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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 26.04.2006
Aktenzeichen: IV ZR 26/05
Rechtsgebiete: ZPO, BVerfGG
Vorschriften:
ZPO § 580 Nr. 6 | |
BVerfGG § 79 |
2. Die vom Bundesverfassungsgericht für die Rechtsanwendung vorgegebenen Maßstäbe sind von den Gerichten zwar bei zukünftigen Entscheidungen zu beachten, ändern aber nichts daran, dass rechtskräftige Entscheidungen in anderen, nicht strafrechtlichen Verfahren, die nicht vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden sind, unberührt bleiben.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
Verkündet am: 26. April 2006
in dem Rechtsstreit
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden Richter Terno, die Richter Dr. Schlichting, Wendt, Felsch und Dr. Franke auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2006
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 10. Dezember 2004 wird auf Kosten der Kläger zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Kläger erstreben mit der im vorliegenden Verfahren erhobenen Restitutionsklage die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens, in dem sie gegenüber dem Beklagten Pflichtteilsansprüche nach dem am 25. September 1994 verstorbenen Dr. Louis Ferdinand Prinz von Preußen (im Folgenden: Erblasser) geltend gemacht haben. Die Kläger sind Söhne des Erblassers; der Beklagte ist sein Enkel. Der Streit betrifft das Hausvermögen des früheren preußischen Königshauses. Insoweit kommt ein Pflichtteilsanspruch der Kläger nur in Betracht, wenn auch diese Vermögensmasse zum Nachlass des Erblassers zu rechnen ist, diesem also nicht lediglich als Vorerben nach seinem Vater, dem am 20. Juli 1951 verstorbenen ehemaligen deutschen Kronprinzen Wilhelm von Preußen, zugefallen ist.
Die Vor- und Nacherbfolge in das Hausvermögen ist in einem Erbvertrag aus dem Jahre 1938 vorgesehen, den der Erblasser mit seinem Vater geschlossen hatte. Danach sollen die Abkömmlinge des Vorerben im Mannesstamm nach dem Grundsatz der Erstgeburtsfolge Nacherben werden; Nacherbe kann jedoch nicht sein, wer nicht aus einer den Grundsätzen der Hausverfassung des Brandenburgisch-Preußischen Hauses entsprechenden Ehe stammt oder in einer nicht hausverfassungsmäßigen Ehe lebt (im Folgenden: Erbunfähigkeitsklausel). Die Hausverfassung verlangt, dass der angeheiratete Partner aus einer dem Hause Preußen ebenbürtigen Familie stammt.
Die Kläger halten den Erbvertrag jedenfalls im Hinblick auf diese Klausel für sittenwidrig und daher für nichtig. Dem sind die Gerichte im Ausgangsverfahren nicht gefolgt, sind von der Wirksamkeit der Vor- und Nacherbfolge ausgegangen und haben deshalb die hier geltend gemachten Auskunftsansprüche abgewiesen. Dabei hat sich das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen u.a. auf den Beschluss des Senats vom 2. Dezember 1998 (IV ZB 19/97 - BGHZ 140, 118 ff.) bezogen, in dem die Erbunfähigkeitsklausel als wirksam angesehen worden ist. Dieser Beschluss war auf Vorlage des Oberlandesgerichts Stuttgart nach § 28 Abs. 2 FGG im Erbscheinsverfahren ergangen, an dem die Parteien des vorliegenden Rechtsstreits beteiligt waren. In dem hier zugrunde liegenden Pflichtteilsprozess wurde die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil durch Beschluss des Senats vom 12. März 2003 unter Hinweis auf die Entscheidung BGHZ 140, 118 ff. zurückgewiesen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerden gegen die rechtskräftige Abweisung der auf das Pflichtteilsrecht gestützten Auskunftsansprüche mit Beschluss vom 26. April 2004 nicht zur Entscheidung angenommen. Aufgrund der Verfassungsbeschwerde eines anderen Sohnes des Erblassers hatte das Bundesverfassungsgericht allerdings zuvor den Senatsbeschluss BGHZ 140, 118 ff. durch Kammerbeschluss vom 22. März 2004 aufgehoben (NJW 2004, 2008).
Aufgrund dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts haben die Kläger die am 30. April 2004 zugestellte Restitutionsklage beim Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen erhoben. Gegen deren Abweisung wenden sich die Kläger mit der Revision.
Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
1. Das Berufungsgericht hält die Restitutionsklage trotz Bedenken für zulässig, aber nicht für begründet. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs im Erbscheinsverfahren sei nicht in Rechtskraft erwachsen und binde ein Prozessgericht nicht, das über die Erbfolge oder Pflichtteilsansprüche im streitigen Verfahren zu entscheiden habe. Deshalb könne der Beschluss BGHZ 140, 118 ff. nicht einem präjudiziellen Urteil im Sinne von § 580 Nr. 6 ZPO gleichgestellt werden. Im Übrigen könne nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht schon von einer Nichtigkeit des Erbvertrages ausgegangen werden. Jedenfalls sei das mit der Restitutionsklage angegriffene, rechtskräftig gewordene Urteil des Oberlandesgerichts im Ausgangsverfahren nicht im Sinne von § 580 Nr. 6 ZPO auf den Beschluss BGHZ 140, 118 ff. "gegründet". Denn das Urteil im Ausgangsverfahren beruhe auf der eigenen Überzeugung der beteiligten Richter und nicht etwa nur auf der Meinung des Bundesgerichtshofs.
2. Dem hält die Revision entgegen, dem Beschluss BGHZ 140, 118 ff. komme im Rahmen des Erbscheinsverfahrens eine streitentscheidende Funktion zu; er habe auch Bindungswirkung gegenüber den Vorinstanzen jenes Verfahrens entfaltet und sei daher einem präjudiziellen Urteil im Sinne des § 580 Nr. 6 ZPO gleich zu achten. Für die Anforderungen, die in dieser Vorschrift an die Kausalität des Präjudizes für das mit der Restitutionsklage angegriffene Urteil gestellt werden, reiche aus, dass das angegriffene Urteil in dem Präjudiz irgendeine Stütze finde (vgl. BGH, Urteil vom 8. Februar 1984 - IVa ZR 203/81 - VersR 1984, 453 unter III). Dieses Präjudiz sei aber durch den gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG mit Erlass rechtskräftigen und alle Gerichte bindenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 2004 aufgehoben worden.
3. Die hier streitigen Fragen zur Auslegung und Anwendung von § 580 Nr. 6 ZPO bedürfen jedoch aus Anlass des vorliegenden Falles keiner Klärung. Denn die Folgen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, durch die eine Rechtsnorm oder deren Auslegung in einem bestimmten Sinne für verfassungswidrig oder die fachgerichtliche Auslegung und Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt werden, auf bereits rechtskräftig abgeschlossene andere Verfahren, denen die später als verfassungswidrig erkannte Norm oder Auslegung zugrunde liegt, werden von § 79 BVerfGG besonders und abschließend geregelt (hierzu und zum Folgenden BVerfG ZIP 2006, 60 ff.).
a) § 79 BVerfGG regelt in seinen Absätzen 1 und 2 die Folgen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, durch die eine Rechtsnorm für verfassungswidrig erklärt wird, auf deren Grundlagen Entscheidungen ergangen sind, die schon rechtskräftig geworden oder sonst nicht mehr anfechtbar sind. Da der Gesetzgeber bei Erlass des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes im Jahre 1951 (vgl. BGBl. I S. 243) davon ausging, dass die Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes dessen Nichtigkeit mit Wirkung ex tunc sein würde, sollten diese Rechtsfolgen mit § 79 BVerfGG im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit begrenzt werden. Deshalb bestimmt § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG als Grundsatz, dass - vorbehaltlich der Aufhebung einer Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nach § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung - nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt bleiben, also in ihrer Existenz nicht mehr in Frage gestellt werden sollen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz machte der Gesetzgeber nur für das Strafrecht; allein die Rechtskraft eines auf verfassungswidriger Grundlage ergangenen Strafurteils sollte durchbrochen werden können (§ 79 Abs. 1 BVerfGG). An dieser Zielrichtung und Systematik hat sich nichts dadurch geändert, dass die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens seit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1765) nicht mehr auf den Fall beschränkt ist, dass ein Strafurteil auf einer für nichtig erklärten Norm beruht, sondern auch dann in Betracht kommt, wenn sich das Strafurteil auf eine vom Bundesverfassungsgericht als unvereinbar mit dem Grundgesetz erkannte Auslegungsvariante einer Norm stützt. Nachdem das Gesamtkonzept des § 79 BVerfGG in dieser Weise ergänzt worden ist, wäre es bei der Anwendung von § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ungereimt, nur solche nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen unberührt zu lassen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, und den Bestandsschutz nicht auch auf Entscheidungen zu erstrecken, denen eine mit dem Grundgesetz unvereinbare Auslegung einer Norm zugrunde liegt. Darin liegt im Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 BVerfGG ebenso wenig ein sachlich begründeter, wesentlicher Unterschied wie im Rahmen des § 79 Abs. 1 BVerfGG. Mit dieser Auslegung des § 79 BVerfGG hat das Bundesverfassungsgericht also ausdrücklich daran festgehalten, dass im Anwendungsbereich des Absatzes 2 der Vorschrift der Grundsatz des Satzes 1 unverändert Geltung beansprucht, wonach nicht mehr anfechtbare Entscheidungen (soweit nicht eine der in Satz 1 selbst genannten Ausnahmen vorliegt) unberührt bleiben und in ihrer Existenz nicht mehr in Frage gestellt werden können.
b) Von einer analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG können auch Entscheidungen nicht ausgenommen werden, durch welche die Zivilgerichte angehalten werden, bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen des bürgerlichen Rechts die jeweils einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. Zwar bestehen zwischen dieser Art, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht durchzusetzen, und den Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht den Fachgerichten die verfassungskonforme Auslegung einer Regelung vorgibt, Unterschiede. Beide Fallkonstellationen sind jedoch hinsichtlich der Gewährung von Grundrechtsschutz so ähnlich, dass sie im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz gleich behandelt werden müssen. Dies gilt allerdings nur, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Verfehlung verfassungsrechtlicher Vorgaben im Einzelfall beanstandet, sondern für die Auslegung des bürgerlichen Rechts über den Einzelfall hinausreichende Maßstäbe setzt, an welche die Zivilgerichte bei ihrer künftigen Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen gebunden sind.
c) Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 2004 (NJW 2004, 2008, 2009 ff.) werden zwar über den Einzelfall hinaus allgemeine Maßstäbe zur Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB auf solche letztwilligen Verfügungen gesetzt, die die Eheschließungsfreiheit der als Erben eingesetzten Abkömmlinge beeinflussen (Gaier, ZEV 2006, 2, 5). Diese Maßstäbe sind von den Gerichten bei zukünftigen Entscheidungen zu beachten, ändern aber - wie vorstehend dargelegt - nichts daran, dass ein bereits unanfechtbar abgeschlossenes Verfahren wie im vorliegenden Fall Bestand behält, auch wenn es auf einer nunmehr als verfassungswidrig erkannten Auslegung und Anwendung der Generalklauseln beruht. Es kann daher auch nicht im Wege einer Restitutionsklage einer neuen Sachentscheidung zugeführt werden. Ein Wandel der Rechtsauffassung ist kein Restitutionsgrund (BVerfGE 2, 380, 395, 405; BGH, Urteil vom 11. März 1953 - II ZR 180/52 - BB 1953, 273; BAG, AP Nr. 1 zu § 580 ZPO; BFHE 123, 310, 311 f.).
Um die Vollstreckung aus einer unanfechtbaren, verfassungswidrigen Entscheidung (§ 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG) geht es hier nicht.
d) Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. März 2004 die rechtskräftig gewordenen Entscheidungen in dem hier zugrunde liegenden Pflichtteilsprozess nicht aufgehoben, obwohl sie ihm bekannt gewesen sein dürften. Selbst die Verfassungsbeschwerden gegen diese Entscheidungen sind ohne Erfolg geblieben. Dieses Verfahrensergebnis kann nicht dadurch umgangen werden, dass dem Erfolg einer Verfassungsbeschwerde eines anderen Beteiligten gegenüber anderen gerichtlichen Entscheidungen mit Hilfe von § 580 Nr. 6 ZPO Wirkung auch für die rechtskräftig gewordenen Entscheidungen des hier vorliegenden Ausgangsverfahrens beigemessen wird (vgl. BFHE 82, 567, 574).
3. Die Kläger berufen sich zusätzlich auf einen erst am 6. April 2006 vom Nachlassgericht erteilten Erbschein, der Dr. Louis Ferdinand Prinz von Preußen als Alleinerben des Kronprinzen Wilhelm von Preußen ausweist. Ob dieser Vortrag im vorliegenden Revisionsverfahren überhaupt zu berücksichtigen ist, kann auf sich beruhen. Jedenfalls handelt es sich bei dem betreffenden Erbschein nicht um eine zur Wiederaufnahme des Ausgangsverfahrens geeignete Urkunde im Sinne von § 580 Nr. 7b ZPO (vgl. BVerwG NJW 1965, 1292 f.; Musielak, ZPO 4. Aufl. § 580 Rdn. 21; Zöller/Greger, ZPO 25. Aufl. § 580 Rdn. 28).
Ende der Entscheidung
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