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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 03.11.2005
Aktenzeichen: IX ZR 35/05
Rechtsgebiete: InsO


Vorschriften:

InsO § 129
InsO § 131 Abs. 1 Nr. 1
Aus der Richtlinie 80/987/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers vom 28. Oktober 1980 kann eine Sonderstellung des Sozialversicherers im Rahmen der Insolvenzanfechtung eindeutig nicht hergeleitet werden.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

IX ZR 35/05

vom 3. November 2005

in dem Rechtsstreit

Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Dr. Fischer, die Richter Raebel, Kayser, Cierniak und die Richterin Lohmann

am 3. November 2005

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 27. Januar 2005 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 36.170,69 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig (§ 544 ZPO), hat aber keinen Erfolg. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO).

1. Die Revision ist nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Das Berufungsgericht ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zutreffend davon ausgegangen, dass Beitragszahlungen des Schuldners an einen Sozialversicherungsträger die Gläubigergesamtheit auch insoweit benachteiligen, als sie den Arbeitnehmeranteil betreffen (vgl. BGHZ 149, 100, 104 ff; 157, 350, 358 f; 161, 315 = ZIP 2005, 314, 315; BGH, Urt. v. 10. Juli 2003 - IX ZR 89/02, ZIP 2003, 1666, 1667 f). Die gegenteilige Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Dresden (ZIP 2003, 360, 362 f; aufgehoben durch BGH, Urt. v. 18. April 2005 - II ZR 61/03, WM 2005, 1180) ist überholt (vgl. BGH, Urt. v. 10. Juli 2003, aaO S. 1668). Eine nochmalige Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Einheitlichkeitssicherung wäre nur erforderlich, wenn wegen des Fehlens einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung zu bislang nicht behandelten Punkten ein Bedürfnis für eine abschließende Klärung bestände. Dies ist ersichtlich nicht der Fall. In dem angefochtenen Urteil werden die vom Bundesgerichtshof zur objektiven Gläubigerbenachteiligung bei Zahlungen an die Sozialkassen entwickelten Rechtsgrundsätze zutreffend angewandt. Unklarheiten bestanden für das Gericht nicht.

Die von der Nichtzulassungsbeschwerde hervorgehobene Divergenz zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts besteht nicht. Dessen Beschluss vom 7. März 2001 (GS 1/00, ZIP 2001, 1929) befasst sich mit der Frage, ob dem Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber die gesetzlichen Verzugszinsen aus dem Bruttoentgelt oder lediglich aus dem Betrag zustehen, der um die vom Arbeitgeber einzubehaltenden Steuern und Beiträge gemindert ist. Wenn in diesem Zusammenhang ausgeführt wird, der Arbeitnehmeranteil an den Sozialversicherungsbeiträgen werde wirtschaftlich vom Arbeitnehmer aus dem ihm zustehenden Bruttoentgelt getragen und sei demnach ein ihm "verschaffter" Vermögenswert, steht das nicht in Widerspruch zu der - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats stehenden - Annahme des Berufungsgerichts, dass die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung insolvenzrechtlich aus dem Vermögen des Schuldners geleistet wurden.

2. Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob aus der Richtlinie 80/987/EWG des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283 v. 28. Oktober 1980, S. 23) eine Sonderstellung der Beklagten im Rahmen der Insolvenzanfechtung abzuleiten sei, hat keine grundsätzliche Bedeutung. Sie ist eindeutig zu verneinen. Dies kann der Senat daher entscheiden, ohne dem Europäischen Gerichtshof zuvor die Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt zu haben.

a) Die Richtlinie bezweckt ersichtlich den Schutz von Leistungsansprüchen der Arbeitnehmer in der Insolvenz des Arbeitgebers, nicht aber den Schutz des Beitragsaufkommens der Sozialversicherungsträger. Insbesondere verlangt sie von dem nationalen Gesetzgeber keine Privilegierung der Sozialversicherungsträger gegenüber anderen Gläubigern im Fall der Insolvenzanfechtung. Entgegen der Auffassung der Beschwerde folgt dies auch nicht aus Art. 7 der Richtlinie. Nach dieser Bestimmung treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Nichtzahlung an ihre Versicherungsträger von Pflichtbeiträgen, die vom Arbeitgeber vor Eintritt seiner Zahlungsunfähigkeit geschuldet waren, keine Nachteile für die Leistungsansprüche der Arbeitnehmer gegenüber diesen Versicherungsträgern mit sich bringt, soweit die Arbeitnehmerbeitragsanteile von den gezahlten Löhnen einbehalten worden sind. Die Vorschrift erfasst danach die im Sozialgesetzbuch geregelten Rechtsmaterien, insbesondere den Anspruch auf Insolvenzgeld (§§ 183 ff SGB III) und die Zahlung von Pflichtbeiträgen bei Insolvenzereignis (§ 208 SGB III), nicht jedoch die Anfechtung geleisteter Sozialversicherungsbeiträge. Die - hypothetische - Möglichkeit, dass Insolvenzanfechtungen in größerem Umfang zu einer Anhebung der Beitragssätze Veranlassung geben können, kann auch nicht als Nachteil für die Leistungsansprüche der Arbeitnehmer im Sinne dieser Regelung angesehen werden. Für eine derartige Auslegung der Richtlinie fehlt es an jeglichem Anhaltspunkt, weil sie nicht auf den Schutz des Beitragsaufkommens der Sozialversicherungsträger abzielt.

b) Selbst wenn die Richtlinie eine Bevorzugung der Sozialversicherungsträger in der Insolvenz des Arbeitsgebers gegenüber anderen Gläubiger fordern würde, könnte sich die Beklagte darauf in diesem Rechtsstreit nicht berufen. Die vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung, wonach Richtlinien unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbare Wirkung mit der Folge entfalten können, dass sich auch der einzelne Gemeinschaftsbürger auf sie berufen kann (vgl. EuGH, Urt. v. 19. Januar 1982 - Rs 8/81, Slg. 1982, S. 53, 70 f), betrifft nur das Verhältnis eines von der Richtlinie begünstigten Betroffenen gegenüber dem jeweiligen Mitgliedstaat oder einer diesem zurechenbaren Einrichtung. Im Verhältnis von Privatpersonen untereinander kann eine Richtlinie dagegen unmittelbar keine Rechte und Pflichten begründen (vgl. EuGH, Urt. v. 26. Februar 1986 - Rs 152/84, Slg. 1986, S. 723; Urt. v. 14. Juli 1994 - Rs C-91/92, ZIP 1994, 1187, 1188 f; Urt. v. 7. März 1996 Rs C-192/94, NJW 1996, 1401, 1402; vgl. auch Geiger, EUV/EGV 3. Aufl. 2000, Art. 249 Rn. I 15; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 10 Rn. 79). Dieser Grundsatz ist auch auf die Beklagte in ihrem Verhältnis zum Kläger anzuwenden, die zwar als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts (§ 4 Abs. 1 SGB V) organisiert ist, aber im Insolvenzanfechtungsrechtsstreit dem Kläger auf gleicher Ebene wie eine Privatperson gegenübertritt. Letztendlich kommt es wegen der nicht gegebenen Anwendbarkeit der Richtlinie hierauf nicht an, ebenso wenig wie auf die vom Europäischen Gerichtshof in anderem Zusammenhang bereits verneinte Frage, ob die Insolvenzrichtlinie zur Begründung eine Drittwirkung inhaltlich hinreichend genau ist, d.h. eine allgemeine und unzweideutige Normaussage enthält, die einen klaren Regelungszweck erkennen lässt (vgl. EuGH, Urt. v. 19. November 1991 - Rs 6/90 und 9/90, NJW 1992, 165).

Da die Richtlinie die Insolvenzanfechtung erkennbar nicht betrifft, kann sie auch nicht als Maßstab für die Auslegung der §§ 129 ff InsO herangezogen werden.

3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2 2. Halbs. ZPO abgesehen. Die Nichtzulassungsbeschwerde gibt keinen Anlass, die vom Bundesgerichtshof - teilweise schon mehrfach - entschiedenen Fragen erneut aufzugreifen.

Ende der Entscheidung

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