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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 18.05.2006
Aktenzeichen: III ZR 183/05
Rechtsgebiete: MRK
Vorschriften:
MRK Art. 5 |
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
Verkündet am: 18. Mai 2006
in dem Rechtsstreit
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Schlick und die Richter Dr. Wurm, Dr. Kapsa, Dörr und Galke im schriftlichen Verfahren aufgrund der bis zum 7. April 2006 eingereichten Schriftsätze
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. Juli 2005 wird zurückgewiesen.
Das beklagte Land hat die Kosten des Revisionsrechtszuges zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger, ein gambischer Staatsangehöriger, hatte nach seiner Einreise in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Diesen lehnte das seinerzeit zuständige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 13. März 2003 als unbegründet ab. Zugleich forderte es den Kläger zur Ausreise auf und drohte ihm bei Nichteinhaltung der hierfür bestimmten Frist die Abschiebung an. Dieser Bescheid wurde dem Kläger nicht ordnungsgemäß zugestellt. Am 9. Mai 2003 teilte das Bundesamt dem Regierungspräsidium Stuttgart mit, der Ablehnungsbescheid sei bestandskräftig geworden. Daraufhin beantragte das Regierungspräsidium am 27. Februar 2004 beim Amtsgericht Waiblingen die Anordnung der Abschiebungshaft für die Dauer von drei Monaten. Diesem Antrag gab das Amtsgericht durch Beschluss vom gleichen Tage statt. Der Kläger, der bei seiner Haftanhörung erklärt hatte, er habe nicht gewusst, dass er ausreisen solle, wurde sogleich in der Justizvollzugsanstalt Mannheim inhaftiert. Auf Veranlassung des Regierungspräsidiums wurde er am 10. März 2004 aus der Haft entlassen.
Durch Beschluss vom 29. Juni 2004 stellte das Landgericht Stuttgart auf die sofortige Beschwerde des Klägers gegen die Haftanordnung fest, dass der Beschluss des Amtsgerichts rechtswidrig war. Im vorliegenden Rechtsstreit verlangt der Kläger von dem beklagten Land gemäß Art. 5 Abs. 5 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) ein Schmerzensgeld von 11 € je Hafttag, insgesamt 143 €. Die Klage war in beiden Vorinstanzen erfolgreich. Mit der vom Berufungsgericht (OLG Stuttgart OLG-Report 2005, 746) zugelassenen Revision verfolgt das beklagte Land seinen Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision ist nicht begründet.
1. Beide Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, dass dem Kläger wegen der gegen ihn zu Unrecht verhängten Abschiebungshaft für den Zeitraum vom 27. Februar bis zum 10. März 2004 der geltend gemachte Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens gemäß Art. 5 Abs. 5 MRK zusteht.
2. Nach dieser Bestimmung hat jede Person, die unter Verletzung des Art. 5 MRK von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf Schadensersatz. Art. 5 Abs. 1 MRK hat - soweit hier einschlägig - folgenden Wortlaut:
"Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
...
f) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist."
Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt innerstaatlich mit Gesetzeskraft und gewährt in Art. 5 Abs. 5 dem Betroffenen einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch, wenn seine Freiheit dem Art. 5 Abs. 1 MRK zuwider beschränkt wurde (Senatsurteile BGHZ 122, 268, 269 f; BGHZ 45, 46, 49 ff).
3. Dass die Anordnung der Abschiebungshaft rechtswidrig war, steht aufgrund der Rechtskraft des im Beschwerdeverfahren aufgrund des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen ergangenen Beschlusses des Landgerichts Stuttgart mit Bindungswirkung für das vorliegende Verfahren fest. Insoweit gelten die gleichen Grundsätze, die der Senat im Amtshaftungsprozess für die Bindungswirkung der rechtskräftigen Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer im Verfahren nach § 109 StVollzG (Senatsurteil BGHZ 161, 33, 34) und für diejenige einer im Verfahren nach §§ 23 ff EGGVG ergangenen Entscheidung des Strafsenats eines Oberlandesgerichts (Senatsurteil vom 17. März 1994 - III ZR 15/93 = NJW 1994, 1950) entwickelt hat. Darüber hinaus steht die sachliche Richtigkeit der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts unter den Parteien außer Streit. Die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebungshaft lagen zum Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht vor. Die Anordnung der Abschiebungshaft in Form der Sicherungshaft nach § 57 Abs. 2 des seinerzeit geltenden Ausländergesetzes (s. jetzt § 62 Abs. 2 AufenthG) setzte neben der Gefahr der Vereitelung der Abschiebung voraus, dass der betroffene Ausländer ausreisepflichtig war. Die Ausreisepflicht entfällt insbesondere auch durch die gesetzliche Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG). Danach ist einem Ausländer, der (erstmalig) um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet. Die Aufenthaltsgestattung erlischt allerdings nach § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG insbesondere, wenn die Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag unanfechtbar geworden ist. Die Ausreisepflichtigkeit, insbesondere das Vorliegen der Aufenthaltsgestattung und ihr etwaiges Erlöschen, hat der Haftrichter von Amts wegen zu prüfen und festzustellen. Die gesetzliche Aufenthaltsgestattung stellt insoweit nicht nur ein (allein im Ausweisungsverfahren zu überprüfendes) Abschiebungshindernis, sondern auch ein Abschiebungshafthindernis dar (BayObLG NVwZ 1993, 102; OLG Karlsruhe NVwZ 1993, 811, 812; OLG Naumburg FGPrax 2000, 211), das folglich im Abschiebungshaftverfahren zu prüfen ist und dessen Vorliegen die Abschiebungshaft rechtswidrig macht. Im vorliegenden Fall war die Aufenthaltsgestattung nicht gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG erloschen. Denn der Bescheid des Bundesamtes über die Ablehnung seines Asylantrags war mangels ordnungsgemäßer Zustellung noch nicht bestandskräftig geworden.
4. Diese - schon auf der Grundlage des einfachen nationalen Rechts festzustellende - Rechtswidrigkeit begründete hier zugleich einen Verstoß gegen Art. 5 MRK.
a) Die Begriffe "rechtmäßig" und "auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise" in Art. 5 Abs. 1 MRK verweisen auf das innerstaatliche Recht und begründen die Verpflichtung, dessen materielle und prozessuale Regeln einzuhalten (EGMR NJW 2000, 2888 Rn. 44 [Fall Douiyeb]). Allerdings ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anerkannt, dass eine Freiheitsentziehung grundsätzlich rechtmäßig ist, wenn sie aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung stattfindet. Die spätere Feststellung eines Irrtums des Richters bei seiner Entscheidung muss nicht im nachhinein zwangsläufig die Rechtmäßigkeit der inzwischen erlittenen Freiheitsentziehung berühren. Deshalb haben es die Konventionsorgane stets abgelehnt, Beschwerden von verurteilten Straftätern anzunehmen, die behaupten, der Schuldspruch oder die gegen sie verhängte Strafe beruhten auf einem Tatsachen- oder Rechtsirrtum (EGMR aaO Rn. 45). In ähnlichem Sinne hat auch der erkennende Senat bereits entschieden, dass dann, wenn ein deutsches Strafurteil vollstreckt wird, das nach deutschem Recht vollstreckbar ist, die Vollstreckung rechtmäßig ist, auch wenn das Urteil unrichtig ist, weil etwa der Sachverhalt nicht zutreffend ermittelt ist, die Rechtsanwendung Fehler aufweist oder Verfahrensverstöße unterlaufen sind, solange diese Fehler nach den innerstaatlichen Vorschriften nicht zur Beseitigung des Urteils führen können oder geführt haben (Senatsurteil BGHZ 57, 33, 42 f). Auch im Hinblick auf einzelne Verfahrensfehler wie etwa den Verstoß gegen bestimmte Zuständigkeits- oder Formvorschriften oder bei versehentlich unterlaufenen Schreibfehlern hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Konventionsverstoß verneint (vgl. etwa EGMR NJW 2000, 2888 Rn. 52; EuGRZ 1979, 650, 655 Rn. 48 ff). Es ist nämlich nicht Sinn und Zweck des Art. 5 MRK, einen Staat für die Verletzung gegebenenfalls noch so wichtiger Formvorschriften zu "bestrafen", sondern es geht um die Behebung eines infolge der Rechtsverletzung eingetretenen Schadens (Herzog, AÖR 86 [1961], 194, 236; OLG Köln NVwZ 1997, 518). In ähnlichem Sinne kann im nationalen deutschen Amtshaftungsrecht der verfahrensfehlerhaft handelnden Behörde unter bestimmten Voraussetzungen der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens zugute kommen (vgl. Staudinger/Wurm BGB 13. Bearb. 2002, § 839 Rn. 238 ff).
b) Der hier in Rede stehende Formfehler einer unwirksamen Zustellung des Bescheides hatte indessen die unmittelbare materiell-rechtliche Konsequenz, dass die Aufenthaltsgestattung des Klägers fortbestand. Damit fehlte es für die Anordnung der Abschiebungshaft sowohl an einer verfahrensmäßigen als auch an einer materiell-rechtlichen Grundlage. Dies bedeutet, dass gerade der Kernbereich des in Art. 5 MRK garantierten Rechts auf Freiheit tangiert war. Der abweichenden Auffassung des OLG Köln (aaO), das eine Konventionswidrigkeit in einem gleich liegenden Fall verneint hat, kann daher nicht gefolgt werden.
c) Die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung hängt auch nicht davon ab, dass die staatlichen Amtsträger willkürlich gehandelt haben. Zwar bezweckt Art. 5 MRK auch und gerade, die Freiheit des einzelnen vor willkürlichen Übergriffen staatlicher Stellen zu schützen (EGMR NJW 1987, 3066 Rn. 54 und 59; OLG Hamm NJW 1989, 1547); indessen geben weder Wortlaut noch Sinn der Bestimmung etwas dafür her, dass dieser Schutz nur und erst bei einem Verstoß gegen das Willkürverbot einsetzen soll. Es reicht vielmehr, dass die freiheitsentziehende Maßnahme einer Gesetz- und Rechtmäßigkeitsprüfung im vorstehend beschriebenen Sinne nicht standhält. Dies gilt sogar dort, wo die innerstaatlichen Anforderungen an eine Freiheitsentziehung strenger sind als die in der Konvention selbst festgelegten (Senatsurteile BGHZ 122, 268, 270; 57, 33, 38).
5. Der Anspruch aus Art. 5 Abs. 5 MRK setzt weiterhin kein Verschulden voraus, sondern ist bereits bei objektivem Verstoß gegen die von der Konvention und vom innerstaatlichen Recht aufgestellten Voraussetzungen der Inhaftierung gegeben. Es handelt sich um einen Fall der Gefährdungshaftung (Senatsurteil BGHZ 45, 58, 65).
6. Inhaltlich umfasst der zu leistende Schadensersatz auch den immateriellen Schaden (§ 253 Abs. 2 BGB). Die Höhe des dem Kläger zuerkannten Anspruchs ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch die Revision erhebt insoweit keine Einwände.
Ende der Entscheidung
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