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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 19.03.2003
Aktenzeichen: IV ZR 283/02
Rechtsgebiete: AUB 88


Vorschriften:

AUB 88 § 2 IV
Stellt sich die Ausschüttung von Streßhormonen im Verlauf eines Unfallgeschehens mit der Folge einer Aortendissektion als normale, unwillkürlich und automatisch ablaufende körperliche Reaktion dar, liegt keine psychische Reaktion i.S. des § 2 IV AUB 88 vor.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

IV ZR 283/02

Verkündet am: 19. März 2003

in dem Rechtsstreit

Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden Richter Terno, die Richter Seiffert und Wendt, die Richterin Dr. Kessal-Wulf und den Richter Felsch auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2003

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 20. März 2002 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger, ein Berufskraftfahrer, verlangt Invaliditätsentschädigung aus einer bei der Beklagten genommenen Unfallversicherung, der unter anderem die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB 88) zugrunde liegen.

Am 4. November 1993 erlitt er einen Verkehrsunfall, als sich von einem entgegenkommenden Lastzug ein Rad löste und gegen das Führerhaus seines trotz sofort eingeleiteter Vollbremsung noch nicht zum Stillstand gekommenen LKW prallte. Aufgrund muskulärer Reaktionen und Ausschüttung von Streßhormonen kam es bei ihm zu einem Blutdruckanstieg, der kurz nach Fortsetzung der Fahrt zu einer Aortendissektion führte. Der Kläger ist dadurch zu 50% invalide. Er begehrt die dafür bedingungsgemäß vorgesehene Invaliditätsleistung. Die Beklagte beruft sich demgegenüber auf den in den Versicherungsbedingungen vereinbarten Leistungsausschluß bei krankhaften Störungen infolge psychischer Reaktionen.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung ist erfolglos geblieben. Dagegen richtet sich die zugelassene Revision der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

I. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

Nach dem Berufungsurteil (abgedruckt in VersR 2002, 1019 f. = NVersZ 2002, 402 f., mit Anm. Knappmann, VersR 2002, 1230 f. und Schwintowski, NVersZ 2002, 395 f.) ist für den Gesundheitsschaden eine körperliche Reaktion neben einer psychischen Reaktion zumindest mitursächlich gewesen. Deswegen bestehe gemäß § 2 IV AUB 88 an sich kein Versicherungsschutz.

Diese Klausel lautet:

"Nicht unter den Versicherungsschutz fallen:

...

IV. Krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen, gleichgültig, wodurch diese verursacht sind."

Nach Auffassung des Berufungsgerichts erfaßt dieser Leistungsausschluß auch den Fall, daß durch unfallbedingten Schreck Streßhormone ausgeschüttet werden, die einen Blutdruckanstieg auslösen, der dann den Gesundheitsschaden herbeiführt. Nach dem Zweck des Ausschlusses, eine zuverlässige Tarifkalkulation zu gewährleisten, genüge bloße Mitursächlichkeit des ausgeschlossenen Umstandes.

Ein Ausschluß der Deckung für (physische) Gesundheitsschäden mitverursacht durch (Streß-)Reaktionen benachteiligt nach Ansicht des Berufungsgerichts den Versicherten indes unangemessen im Sinne von § 9 Abs. 2 Nr. 2 AGBG (heute § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Denn solche Streßreaktionen seien normale körperliche Reaktionen, die unwillkürlich und automatisch abliefen und häufig im Zusammenhang mit einem Unfallgeschehen einträten. Der Versicherungsschutz aus einer Unfallversicherung entfiele daher regelmäßig, wenn derartige psychische Reaktionen zur Leistungsfreiheit führten.

Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil die Frage der Wirksamkeit des § 2 IV AUB 88 grundsätzliche Bedeutung habe, § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

II. 1. Die Voraussetzungen für die Gewährung der vereinbarten Invaliditätsentschädigung gemäß §§ 1, 7 I AUB 88 sind nicht im Streit. Der Kläger hat am 4. November 1993 einen Unfall im Sinne der AUB 88 erlitten, womit der Versicherungsfall eingetreten ist. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die für 50%ige Invalidität bedingungsgemäß festgelegte Leistungsverpflichtung der Beklagten bejaht.

Dabei gibt der vorliegende Fall keinen Anlaß, § 2 IV AUB 88 im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit dem AGB-Recht zu überprüfen. Auch kann offenbleiben, ob die Ansicht des Berufungsgerichts Bestand haben kann, für den vollständigen Leistungsausschluß genüge bereits die bloße Mitursächlichkeit unabhängig davon, in welchem Umfang psychische Reaktionen für die Gesundheitsschädigung kausal geworden sind (ablehnend Knappmann, VersR 2002, 1230; vgl. auch BGHZ 131, 15, 21 zu § 10 (5) AUB 61). Die vom Berufungsgericht gesehene Zulassungsfrage stellt sich nicht. Die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses liegen nicht vor; es fehlt bereits an einer mitwirkenden psychischen Reaktion.

2. § 2 IV AUB 88 bezieht sich mit seinem umfassend formulierten Leistungsausschluß für Gesundheitsschädigungen infolge psychischer Reaktionen sowohl auf Einwirkungen, die von außen über psychische Reaktionen wie Erschrecken erfolgen, als auch auf unfallbedingte psychische Fehlverarbeitungen (vgl. Prölss/Martin/Knappmann VVG 26. Aufl. § 2 AUB 88 Rdn. 40). Letztere sind hier unstreitig nicht gegeben.

Der vom Berufungsgericht nach sachverständiger Beratung festgestellte, zuletzt unstreitige und auch in der Revisionsinstanz nicht angegriffene Sachverhalt trägt aber seine Annahme nicht, psychische Reaktionen des Klägers auf das Unfallgeschehen hätten zu einer die Invalidität begründenden Gesundheitsstörung zumindest mit beigetragen; vielmehr fehlt es an einer solchen auch nur teilweise kausalen Reaktion überhaupt.

a) Der zu der Aortendissektion führende Blutdruckanstieg beruht auf der Ausschüttung von Streßhormonen einerseits und muskulären Reaktionen andererseits. Beides sind körperliche Reaktionen, die unwillkürlich und automatisch ablaufen. Das Berufungsgericht orientiert sich mit seiner Auffassung, § 2 IV AUB 88 solle auch für den von ihm hier angenommenen Fall gelten, daß als Folge eines Schrecks über das Unfallgeschehen Streßhormone freigesetzt werden, an der Rechtsprechung zu Schock-, Schreck- und Angstreaktionen (vgl. nur Senat aaO NJW 1972, 1233 m.w.N.). Dabei hat es sich den Blick dafür verstellt, daß - wie der Gutachter betont - bereits die durch den Verkehrsunfall mit seinen spezifischen Einzelabläufen ausgelöste Streßsituation selbst eine physiologische Reaktion des Körpers darstellt. Diese ist nicht von seiner Psyche beeinflußt, sondern physischer also körpereigener Genese. Der Kläger hat nach Erkennen des auf ihn zurollenden LKW-Rades mit der Vollbremsung angemessen und (psychisch) unauffällig reagiert. Die im Unfallverlauf liegenden, von ihm wahrgenommenen äußeren Reizfaktoren und nicht etwaige psychische Reaktionszusammenhänge haben die in der Hormonausschüttung liegende physiologische Anpassung des Organismus an die sich plötzlich verändernden Verkehrsverhältnisse bewirkt.

Mögliche, vom Sachverständigen nicht einmal erwähnte Schreckreaktionen, die auch dem Berufungsgericht zufolge ebensowenig steuerbar sein und nicht von einer Überempfindlichkeit zeugen sollen, wären bloße Begleiterscheinungen ohne eigene Auswirkungen auf die Invalidität (so auch Knappmann, aaO VersR 2002, 1230 und Schwintowski, aaO S. 396). Für eine theoretisch denkbare Verstärkung von krankhaften Störungen durch solche Begleitumstände gibt es keinen Anhalt.

b) Ungeachtet dessen scheitert der Leistungsausschluß auch daran, daß eine - unterstellte - psychische Reaktion durch Erschrecken nicht zu einer Gesundheitsschädigung geführt hat. Die durch das Unfallereignis ausgelöste, hormonell bedingte Streßsituation selbst ist noch keine von § 2 IV AUB vorausgesetzte krankhafte Störung; ein Krankheitswert ist damit nicht verbunden. Die blutdrucksteigernde Hormonausschüttung ist in dieser Situation - wie vorstehend ausgeführt - ein normaler physiologischer, mithin an sich gesunder Lebensvorgang zur bestmöglichen Bewältigung der Gefahrensituation. Dieser rein physische Vorgang hat seinerseits erst die krankhafte Störung einer Aortendissektion hervorgerufen. Es fehlt daher - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - auch an einem bedingungsgemäß erforderlichen Zusammenhang mit dem Invaliditätsschaden. Die Kausalkette ist, was auch die Revision übersieht, in jedem Fall durch den natürlichen physiologischen Schutzvorgang im Hormonhaushalt unterbrochen.

Ende der Entscheidung

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