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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 13.04.2006
Aktenzeichen: IX ZB 118/04
Rechtsgebiete: InsO


Vorschriften:

InsO § 5 Abs. 1
InsO § 14
InsO § 26 Abs. 1 Satz 1
Zu den Anforderungen an die Amtsermittlungspflicht des Insolvenzgerichts, wenn sich der Schuldner nach einem Gläubigerantrag dem Verfahren zu entziehen sucht.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

IX ZB 118/04

vom 13. April 2006

in dem Insolvenzeröffnungsverfahren

Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Dr. Fischer, die Richter Dr. Ganter, Raebel, Kayser und die Richterin Lohmann

am 13. April 2006

beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsmittel der weiteren Beteiligten werden der Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz vom 29. April 2004 und der Beschluss des Amtsgerichts Chemnitz vom 18. Dezember 2003 aufgehoben.

Die Sache wird - auch zur Entscheidung über die Kosten der Rechtsmittelverfahren - an das Amtsgericht Chemnitz zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 4.000 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Die weitere Beteiligte beantragte wegen rückständiger Gesamtsozialversicherungsbeiträge aus der Zeit von Februar 2002 bis Juli 2002 in Höhe von insgesamt 18.462,66 € zuzüglich Säumniszuschläge und Zinsen am 11. September 2002 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin. Schon am 15. August 2002 hatte die AOK wegen rückständiger Gesamtsozialversicherungsbeiträge aus der Zeit bis Juli 2002 in Höhe von insgesamt 53.051,97 € die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Die Verfahren wurden verbunden. Die AOK nahm ihren Antrag mit der Begründung wieder zurück, nach Aktenlage sei davon auszugehen, dass die Durchführung des Insolvenzverfahrens nicht möglich sei.

Das Insolvenzgericht hat den als zulässig angesehenen Insolvenzantrag der weiteren Beteiligten durch Beschluss vom 18. Dezember 2003 zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der weiteren Beteiligten blieb ohne Erfolg. Mit der Rechtsbeschwerde erstrebt diese eine Entscheidung des Insolvenzgerichts, durch die der Antrag auf Verfahrenseröffnung mangels Masse abgewiesen wird.

II.

Das statthafte (§ 6 Abs. 1, §§ 7, 34 Abs. 1 InsO, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und zulässige (§ 574 Abs. 2 ZPO) Rechtsmittel führt zur Aufhebung und Zurückverweisung an das Amtsgericht. Nach den bislang getroffenen Feststellungen liegt es nahe, dass die Voraussetzungen einer Ablehnung des Insolvenzantrags mangels Masse (§ 26 InsO) vorliegen. Deshalb durften die Vorinstanzen den als zulässig gewerteten Insolvenzantrag der weiteren Beteiligten nicht als unbegründet zurückweisen.

1. Das Landgericht hat ausgeführt: Eine Abweisung des Antrags mangels Masse setze voraus, dass ein Eröffnungsgrund festgestellt worden sei und die Ermittlungen ergäben, dass das Vermögen des Schuldners die Verfahrenskosten voraussichtlich nicht decken werde. Der Insolvenzantrag eines Gläubigers sei hingegen als unbegründet abzuweisen, wenn das Gericht außerstande sei, den Insolvenzgrund mit der für die Verfahrenseröffnung erforderlichen Sicherheit festzustellen. Ein "non liquet" gehe zu Lasten des Antragstellers. Dies gelte - bei ausgeschöpften Ermittlungsmöglichkeiten - auch bei flüchtigen Geschäftsführern der GmbH, eingesetzten Strohmännern und fehlenden Geschäftsunterlagen. Im Streitfall habe die Vorinstanz keine sicheren Feststellungen zum Vorliegen des Eröffnungsgrundes treffen können. Gleiches gelte für die ausreichende Kostendeckung. Wegen Unerreichbarkeit des letzten Geschäftsführers der Schuldnerin und im Hinblick auf den nicht bekannten Aufenthaltsort des früheren Geschäftsführers habe das Amtsgericht nicht feststellen können, ob der Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit tatsächlich gegeben sei und ob ausreichend Masse vorhanden sei, um die Kosten des Verfahrens zu decken.

2. Diese Begründung ist rechtlich nicht haltbar. Eine Entscheidung nach § 26 Abs. 1 InsO ist statthaft, wenn der Antrag - abgesehen von der fehlenden Massedeckung - begründet wäre (HK-InsO/Kirchhof, 4. Aufl. § 26 Rn. 18).

a) Das Insolvenzverfahren kann nur eröffnet werden, wenn der Insolvenzgrund - im Streitfall die Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) - zur Überzeugung des Insolvenzgerichts oder des an seine Stelle tretenden Gerichts der sofortigen Beschwerde (vgl. § 6 Abs. 1, § 34 InsO) feststeht. Das Beschwerdegericht ist nicht auf eine rechtliche Nachprüfung der Entscheidung des Insolvenzgerichts beschränkt. Im Anwendungsbereich des Verhandlungsgrundsatzes kann die sofortige Beschwerde auf neue Angriffs- und Verteidigungsmittel gestützt werden (vgl. § 571 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Im vorliegenden Fall, in dem das Landgericht den Insolvenzantrag der weiteren Beteiligten als zulässig angesehen hat, gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 14 Abs. 1 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 InsO). Die Amtsermittlungspflicht trifft auch das Beschwerdegericht. Das Landgericht musste deshalb eigene Feststellungen zum Eröffnungsgrund und zur Massearmut treffen. Dies hat es unterlassen. Schon deshalb kann die landgerichtliche Entscheidung keinen Bestand haben.

b) Das Landgericht hat die Würdigung des Insolvenzgerichts bestätigt, dass Feststellungen zum Vorliegen des Eröffnungsgrundes an der mangelnden Erreichbarkeit des derzeitigen Geschäftsführers der Schuldnerin sowie des früheren Geschäftsführers scheiterten. Diese Begründung ist - ungeachtet der eigenen Ermittlungspflichten des Beschwerdegerichts - nicht tragfähig, weil sie den Sachvortrag der antragstellenden Gläubigerin zur Zahlungsunfähigkeit ausblendet, was die Rechtsbeschwerde auch rügt.

aa) Die Gläubigerin hat im Beschwerdeverfahren geltend gemacht, die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin ergebe sich aus den im Insolvenzantrag der AOK dargelegten Zahlungsrückständen in Verbindung mit den Rückständen, auf die sie ihren Eröffnungsantrag gestützt habe. Seit Herbst 2002 sei keine Unternehmenstätigkeit mehr festzustellen. Bis Februar 2004 seien die rückständigen Gesamtsozialversicherungsbeiträge, Säumniszuschläge, Kosten und Gebühren für den Zeitraum von März 2002 bis August 2002 auf einen Betrag von 48.554,69 € angewachsen. Der Beitragsrückstand umfasse sechs Monatsbeiträge. In ihm seien allein vorenthaltene Arbeitnehmeranteile für die Monate März 2002 bis August 2002 in Höhe von 19.892,93 € enthalten.

Hierauf geht das Landgericht mit keinem Wort ein. Diese Tatsachen sind in Verbindung mit den weiteren aktenkundigen Umständen, insbesondere den mehrfachen Geschäftsführerwechseln im zeitlichen Zusammenhang mit der Nichterfüllung der Abführungspflicht und der fortdauernden Nichterreichbarkeit der Gesellschaft, zumindest ein starkes Beweisanzeichen, welches auf die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin hindeutet. Anhaltspunkte dafür, dass gegen die Forderungen der Einzugsstelle sachliche Einwendungen bestehen oder es den Organen der Schuldnerin nur an dem Zahlungswillen fehlt, sind nicht ersichtlich. Hiergegen spricht auch die Strafbewehrung eines erheblichen Teils der rückständigen Forderungen (§ 266a StGB). Desweiteren liegt ein an das Insolvenzgericht gerichtetes Schreiben der Ehefrau eines der vormaligen Arbeitnehmer der Schuldnerin vor, der in dem Rückstandszeitraum keinen Lohn erhalten hat. In dem Schreiben wird dem Insolvenzgericht zur Kenntnis gebracht, dass die Lohnsteuerkarte schließlich - ohne Eintragungen - mit dem Hinweis zurückgereicht worden sei, die Schuldnerin existiere nicht mehr.

bb) Nach § 14 Abs. 2 InsO ist dem Schuldner allerdings vor der Entscheidung über den Gläubigerantrag rechtliches Gehör zu gewähren. Dies gilt auch, wenn der Antrag nach § 26 InsO mangels Masse abgewiesen werden soll (vgl. BGH, Beschl. v. 15. Januar 2004 - IX ZB 478/02, ZIP 2004, 724 f; FK-InsO/Schmerbach, 4. Aufl. § 26 Rn. 59; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 14 Rn. 40; MünchKomm-InsO/Haarmeyer, § 26 Rn. 24; Uhlenbruck, InsO 12. Aufl. § 14 Rn. 63 und § 26 Rn. 26). Ob der Schuldner sein Recht auf Gehör auch ausübt, steht ihm frei. Der weitere Fortgang des Verfahrens ist nicht davon abhängig, dass der Schuldner sich tatsächlich geäußert hat. Dies ergibt sich schon aus den allgemeinen Regeln des Prozessrechts. Überdies kann im Anwendungsbereich des § 10 InsO eine vorgeschriebene Anhörung des Schuldners sogar unterbleiben. Dies verdeutlicht zusätzlich, dass ein Insolvenzverfahren grundsätzlich eröffnet oder die Eröffnung mangels Masse abgelehnt werden kann, obwohl der Schuldner zu dem Eröffnungsantrag des Gläubigers nicht Stellung genommen hat.

Es ist deshalb rechtsfehlerhaft, die mangelnde Überzeugungsbildung hinsichtlich der Zahlungsunfähigkeit und der Massearmut an die Unerreichbarkeit der für die Schuldnerin handelnden Personen zu knüpfen, ohne zugleich Zweifel an der von der beteiligten Gläubigerin substantiiert dargelegten Tatsachengrundlage zu äußern. Auch deshalb kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben.

III.

Eine eigene abschließende Entscheidung ist dem Senat nicht möglich; daher ist die Sache zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

1. Vor einer erneuten Entscheidung über den Eröffnungsantrag der beteiligten Gläubigerin wird zu prüfen sein, ob sich hinsichtlich der Anschrift des Geschäftsführers der Schuldnerin neue aussichtsreiche Ermittlungsgesichtspunkte ergeben. Sollte dies nicht der Fall sein, wird das Insolvenzgericht erwägen müssen, ob die Anhörung des Geschäftsführers nach § 10 InsO entbehrlich ist. Da diese Vorschrift nicht auf die Gründe der Abwesenheit abstellt, darf - auch bei Flucht - von der Anhörung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 InsO nur abgesehen werden, wenn sie das Verfahren übermäßig verzögern, also den Verfahrenszweck nicht unwesentlich beeinträchtigen würde (vgl. FK-InsO/Schmerbach, aaO § 10 Rn. 8; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 10 Rn. 7; MünchKomm-InsO/Ganter, § 10 Rn. 14).

2. In der Sache selbst wird das Insolvenzgericht zum einen erneut prüfen müssen, ob die Schuldnerin zahlungsunfähig ist (§ 17 Abs. 1 InsO). Die Überzeugung von der Zahlungsunfähigkeit kann nach § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO auch mittelbar durch Indizien gewonnen werden. Hierfür genügt regelmäßig eine Zahlungseinstellung, die sich wiederum aus den Umständen ergeben kann. Dazu gehören konkludente Verhaltensweisen des Schuldners wie die Schließung seines Geschäftsbetriebes ohne ordnungsgemäße Abwicklung, die Flucht vor seinen Gläubigern, die Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen oder Löhnen an mehr als einem Zahltermin hintereinander oder die Häufung von Pfändungen oder sonstigen Vollstreckungsmaßnahmen (vgl. HK-InsO/Kirchhof, aaO § 17 Rn. 32, 34, 37). Bei der Feststellung des Eröffnungsgrundes reicht ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit aus (vgl. OLG Stuttgart NZI 1999, 491, 492; FK-InsO/Schmerbach, aaO § 26 Rn. 56 a; HK-InsO/Kirchhof, § 16 Rn. 9).

Desweiteren ist erforderlich, dass keine für die Verfahrenseröffnung ausreichende freie Vermögensmasse vorhanden ist. Es genügt, dass dies wahrscheinlich ist, weil § 26 InsO nur voraussetzt, dass voraussichtlich die Kosten nicht gedeckt sind (vgl. OLG Karlsruhe ZInsO 2002, 247; FK-InsO/Schmerbach, aaO § 26 Rn. 56 a; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 26 Rn. 4).

3. Die Zurückverweisung erfolgt an das Insolvenzgericht, weil schon dieses den zu § 26 InsO aufgeworfenen Fragen hätte nachgehen müssen (vgl. BGHZ 160, 176, 185).

Ende der Entscheidung

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