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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 23.11.2000
Aktenzeichen: IX ZB 83/00
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 233 Fd
ZPO § 233 Fd

a) Weist ein Rechtsanwalt eine im Umgang mit Fristsachen erfahrene und erprobte Bürokraft an, eine von ihm berechnete Rechtsmittelfrist in den Fristenkalender einzutragen, so trifft ihn kein Verschulden, wenn die Bürokraft die Frist aufgrund einer erstmaligen Eigenmächtigkeit unrichtig einträgt.

b) Erhält ein Rechtsanwalt Auftrag zur Einlegung der Berufung, so kann er sich grundsätzlich darauf verlassen, daß ihm die Handakten zu der von ihm verfügten Frist vorgelegt werden.

BGH, Beschluß vom 23. November 2000 - IX ZB 83/00 - OLG München LG Passau


BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

IX ZB 83/00

vom

23. November 2000

in dem Rechtsstreit

Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Richter Dr. Kreft, Stodolkowitz, Kirchhof, Dr. Fischer und Raebel am 23. November 2000

beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluß des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 19. Juni 2000 aufgehoben.

Der Beklagten wird wegen der Versäumung der Berufungsfrist gegen das Urteil des Landgerichts Passau - 1. Zivilkammer - vom 28. Oktober 1999 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Beschwerdewert: 47.940,58 DM.

Gründe:

I.

Die Beklagte legte am 27. Dezember 1999 gegen das Urteil des Landgerichts Passau vom 28. Oktober 1999, zugestellt am 10. November 1999, bei dem Oberlandesgericht München Berufung ein. Das Oberlandesgericht München hat durch den angefochtenen Beschluß den Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zurückgewiesen und zugleich ihre Berufung als unzulässig verworfen.

II.

Die gemäß § 567 Abs. 4 Satz 2, § 577 Abs. 2, § 519b Abs. 2, §§ 547, 238 Abs. 2 ZPO zulässige sofortige Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen, die beantragte Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist zu gewähren, liegen nach § 233 ZPO vor.

1. Die Beklagte hat glaubhaft gemacht:

Das Mandat ihres seinerzeitigen Prozeßbevollmächtigten sei auf die erste Instanz beschränkt gewesen. Die Berufungsfrist sei von der als Büroangestellte tätigen Ehefrau ihres Verkehrsanwaltes, des gegenwärtigen Vertreters der Beschwerdeführerin, eigenmächtig nach dortigem Eingang des erstinstanzlichen Urteils - 16. November 1999 - berechnet und notiert worden, obwohl der Rechtsanwalt per Handzettel das richtige Fristende nach dem Eingang beim Prozeßbevollmächtigten - 10. Dezember 1999 - vorgegeben habe.

Die Ehefrau des Verkehrsanwaltes sei eine geschulte und zuverlässige Kraft, die im Büro ihres Ehemannes den Fristenkalender annähernd drei Jahre bei regelmäßiger Kontrolle ohne Beanstandung geführt habe.

Am 2. Dezember 1999 habe sie, die Beklagte, den Verkehrsanwalt fernmündlich beauftragt, Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil einzulegen. Im Büro des Verkehrsanwaltes sei dies in der Akte vermerkt und geprüft worden, ob die Berufungsfrist notiert gewesen sei. Nicht geprüft worden sei dagegen, ob die Berufungsfrist auch richtig notiert war. Der Irrtum sei daher erst bei Aktenvorlage an den Verkehrsanwalt auf Vorfrist - 13. Dezember 1999 - bemerkt worden.

2. Im Verfahren der sofortigen Beschwerde gegen den Verwerfungsbeschluß ist auch die Frage der Wiedereinsetzung gegen die Fristversäumung nachzuprüfen, wenn das Berufungsgericht - wie hier - über den Wiedereinsetzungsantrag nicht gesondert befunden hat (vgl. BGH, Beschl. v. 12. Juli 1967 - IV ZB 21/67, NJW 1968, 107; v. 7. Oktober 1981 - IVb ZB 825/81, NJW 1982, 887). Das Wiedereinsetzungsgesuch der Beklagten war frist- und formgerecht (§§ 234, 236 ZPO). Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, daß das Wiedereinsetzungsgesuch der Beklagten unbegründet und ihre Berufung demgemäß zu verwerfen sei.

a) Der erstinstanzliche Prozeßbevollmächtigte der Beklagten hatte seine Aufgaben mit der Übersendung des Landgerichtsurteils und Mitteilung des Zustellungszeitpunktes an den Verkehrsanwalt pflichtgemäß erledigt (vgl. BGH, Beschl. v. 26. September 1996 - V ZB 25/96, NJW-RR 1997, 55 m.w.N.).

b) Die Beklagte hat auch das Verschulden ihres Verkehrsanwaltes zu vertreten; er ist Bevollmächtigter i.S.d. § 85 Abs. 2 ZPO (BGH, Beschl. v. 16. Juni 1982 - IVa ZB 2/82, NJW 1982, 2447; v. 28. März 1990 - VIII ZB 7/90, VersR 1990, 801; v. 10. Oktober 1995 - XI ZB 17/95, VersR 1996, 606). Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes ist jedoch nicht festzustellen, daß die Fristversäumnis auf einem Verschulden des Verkehrsanwaltes der Beschwerdeführerin beruht.

aa) Der Verkehrsanwalt der Beklagten hatte mit der seiner Ehefrau erteilten Einzelweisung, die Berufungsfrist auf den 10. Dezember 1999 im Fristenkalender zu notieren, die Wahrung der Berufungsfrist hinreichend gewährleistet (vgl. etwa BGH, Beschl. v. 18. Februar 1998 - VIII ZB 1/98, NJW-RR 1998, 932; v. 27. Oktober 1998 - IX ZB 20/98, BGHR ZPO § 233 - Einzelanweisung 3). Daß die Ehefrau - eine bis dahin zuverlässige und regelmäßig überwachte Bürokraft - die anwaltlich verfügte Frist in bewußter Abweichung von der Weisung unrichtig (16. Dezember 1999) in den Fristenkalender eintrug und dementsprechend auch die - nach einer allgemeinen Weisung drei Tage vor Ablauf der Berufungsfrist zu vermerkende - Vorfrist falsch (auf den 13. Dezember 1999) notierte, ist dem Verkehrsanwalt nicht als Verschulden anzulasten. Mit einer solchen bislang nicht vorgefallenen Eigenmächtigkeit brauchte er nicht zu rechnen (vgl. BAG NJW 82, 72 Nr. 33 LS; auch BGH, Urt. v. 11. Juli 1958 - VI ZR 150/57, NJW 1968, 1590).

bb) Das Berufungsgericht ist aufgrund einer eidesstattlichen Versicherung des Verkehrsanwalts der Beklagten davon ausgegangen, diesem seien bei Eingang des Berufungsauftrages am 2. Dezember 1999 die Akten vorgelegt worden; es hat gemeint, er hätte deshalb nicht nur prüfen müssen, ob die Berufungsfrist überhaupt, sondern auch, ob sie zutreffend eingetragen worden sei. Dem ist nicht zu folgen.

(1) In der eidesstattlichen Versicherung des Verkehrsanwalts vom 3. April 2000 heißt es:

"Am 2.12.1999 wurde ich von der Beklagten telefonisch beauftragt, Berufung gegen das Urteil einzulegen. Dies wurde in der Akte vermerkt. Die Eintragung der Frist wurde von mir überprüft, nicht aber die Frist an sich."

Aus dieser Erklärung geht nur hervor, daß der Verkehrsanwalt bei Erhalt des Berufungsauftrages geprüft hat, ob die Berufungsfrist schon notiert war. Der eidesstattlichen Versicherung kann nicht entnommen werden, daß ihm bei dieser Gelegenheit auch die Akte vorgelegt wurde und er persönlich den erteilten Berufungsauftrag dort vermerkt hat. Dies ist nach dem Beschwerdevorbringen vielmehr durch eine Bürokraft geschehen.

Die Folgerung des Berufungsgerichts, der Verkehrsanwalt der Beklagten habe die Aktenvorlage bei Erhalt des Berufungsauftrages zum Anlaß nehmen müssen, die Richtigkeit der Fristnotierung zu überprüfen, entbehrt mithin der Grundlage.

(2) Im übrigen trifft auch die Annahme des Berufungsgerichts nicht zu, der Verkehrsanwalt hätte bei einer Aktenvorlage prüfen müssen, ob die Berufungsfrist richtig eingetragen worden sei.

Diese Notwendigkeit hätte nur dann bestanden, wenn dem Anwalt die Akten eigens zur Bearbeitung der Berufung vorgelegt worden wären oder er die Handakten bis zu einem Zeitpunkt selbst im Besitz gehabt hätte, der entweder mit dem Ablauf der Berufungsfrist zusammenfiel oder in dessen unmittelbarer Nähe lag, so daß sich ihm die Notwendigkeit der Fristenprüfung hätte aufdrängen müssen (vgl. BGH, Beschl. v. 30. September 1963 - VIII ZB 16/63, VersR 1963, 1223, 1224; Urt. v. 27. September 1967 - Ib ZR 69/66, VersR 1967, 1098, 1099; Beschl. v. 9. März 1977 - VIII ZB 47/76, VersR 1977, 573; v. 12. Dezember 1984 - III ZB 28/84, VersR 1985, 269, 270; v. 12. November 1986 - IVb ZB 93/86, VersR 1987, 463; v. 31. Januar 1990 - VIII ZB 44/89, VersR 1990, 543, 544; v. 21. März 1990 - XII ZB 131/89, VersR 1990, 119, 120; v. 19. Februar 1991 - VI ZB 2/91, NJW-RR 1991, 827; v. 11. Dezember 1991 - VIII ZB 38/91, NJW 1992, 841; v. 30. April 1998 - VII ZB 5/97, NJW 1998, 2676, 2677; v. 17. Juni 1999 - IX ZB 32/99, NJW 1999, 2680). An diesen Voraussetzungen fehlt es. Bei Eingang des Berufungsauftrages am 2. Dezember 1999 bestand für den Verkehrsanwalt noch kein Anlaß, an den Ablauf der Berufungsfrist zu denken. Es traf ihn mithin weder bei einer Aktenvorlage, noch - erst recht - ohne eine solche ein Verschulden, wenn er sich nach den bisherigen Erfahrungen mit seinem Büropersonal darauf verließ, daß ihm die Handakten zu der von ihm verfügten Frist (oder einer entsprechenden Vorfrist) vorgelegt würden (vgl. BGH, Beschl. v. 20. September 1963 aaO).



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