klägerin vor Abschluß des Vergleichs von dieser konkreten Abweichung von dem in der OB-U. vorgesehenen Ablauf des Paketversands hatte, hat das Berufungsgericht ebenfalls nicht festgestellt.

c) Die Anfechtung des Vergleichs vom 6. Juni 1994 hat die Klägerin in ihrer Berufungsbegründung vom 11. November 1996 erklärt. Für die Wirksamkeit der Anfechtungserklärung ist allerdings weiter erforderlich, daß die Beklagte arglistig gehandelt hat. Hierfür ist weder Schädigungsabsicht noch Schädigungsvorsatz erforderlich; es genügt das Bewußtsein, daß der Partner ohne die Täuschung die Willenserklärung möglicherweise nicht oder nicht mit dem vereinbarten Inhalt abgegeben hätte, wobei bedingter Vorsatz ausreicht (vgl. BGH, Urt. v. 15.12.1976 - VIII ZR 97/75, WM 1977, 343). Hierzu hat das Berufungsgericht - aus seiner Sicht folgerichtig - bislang keine Feststellungen getroffen.

Sollte sich ergeben, daß der in Rede stehende Vergleich von der Klägerin nicht wirksam angefochten worden ist, so wird das Berufungsgericht dem Vorbringen der Klägerin zu weiteren Mängeln, die außerhalb der Organisationsbeschreibung liegen sollen, zu berücksichtigen haben. Die Klägerin hat insoweit unter Beweisantritt vorgetragen, daß es beispielsweise in der Hauptumschlagsstelle Köln keine Aufsicht und Kontrollen an den Bändern gegeben habe. Die Fahrer seien teilweise vor Dienstbeginn, als Aufsichtspersonal noch nicht zugegen gewesen sei, erschienen. Sie hätten damit die Möglichkeit erhalten, Pakete unkontrolliert beiseite zu schaffen. Ferner wird vor allem das Vorbringen der Klägerin zu Diebstählen durch Mitarbeiter der Beklagten, bei denen Pakete im Gesamtwert von über 1 Mio. DM beiseite geschafft worden sein sollen, zu würdigen sein, da es als Indiz für die Behauptung der Klägerin, die Beklagte setze die in der OB-U. vorgesehenen Kontrollmaßnahmen nur sehr lückenhaft in die Tat um, von Bedeutung sein kann.

4. Sofern das Berufungsgericht zur Feststellung eines groben Organisationsverschuldens der Beklagten gelangt, das nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen berücksichtigt werden kann, haftet diese grundsätzlich unbeschränkt, da die in Ziffer 14a ihrer Beförderungsbedingungen vorgesehene Haftungsbeschränkung bei grober Fahrlässigkeit der Beklagten oder ihrer Erfüllungsgehilfen nach Ziffer 14e der genannten Bedingungen nicht gilt. Von einer Haftung für einfache Fahrlässigkeit konnte sich die Beklagte in ihren Beförderungsbedingungen, denen sich die Versicherungsnehmer der Klägerin unterworfen haben, grundsätzlich wirksam freizeichnen. Das gilt unabhängig davon - was bislang offengeblieben ist -, ob die Beklagte der Spediteurhaftung (§ 407 Abs. 2, § 390 Abs. 1 HGB a.F.) oder der Frachtführerhaftung (§§ 413, 429 ff. HGB a.F.) unterliegt, sofern nicht die unabdingbare KVO-Haftung eingreift. Zweifel an der Wirksamkeit der genannten Haftungsfreizeichnung sind auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstandes nicht ersichtlich.

Ob und gegebenenfalls in welcher Höhe der Klägerin tatsächlich ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte zusteht, hängt von weiteren Feststellungen zur bestrittenen Aktivlegitimation der Klägerin sowie zum ebenfalls streitigen Schadensumfang und zu der von der Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung ab.

III. Danach war das angefochtene Urteil auf die Revision der Klägerin aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Ende der Entscheidung

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