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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 06.10.1999
Aktenzeichen: IV ZR 262/98
Rechtsgebiete: BGB
Vorschriften:
BGB § 2332 Abs. 1 |
Ein Kenntnis i.S. von § 2332 Abs. 1 BGB ausschließender Irrtum liegt vor, wenn der Pflichtteilsberechtigte nach seiner Auslegung der letztwilligen Verfügung sein gesetzliches Erbrecht nicht beeinträchtigt sieht, jedenfalls wenn diese Auslegung nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist.
BGH, Urteil vom 6. Oktober 1999 - IV ZR 262/98 - OLG München LG München II
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
Verkündet am: 6. Oktober 1999
Schick Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden Richter Dr. Schmitz, die Richter Dr. Schlichting, Terno, die Richterin Ambrosius und den Richter Wendt auf die mündliche Verhandlung vom 6. Oktober 1999
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Streithelfers der Klägerin wird das Urteil des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 29. Juni 1998 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin gegen die Abweisung von Auskunfts- und Wertermittlungsansprüchen hinsichtlich des Nachlasses des am 27. Mai 1993 verstorbenen F. K. zurückgewiesen worden ist.
In diesem Umfang wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin macht im Wege der Stufenklage Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend. Sie ist die Tochter der vorverstorbenen Tochter des Erblassers aus dessen erster Ehe. Der Erblasser und seine zweite Ehefrau hatten sich in einem gemeinschaftlichen Testament gegenseitig als Alleinerben und die Beklagten als ihre Erben im Falle ihres "gleichzeitigen Todes" bestimmt. Am 27. Mai 1993 setzten der Erblasser und seine zweite Ehefrau ihrem Leben durch Kopfschüsse ein Ende; der Erblasser starb eine halbe Stunde nach seiner Frau.
Sowohl die Klägerin als auch die Beklagten stellten Erbscheinsanträge. Dabei war die Klägerin der Meinung, der Erblasser habe seine Frau aufgrund des Testaments beerbt; nach ihm sei gesetzliche Erbfolge eingetreten. Die Beklagten vertraten dagegen den Standpunkt, die testamentarische Regelung für den Fall des gleichzeitigen Todes sei im Wege der Auslegung auch auf den hier eingetretenen Fall zu beziehen. Die Argumentation der Beklagten war dem Verfahrensbevollmächtigten der Klägerin im Erbscheinsverfahren, ihrem jetzigen Streithelfer, bekannt, wie sein Schriftsatz vom 9. Juli 1993 zeigt. Aus einem weiteren Schriftsatz im Erbscheinsverfahren vom 14. Oktober 1993 geht hervor, daß er auch Anhaltspunkte für eine Grundstücksschenkung des Erblassers zugunsten des Beklagten zu 1) wenige Tage vor dem Erbfall hatte. Mit Beschluß vom 22. November 1994 wies das Nachlaßgericht den Erbscheinsantrag der Klägerin zurück und kündigte die Erteilung eines Erbscheins zugunsten der Beklagten an. Die dagegen erhobene Beschwerde blieb ohne Erfolg. Mit Beschluß vom 30. September 1996 wies das Bayerische Oberste Landesgericht auch die weitere Beschwerde zurück (BayObLGZ 1996, 243 ff. = ZEV 1996, 470 ff. = FamRZ 1997, 249 ff.).
Am 4. Juli 1997 wurde die Klage im vorliegenden Verfahren eingereicht. Die Vorinstanzen haben die zunächst zur Entscheidung gestellten Auskunfts- und Wertermittlungsansprüche, soweit sie nicht von den Beklagten anerkannt worden sind, abgewiesen. Hinsichtlich des Nachlasses der Ehefrau des Erblassers sind sie den Nachlaßgerichten gefolgt, die die testamentarische Regelung für den Fall des gleichzeitigen Todes auch auf den hier eingetretenen Erbfall bezogen haben, weil der überlebende Ehegatte nicht mehr anderweit testieren konnte. Mithin seien die Beklagten unmittelbar Erben der Ehefrau geworden. Insoweit hat der Senat die Revision des Streithelfers der Klägerin nicht zur Entscheidung angenommen. Was den Nachlaß des Erblassers betrifft, halten die Vorinstanzen die Klage für verjährt. Auch dagegen wendet sich die Revision.
Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. In Bezug auf den Nachlaß des Erblassers hat das Berufungsgericht die Auskunfts- und Wertermittlungsansprüche der Klägerin abgewiesen, weil sie der Vorbereitung von Pflichtteils- oder Pflichtteilsergänzungsansprüchen dienen, die gemäß § 2332 Abs. 1 BGB verjährt seien; daher bestehe für die geltend gemachten Ansprüche kein Bedürfnis mehr (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 1995 - IV ZR 134/95 - NJW 1995, 1157 unter I 3 m.w.N.). Die dreijährige Verjährungsfrist habe spätestens am 9. Juli 1993 (bzw. wegen der Pflichtteilsergänzung am 14. Oktober 1993) zu laufen begonnen. Zu dieser Zeit habe die Klägerin den wesentlichen Inhalt der letztwilligen Verfügung sowie die unter Bezug auf Rechtsprechung und Literatur vertretene Auslegung der Beklagten gekannt, wonach die Klägerin von der Erbfolge ausgeschlossen sei. Der Irrtum der Klägerin über die Auslegung des Testaments sei unbeachtlich und könne nicht wie ein Irrtum über die Gültigkeit eines Testaments behandelt werden. Vielmehr habe mit Rücksicht auf den Sinn der kurzen Verjährung von der Klägerin ein die Verjährung unterbrechendes Handeln erwartet werden können, sobald sie die Möglichkeit erkannt habe, daß die testamentarische Regelung über den gleichzeitigen Tod auch im Sinne der Beklagten auf den hier eingetretenen Erbfall habe bezogen werden können.
2. Dem tritt die Revision mit Recht entgegen.
a) Der Senat hat in seinem Urteil vom 25. Januar 1995 (aaO unter I 1) zwischen einem Irrtum des Pflichtteilsberechtigten über das Ausmaß seiner Beeinträchtigung einerseits und über die Gültigkeit der letztwilligen Verfügung andererseits unterschieden. Nur für den Irrtum bei der Auslegung einer letztwilligen Verfügung, der nicht ihre Wirksamkeit, sondern nur das Ausmaß der Beeinträchtigung betrifft, hat der Senat entschieden, daß er nicht erheblich sei für die von § 2332 Abs. 1 BGB vorausgesetzte Kenntnis und damit für den Lauf der Verjährungsfrist. Dagegen hat der Senat betont, anders liege es, wenn der Pflichtteilsberechtigte über das Bestehen seines Pflichtteilsrechts überhaupt irre. Erst die wirksam gewordene und vom Pflichtteilsberechtigten auch erkannte Beeinträchtigung seines gesetzlichen Erbrechts gebe ihm - ungeachtet ihres Umfangs - hinreichend Anlaß zum Handeln. In diesem Sinne hat das Urteil Zustimmung gefunden (Ebenroth/Koos, ZEV 1995, 233, 234 unter 2.2.1; MünchKomm/Frank, BGB 3. Aufl. § 2332 Rdn. 7; Staudinger/Olshausen, BGB 13. Bearb. § 2332 Rdn. 15).
b) Schließt danach ein Irrtum über die Wirksamkeit der letztwilligen Verfügung, jedenfalls wenn die Bedenken nicht von vornherein von der Hand zu weisen sind, die von § 2332 Abs. 1 BGB vorausgesetzte Kenntnis aus, kann für einen Irrtum über die Anwendbarkeit der letztwilligen Verfügung auf den zu beurteilenden Erbfall nichts anderes gelten. Auch bei einem solchen Irrtum fehlt die Kenntnis des Pflichtteilsberechtigten, daß sein gesetzliches Erbrecht überhaupt beeinträchtigt sei, und damit ein hinreichender Anlaß zum Handeln. Es macht keinen wesentlichen Unterschied, ob sich der Pflichtteilsberechtigte deshalb nicht beeinträchtigt sieht, weil er die enterbende Verfügung etwa durch eine spätere Erklärung des Erblassers für aufgehoben hält (BGHZ 95, 76, 78 f.), oder - wie im vorliegenden Fall - weil er das Testament schon gar nicht auf den eingetretenen Erbfall bezieht.
c) Es kommt auch nicht allein darauf an, daß der Irrtum auf einer unrichtigen Auslegung der letztwilligen Verfügung beruht und daß dem Pflichtteilsberechtigten Gesichtspunkte bekannt waren, die zu einer anderen, sein gesetzliches Erbrecht beeinträchtigenden Auslegung führen konnten. Die von § 2332 Abs. 1 BGB geforderte Kenntnis des Pflichtteilsberechtigten kann gleichwohl fehlen, solange seine Auslegung auch unter Berücksichtigung der ihm bekannt gewordenen, entgegenstehenden Gesichtspunkte nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist. Die Klägerin durfte sich im vorliegenden Fall insbesondere auf die rechtliche Beratung durch den Streithelfer verlassen; dieser hatte auf den engen Wortsinn des Begriffs der Gleichzeitigkeit des Todes und die darauf gestützten Bedenken in der Rechtsprechung gegen eine erweiternde Auslegung (etwa KG FamRZ 1970, 148) hingewiesen. Das gilt hier jedenfalls bis zur Entscheidung des Nachlaßgerichts, das der Testamentsauslegung der Beklagten den Vorzug gab.
Die Verjährungsfrist ist aber - geht man vom Beschluß des Nachlaßgerichts vom 22. November 1994 aus - durch die am 4. Juli 1997 eingereichte Klage rechtzeitig unterbrochen worden.
3. Das Berufungsgericht wird daher der offengelassenen Frage nachzugehen haben, inwieweit die geltend gemachten Auskunfts- und Wertermittlungsansprüche begründet sind.
Ende der Entscheidung
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