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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 16.12.2004
Aktenzeichen: IX ZR 295/00
Rechtsgebiete: BGB, SGG
Vorschriften:
BGB § 249 A | |
BGB § 252 | |
BGB § 675 | |
SGG § 86a Abs. 1 |
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VERSÄUMNISURTEIL
Verkündet am: 16. Dezember 2004
in dem Rechtsstreit
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. Oktober 2004 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Fischer, die Richter Raebel, Vill, Cierniak und die Richterin Lohmann
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Beklagten wird das Grundurteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Juni 2000 aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger nahm als niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin seit Oktober 1980 an der kassen- und vertragsärztlichen Versorgung im Zuständigkeitsbereich des Berufungsausschusses für Ärzte in Schleswig-Holstein teil. Wirtschaftlichkeitsprüfungen in seiner Praxis führten seit 1984 wiederholt zu bestandskräftigen Honorarkürzungen, einer Ermahnung und zwei Verweisen mit Geldbußen von jeweils 1.000 DM. Ab 1989 setzte sich der Kläger gegen die ihm auferlegten Honorarkürzungen teilweise erfolgreich zur Wehr.
Durch Bescheide vom 6. Mai 1992 wurden dem Kläger die Berechtigung zur kassenärztlichen Versorgung entzogen und die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis widerrufen. Die hiergegen gerichteten Widersprüche wiesen der Berufungsausschuß für Ärzte in Schleswig-Holstein und die Berufungskommission für die Ersatzkassenpraxis, die sich später mit dem Berufungsausschuß für Ärzte in Schleswig-Holstein vereinigte, durch Bescheide vom 28. Juli 1992 zurück. Die Anträge der Kassenärztlichen Vereinigung und des AOK-Landesverbandes auf Anordnung des Sofortvollzuges dieser Entscheidungen lehnten die Widerspruchsausschüsse ab.
Der Beklagte vertrat den Kläger anwaltlich in den vorbezeichneten Widerspruchsverfahren sowie in der im Anschluß hieran erhobenen sozialgerichtlichen Anfechtungsklage. Diese blieb in den Tatsacheninstanzen erfolglos. Die vom Beklagten am 28. August 1996 verspätet begründete Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hatte das Bundessozialgericht bereits am 13. August 1996 verworfen. Die beantragte Wiedereinsetzung des Klägers in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist lehnte das Bundessozialgericht am 29. November 1996 ab.
Nach rechtskräftigem Verlust seiner Zulassungen stellte der Kläger seine Beteiligung an der kassen- und vertragsärztlichen Versorgung ein. Mit der Begründung, die Anwaltsfehler des Beklagten hätten einen Erfolg des sozialgerichtlichen Verfahrens verhindert, wenigstens aber den Mißerfolg um ein halbes Jahr beschleunigt, hat der Kläger erstinstanzlich Schadensersatz für den entgangenen Gewinn aus kassen- und vertragsärztlicher Tätigkeit für die Monate September 1996 bis Februar 1997 verlangt, mit seiner Anschlußberufung auch für den Monat März 1997.
Der Beklagte ist der Ansicht, ihm sei eine Pflichtverletzung nicht vorzuwerfen und das Sozialgerichtsverfahren des Klägers sei aussichtlos gewesen.
Das Landgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat sie dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dies beziehe sich auf die vorzeitige Rechtskraft der Widerrufsentscheidungen im August 1996, die bei pflichtmäßigem Verhalten des Beklagten mindestens bis zum 19. März 1997 hinausgeschoben worden wäre. In dieser Zeit hätte der Kläger andernfalls seine Tätigkeit als Kassen- und Vertragsarzt gewinnbringend weiterführen können. Die genauere zeitliche Eingrenzung der ersatzfähigen Gewinne und ihre Feststellung im einzelnen bleibe dem Betragsverfahren vorbehalten. Dies gelte auch für die Hilfsaufrechnung des Beklagten mit Vergütungsansprüchen und die Frage, ob der Kläger seine Schadensminderungspflicht verletzt habe. Letzteres sei jedoch zu verneinen, soweit der Kläger durch Aufnahme eines Partners oder Praxisveräußerung den Lauf des sozialgerichtlichen Verfahrens habe beeinflussen können und für die tatsächliche Aufgabe der Kassen- und Vertragsarzttätigkeit selbst verantwortlich sei.
Entscheidungsgründe:
Über die Revision ist nach den §§ 555, 331 ZPO durch Versäumnisurteil, jedoch aufgrund sachlicher Prüfung, zu entscheiden (BGHZ 37, 79, 81 ff), weil der Revisionsbeklagte in der Instanz nicht vertreten war.
I.
Das Rechtsmittel ist begründet.
1. Ohne Erfolg wendet sich die Revision allerdings gegen die Zulässigkeit des ergangenen Grundurteils. Das Berufungsgericht hat die Verurteilung des Beklagten in irgendeinem Umfang trotz der Hilfsaufrechnung mit Vergütungsansprüchen und möglicher Verletzung der Schadensminderungspflicht des Klägers bei und nach der Einstellung seiner Kassenarzttätigkeit "mit Sicherheit" erwartet. Unter diesen Umständen brauchte es sich für den Erlaß des Grundurteils mit beiden Einwendungen nicht weiter zu befassen (vgl. BGH, Urt. v. 31. Januar 1996 - VIII ZR 243/94, BGHR ZPO § 304 Abs. 1 Abgrenzung 1 - zur Aufrechnung; BGHZ 141, 129, 136 - zum Mitverschulden).
Ein Vorbehalt der Einwendungen nicht nur - wie hier - in den Entscheidungsgründen, sondern bereits im Ausspruch des Grundurteils (dann Vorbehalts- und Grundurteil) hätte nach § 302 Abs. 1 ZPO nur erforderlich sein können, wenn das Grundurteil ebenso wie ein entsprechendes Endurteil im Nachverfahren möglicherweise hätte abgeändert werden müssen, so daß es als reines Grundurteil nicht ergehen durfte (vgl. BGHZ 11, 63, 65 f; BGH, Urt. v. 12. Januar 1994 - XII ZR 167/92, NJW-RR 1994, 379, 380 unter 4.). Das hat das Berufungsgericht aufgrund seiner tatrichterlichen Schadensprognose entsprechend § 287 ZPO verfahrensfehlerfrei ausgeschlossen.
2. Das Berufungsurteil kann jedoch wegen seiner unrichtigen Auffassung des Schadensbegriffs nicht bestehen bleiben. Denn bisher steht nicht fest, ob der Kläger durch anwaltliches Verschulden des Beklagten einen Schaden im Rechtssinne erlitten hat.
a) Das Berufungsgericht hat dem Kläger unabhängig von dem späteren Schicksal seiner sozialgerichtlichen Anfechtungsklage Schadensersatz für die Folgen seines vorzeitigen Unterliegens zugesprochen. Dem Kläger seien Gewinne aus fortgesetzter Betätigung als Kassen- und Vertragsarzt entgangen, solange ohne den Anwaltsfehler des Beklagten der Anfechtungsprozeß und damit die rechtlich mögliche Berufsausübung mindestens noch gedauert haben würde. Das hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
b) Der Bundesgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß der Verlust einer tatsächlichen oder rechtlichen Position, deren Erhalt der Geschädigte nach der Rechtsordnung nicht beanspruchen kann, keinen ersatzfähigen Schaden darstellt (BGHZ 72, 328, 330 ff; 124, 86, 95 f; 125, 27, 34; 145, 256, 262). Deshalb ist auch der Nachteil alsbaldiger Vollstreckung, den eine unterlegene Partei dadurch erleidet, daß ein von ihr beabsichtigtes, sachlich aussichtsloses Rechtsmittel durch ein Versehen des Prozeßbevollmächtigten versäumt, nicht ordnungsgemäß eingelegt oder verspätet begründet wird, nicht als Schaden im Rechtssinne anzusehen (vgl. RGZ 162, 65, 68 f; BGH, Urt. v. 6. Juli 1989 - IX ZR 75/88, WM 1989, 1826, 1828 unter 3.).
Bisher ist noch nicht entschieden, ob dieser Grundsatz auch für die Vollziehbarkeit eines belastenden Verwaltungsaktes eingreift, gegen den mit aufschiebender Wirkung (§ 86a Abs. 1 SGG; § 80 Abs. 1 VwGO) die sozial- oder verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage erhoben worden ist. Im Streitfall hatten die Widerspruchsausschüsse Anträge auf Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG abgelehnt. Jedoch gewährt dieser einstweilige Rechtsschutz eine Fortdauer des bisherigen Rechtsstandes - hier der Berufsausübung als Kassenarzt - nur für die Dauer der gerichtlichen Hauptsache. Die aufschiebende Wirkung seiner Rechtsverfolgung schützt den Anfechtungskläger nicht davor, daß die von ihm betriebene Hauptsache und damit die aufschiebende Wirkung ein beschleunigtes Ende findet.
Auch bei der Anfechtung eines Verwaltungsaktes hat der Kläger nur ein schützenswertes Interesse an einer richtigen Entscheidung, allenfalls noch an einer nicht unangemessen verzögerten Entscheidung, nicht jedoch an einer Verlängerung des Verfahrens um des bloßen Zeitgewinns Willen. Wehrt sich der Kläger im Endergebnis zu Unrecht gegen den Widerruf seiner kassen- und vertragsärztlichen Zulassungen, sind auch die Folgen der aufschiebenden Wirkung seiner Anfechtungsklage nur ein Reflex der Prozeßdauer, an deren Verlängerung kein schützenswertes Interesse besteht. Es kommt daher auch nicht darauf an, daß der Kläger wegen der einstweiligen Behauptung seines Rechtsstandes, anders als im Anwendungsbereich des § 945 ZPO, der Gegenpartei nicht zum Schadensersatz verpflichtet ist. Die abstrakte Schadensersatzverpflichtung gemäß § 945 ZPO unterstreicht nur, daß einstweiliger Rechtsschutz, der nach dem Ergebnis der Hauptsache von Anfang an ungerechtfertigt war, für die begünstigte Partei auch den hierdurch erzielten Vermögensvorteil im Verhältnis zum Gegner nicht rechtfertigt. Dann kann aber der Rechtsanwalt, der den ohnehin unabwendbaren Mißerfolg seiner Prozeßpartei durch einen Anwaltsfehler lediglich beschleunigt hat, deswegen nicht zum Ersatz des Beschleunigungsschadens verpflichtet sein.
Danach kann im Streitfall offenbleiben, inwieweit der Rechtsanwalt im Prozeß überhaupt um Zeitgewinn kämpfen muß, wenn ihm - wie hier behauptet - das besondere Interesse seines Auftraggebers daran bekannt ist. Denn die Verletzung einer solchen dienstvertraglichen Pflicht hätte jedenfalls keine schadensersatzrechtliche Folge. Die allgemeine Pflicht des Rechtsanwalts zur frist- und formgerechten Begründung eines weisungsgemäß eingelegten Rechtsmittels, deren Verletzung dem Beklagten vorgeworfen wird, soll die Partei nur vor dem ungerechtfertigten Mißerfolg ihrer Klage schützen, nicht indes vor dem beschleunigten Mißerfolg, der von Rechts wegen ohnehin eintreten mußte.
II.
Die Klage kann mangels einer Ersatzpflicht des Beklagten für den beschleunigten Mißerfolg noch nicht nach § 563 Abs. 3 ZPO abgewiesen werden; denn sie ist auch auf den Vorwurf gestützt, daß der Beklagte den Mißerfolg des Vorprozesses zu vertreten habe (§§ 276, 278 BGB). Hierzu sind weiterer Vortrag des Klägers und gegebenenfalls ergänzende Feststellungen nötig.
1. Es bedarf keiner Prüfung, ob die Anspruchsgründe des schuldhaft beschleunigten Prozeßverlustes und des verschuldeten Prozeßverlustes hier im Verhältnis der haupt- und hilfsweisen Anspruchshäufung (§ 260 ZPO) stehen, oder ob es sich statt dessen nur um die unselbständige Haupt- und Hilfsbegründung desselben prozessualen Anspruchs handelt. Denn auch ein wegen Zuerkennung des Hauptanspruchs dem Grunde nach vom Berufungsgericht nicht beschiedener Hilfsanspruch fällt allein durch die Rechtsmitteleinlegung des Beklagten der Rechtsmittelinstanz an. Dies ist für das Berufungsverfahren allgemein anerkannt (vgl. BGHZ 41, 38, 39 f; BGH, Urt. v. 20. September 2004 - II ZR 264/02, z.V.b.), gilt aber auch für das Revisionsverfahren (vgl. BGH, Urt. v. 17. September 1991 - XI ZR 256/90, NJW 1992, 112, 113 unter II. 3. a; v. 20. September 1999 - II ZR 345/97, NJW 1999, 3779, 3780).
2. Der Beklagte hat die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers in dem sozialgerichtlichen Kassenarztzulassungsstreit schuldhaft verursacht. Er hat den Rechtsstreit des Klägers gegen die Entziehung seiner Kassenarztzulassung und Beteiligung an der vertragsärztlichen Versorgung (vgl. § 95 Abs. 6 und 8 SGB V in der bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Fassung) aber möglicherweise auch in einem anderen Punkt nicht mit der erforderlichen Sorgfalt geführt.
Im Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 27. April 1994 ist zutreffend darauf hingewiesen worden, daß die Entscheidungen gegen den Beklagten in den durchgeführten Verfahren der Wirtschaftlichkeitsüberprüfung keine Tatbestandswirkung (oder Feststellungswirkung) für die Unwirtschaftlichkeit als Grund der verfügten Prüfabstriche (Honorarkürzungen) entfalten. Hiermit war also auch für den Entziehungsrechtsstreit noch nicht bestandskräftig festgestellt, daß und inwieweit der Kläger tatsächlich in seiner Behandlung von Kassenpatienten unwirtschaftlich gehandelt hatte. Überschreitet ein Kassenarzt in seiner Praxis die herangezogenen Fallkostendurchschnitte, so kann er dafür den Rechtfertigungsbeweis führen, indem er die statistische Vergleichsgrundlage angreift oder abweichende eigene Leistungsbedingungen nachweist (vgl. dazu etwa E. Baader, Beweiswert und Beweisfolgen des statistischen Unwirtschaftlichkeitsbeweises im Kassenarztrecht, 1985, S. 19 ff; Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht, 1994, Rn. 638 bis 690).
Der Kläger hat in dem Sozialgerichtsverfahren gegen die Entziehung seiner Zulassungen in dieser Richtung pauschal Einwände erhoben. Der Beklagte hatte zu prüfen, ob diese Einwände bei entsprechender Vertiefung Aussicht auf Erfolg boten. Das hing von den Einzelheiten des Sachverhaltes ab und läßt sich mit den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen. Das Berufungsgericht wird daher der Frage nachgehen müssen, ob für den Beklagten Veranlassung bestand, hierzu Beweisanträge für die weitere Amtsermittlung zu stellen. Die Frage ist zu bejahen, wenn durch Angriff auf die angenommene anhaltende Verletzung des Wirtschaftlichkeitsgebots der Vorwurf fehlender Eignung des Klägers für eine weitere Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung entkräftet und damit auch das gestörte Vertrauensverhältnis zur kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenkassen wiederhergestellt worden wäre. Die Zurückverweisung gibt den Parteien Gelegenheit, hierzu ergänzend vorzutragen.
Hätte nach den weiteren Feststellungen des Berufungsgerichts das Rechtsmittel des Klägers an das Landessozialgericht Erfolg haben müssen, was sich nach der rechtlichen Beurteilung des Regreßrichters entscheidet (vgl. BGHZ 133, 110, 111; 145, 256, 260; st. Rspr.), muß der Beklagte den eingetretenen Schaden ersetzen. Der Beklagte haftet unter dieser Voraussetzung selbst dann, wenn nach der ergangenen Entscheidung des Landessozialgerichts die Klage nicht mehr durch eine rechtzeitig begründete Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundessozialgericht hätte gerettet werden können. Hätte der Beklagte dagegen bei fehlerfreier Verfahrensführung und Sachbeurteilung des Landessozialgerichts die Berufung des Klägers nicht gewinnen können, ändert sich daran auch nichts im Falle einer Zurückverweisung durch das Bundessozialgericht. Eine Entscheidung zugunsten des Klägers in der Sache selbst kam im sozialgerichtlichen Revisionsrechtszug nicht in Betracht.
Ende der Entscheidung
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