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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 10.07.2008
Aktenzeichen: StR 243/08
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 349 Abs. 4
StGB § 63
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

5 StR 243/08

vom 10. Juli 2008

in der Strafsache

gegen

wegen Totschlags

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Juli 2008

beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. Dezember 2007 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat die Angeklagte vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen und ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision der Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. 1. Das Landgericht hat festgestellt: Im Jahre 2004 manifestierten sich bei der damals 20 Jahre alten Angeklagten psychotische Symptome, die zu tiefgreifenden postpsychotischen Persönlichkeitsveränderungen führten. In einer therapeutischen Wohngemeinschaft lernte sie W. kennen und wurde von ihm schwanger. Die Beziehung zwischen der Angeklagten und W. war durch die psychischen Probleme beider - W. konsumierte Alkohol und Drogen im Übermaß - ohnehin belastet, was sich nach der Geburt des Sohnes S. am 1. Juni 2006 noch verstärkte. Es kam, wie auch bereits zuvor, zu Gewalttätigkeiten von W. gegenüber der Angeklagten, die sich jedoch nicht gegen das Kind richteten. Die Angeklagte verließ im September 2006 die gemeinsame Wohnung und zog mit dem Kind vorübergehend zu ihren Eltern, schließlich am 21. Oktober 2006 in eine eigene Wohnung in der B. in Berlin-Treptow. Ihre neue Anschrift hielt sie vor W. geheim. Am 16. November 2006 tötete die Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz ihren fünf Monate alten Sohn, indem sie ihm u. a. schwere Kopfverletzungen, zahlreiche Knochenbrüche sowie eine Wirbelsäulenfraktur beibrachte, die aufgrund der Elastizität der Knochen des Opfers nur eintritt, wenn das Kind über einer runden Kante so überdehnt wird, dass sich Füße und Hinterkopf des Kindes berühren. Flüchtend legte sie das Kind direkt vor ihrem Wohnhaus unter einem parkenden Auto ab, indem sie es so hinter ein Vorderrad zwängte, dass es beim Ausparken des Fahrzeugs überrollt worden wäre. Nachdem eine Passantin das Kind gefunden hatte, konnte die Angeklagte kurz darauf gefasst werden. Das Kind verstarb wenige Tage später an seinen schweren Verletzungen. 2. Sachverständig beraten ist das Landgericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Steuerungsfähigkeit der Angeklagten aufgrund einer hebephrenen Schizophrenie jedenfalls erheblich vermindert, wenn nicht sogar aufgehoben war. Ob dies auf einem akuten Schub der Krankheit oder einer krankheitsbedingten Überforderungsreaktion beruhte, konnte nicht geklärt werden. 3. Die Angeklagte hat in der Hauptverhandlung keine Angaben gemacht. Gegenüber Polizeibeamten hatte sie zunächst geäußert, kein Kind zu haben. Als Mitarbeiterinnen des Jugendamtes ihr den Tod des Kindes eröffneten, bezichtigte sie "spontan und unter großer emotionaler Beteiligung" W. der Tatbegehung. Schließlich hat sie bei einer späteren Vernehmung nur geäußert, sie sei es nicht allein gewesen. 4. Die Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand (BGHR StPO § 261 Vermutung 11). Die Schwurgerichtskammer hat ihre Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft der Angeklagten im Wesentlichen auf den Ausschluss W. s als Alternativtäter gestützt. Den an diese besondere Beweissituation zu stellenden Anforderungen (vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2444, 2446) werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Denn die diesbezüglichen beweiswürdigenden Erwägungen sind lückenhaft, da sie sich mit zahlreichen Beweisanzeichen für die Täterschaft des Alternativtäters, die sich aus seinem festgestellten Vor- und Nachtatverhalten ergeben, nicht hinreichend auseinandersetzen. Die Überlegungen des Landgerichts zum Ausschluss W. s als Täter basieren auf der Grundannahme, dass er die neue Wohnanschrift der Angeklagten nicht gekannt hat; aufgrund des Verhaltens W. s nach der Tat steht dies in einem besonders engen Zusammenhang mit einer möglichen Täterschaft. Aus den Urteilsfeststellungen ergeben sich jedoch zahlreiche Anhaltspunkte, die gegen diese Annahme der fehlenden Kenntnis von der Adresse der Angeklagten sprechen, ohne dass das Landgericht mit der gebotenen Sorgfalt diesen Fragwürdigkeiten nachgegangen wäre und sie in einer erforderlichen Gesamtschau gewürdigt hätte. So hat sich W. zunächst mehrfach drängend bei den Eltern der Angeklagten nach deren neuen Aufenthaltsort erkundigt, hat dies aber zwei Wochen vor dem 16. November 2006 plötzlich eingestellt. Ein Motiv für diese abrupte Verhaltensänderung - obwohl die Trennung von Freundin und Kind für ihn weiterhin ein ständiges Thema war - erörtert das Landgericht nicht. Dies wäre aber von Relevanz gewesen, da das Motiv - keinesfalls fernliegend - darin bestanden haben könnte, dass W. die von ihm begehrte Information anderweitig erlangt hatte. Auch hätte näherer Erläuterung bedurft, aus welchem Grund W. das Friseurgeschäft im Wohnhaus der Angeklagten aufgesucht und dort Pralinen hinterlassen hat. Ein solches Verhalten, sollte es sich tatsächlich auch erst nach der Tat zugetragen haben, wäre angesichts des Umstands, dass W. keine Verbindung zu dieser Örtlichkeit gehabt haben will und die Angestellten des Friseursalons nicht an der Bergung des Kindes beteiligt waren, nicht ohne weiteres zu erklären. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass nach den zunächst gemachten Angaben einer Angestellten W. ein oder zwei Tage vor der Tat im Friseursalon gewesen sei und sich erkundigt habe, ob die Angeklagte zu Hause sei. Diese Angaben waren jedoch zur Überzeugung des Landgerichts unzutreffend, ohne dass es einen Grund für eine solche Falschbekundung durch eine nicht in das Geschehen verwickelte Zeugin näher erörtert hat. Weitere Anhaltspunkte dafür, dass W. entgegen seinen Angaben die Anschrift der Angeklagten vor der Tat bekannt war, entkräftet das Landgericht ebenfalls mit unzureichenden Erwägungen. So stellt es fest, dass W. aufgrund einer Radiomeldung um 14.00 Uhr des Tattages vermutete, seinem Kind sei etwas passiert, und Kontakt zu seinem Stiefvater und den Eltern der Angeklagten aufnahm. Zwar hat das Landgericht zutreffend diese Reaktion W. s auf eine Meldung des Inhalts, dass in der B. in Treptow ein Kind unter einem Auto gefunden worden sei, als ungewöhnlich gewertet, da er die Wohnanschrift der Angeklagten nicht gekannt haben will. Dennoch misst es diesem Umstand kein Gewicht bei, da sie seinen Angaben folgt, er habe nur verstanden, das Kind sei unter einer Brücke in Treptow abgelegt worden. Mit dem Spannungsverhältnis zwischen der konkreten Besorgnis um sein Kind angesichts einer nach seiner Bekundung den gesamten Treptower Stadtteil betreffenden Meldung und der vom Landgericht geglaubten Überzeugung des W. , das Baby sei bei dessen Mutter sicher, setzt sich das Landgericht hingegen nicht auseinander. Soweit das Landgericht ausführt, dass es W. einer so "raffinierten Verschleierungstaktik" nicht für fähig hält, setzt es sich zudem in einen Widerspruch zu seiner Wertung, die Telefonanrufe nach der Radiomeldung seien als Verschleierung "unvernünftig gewesen". 5. Da die Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten an den Ausschluss der Tatbegehung durch W. geknüpft ist, kann der Senat nicht ausschließen, dass sich das Landgericht eine andere Überzeugung von dem Tatgeschehen gebildet hätte - wozu es nicht der Überzeugung von der Täterschaft W. s bedurft hätte - wenn es die Anhaltspunkte für seine Täterschaft oder Tatbeteiligung in der gebotenen Gesamtschau erwogen hätte. Dabei hat der Senat bedacht, dass zwar aufgrund der massiven Verletzungen und der Auffindesituation des Kindes einiges für ein abnormes seelisches Geschehen bei dem Täter spricht. Jedoch vermag dies allein den Schluss auf die Täterschaft der Angeklagten nicht zu begründen, zumal da über die geistig-seelische Verfassung W. s zur Tatzeit nichts mitgeteilt wird. Zwar kann dem Urteilszusammenhang noch entnommen werden, dass die Angeklagte jedenfalls das Ablegen des Kindes bemerkt hat und daher - auch ohne dass sie an dem vorhergehenden Verletzungsgeschehen beteiligt war - aufgrund ihrer Garantenstellung eine Unterlassenstäterschaft in Betracht kommen könnte. Allein dies könnte die Aufrechterhaltung des Rechtsfolgenausspruchs nicht rechtfertigen, da eine solche Tat im Rahmen der Anordnungsvoraussetzungen des § 63 StGB anders als eine vorsätzliche aktive Tötung zu bewerten ist. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass angesichts der bei der Angeklagten festgestellten psychotischen Erkrankung den Widersprüchen in ihrem Aussageverhalten kein maßgeblicher Beweiswert zukommt. Jedoch wird der Umstand stärker als bisher in den Blick zu nehmen sein, dass die Bezichtigung W. s spontan erfolgt ist, nachdem die Angeklagte vom Tod ihres Kindes erfahren hatte.

Ende der Entscheidung

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