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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 23.10.2003
Aktenzeichen: V ZB 44/03
Rechtsgebiete: ZPO
Vorschriften:
ZPO § 238 Abs. 2 Satz 1 | |
ZPO § 522 Abs. 1 Satz 4 | |
ZPO § 574 Abs. 2 Nr. 2 |
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
vom 23. Oktober 2003
in dem Rechtsstreit
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 23. Oktober 2003 durch die Richter Tropf, Prof. Dr. Krüger, Dr. Lemke, Dr. Schmidt-Räntsch und die Richterin Dr. Stresemann
beschlossen:
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluß der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bautzen vom 11. Juni 2003 aufgehoben.
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens: 2.833,15 €
Gründe:
I.
Mit am 11. März 2003 der Beklagten zugestelltem Urteil vom 7. März 2003 entschied das Amtsgericht K. zum Nachteil der Beklagten. Hiergegen legte die Beklagte am 10. April 2003 bei dem Landgericht B. Berufung ein. Am 9. Mai 2003 beantragte die Beklagte, die Berufungsbegründungsfrist über den 12. Mai 2003 hinaus bis zum 28. Mai 2003 zu verlängern. In Erwartung dieser Verlängerung erteilte der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten seiner Angestellten die Weisung, die neue Frist und eine Wiedervorlage der Akten auf den 21. Mai 2003 zu notieren, was auch geschah. Die Kammer verlängerte die Berufungsbegründungsfrist mit Verfügung vom 9. Mai 2003, jedoch nur bis zum 20. Mai 2003. Die Verfügung enthielt außer der Verlängerung nur den Hinweis, eine weitere Verlängerung sei nicht zu erwarten; der in dem verwendeten Verfügungsformular auch vorgesehene Hinweis auf eine teilweise Zurückweisung des Antrags war nicht angekreuzt. Diese Verfügung wurde am 13. Mai 2003 ausgeführt und erreichte den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten am 14. Mai 2003. Dessen Angestellten fiel nicht auf, daß die Frist nur bis zum 20. Mai 2003 verlängert worden war. Die Akten wurden deshalb wie notiert erst am 21. Mai 2003 vorgelegt.
Die Beklagte hat am 28. Mai 2003 die Berufungsbegründung eingereicht und darin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Sie hat vorgetragen, ihr Prozeßbevollmächtigter sei davon ausgegangen, daß die Frist antragsgemäß verlängert werde, zumal ihm die Geschäftsstelle der Kammer erklärt habe, mit der Fristverlängerung dürfte es keine Probleme geben.
Das Landgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II.
Das Berufungsgericht meint, die Berufungsbegründungsfrist sei nicht ohne Verschulden des Prozeßbevollmächtigten der Beklagten versäumt worden. Dieser habe nicht mit einer Bewilligung der Fristverlängerung rechnen dürfen. Denn er habe weder erhebliche Gründe vorgetragen noch eine Zusage der Vorsitzenden der Kammer eingeholt. Daß er sich bei der Geschäftsstelle der Kammer erkundigt habe, sei unerheblich.
III.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig. Sie hat auch Erfolg, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts den Anspruch der Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 20 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Die Voraussetzungen für die beantragte Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist liegen vor. Eine Verwerfung der Berufung als unzulässig scheidet deshalb aus.
1. Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 69, 381, 385; 88, 118, 123 ff; BVerfG FamRZ 2002, 533). Die Gerichte dürfen daher bei der Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlaßt haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen (BVerfGE 40, 88, 91; 67, 208, 212 f.; BVerfG NJW 1996, 2857; 2000, 1636; BVerfG FamRZ 2002, 533, 534). Das Landgericht hat die Anforderungen in diesem Sinne überspannt.
2. Die Beklagte hat die Berufungsbegründungsfrist versäumt, weil ihrem Prozeßbevollmächtigten nicht auffiel, daß die Frist nicht bis zum 28., sondern nur bis zum 20. Mai 2003 bewilligt worden war. Das ist unter den hier gegebenen besonderen Umständen weder ihr noch ihrem Prozeßbevollmächtigten oder seiner Angestellten vorzuwerfen. Das Versagen der Fristkontrollmaßnahmen des Prozeßbevollmächtigten der Beklagten beruht entscheidend darauf, daß das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung über die Fristverlängerung den Erfordernissen eines fairen Verfahrens nicht entsprochen hat.
a) Die Beklagte durfte sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes darauf verlassen, daß die Fristverlängerung beim - wie hier - ersten Mal antragsgemäß bewilligt werde (BGH, Beschl. v. 5. Juli 1989, IVb ZB 53/89, BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung 3; Beschl. v. 2. November 1989, III ZB 49/89, BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung 4; Beschl. v. 23. Juni 1994, VII ZB 5/94 NJW 1994, 2957; Beschl. v. 24. Oktober 1996, VII ZB 25/96, NJW 1997, 400; Beschl. v. 11. November 1998, VIII ZB 24/98, NJW 1999, 430; Beschl. v. 21. September 2000, III ZB 36/00, BGHR ZPO § 233 Mandatsniederlegung 4; Beschl. v. 28. November 2002, III ZB 45/03, BGH-Report 2003, 459; Senatsbeschl. v. 20. Februar 2003, V ZB 60/02, NJW-RR 2003, 861, 862). Das gilt entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch dann, wenn sich die Partei nicht um die Zusicherung einer Fristverlängerung durch den Vorsitzenden der Kammer oder des Senats bemüht. Mit der Möglichkeit, daß das Berufungsgericht ihrem Antrag auf Fristverlängerung zwar entsprechen, aber eine deutlich kürzere Frist bestimmen würde, brauchte die Beklagte nicht zu rechnen. Sie hatte nur eine maßvolle Verlängerung der Berufungsgründungsfrist um 16 Tage beantragt. Die Kammer hatte keinen Termin bestimmt. Ein anderer sachlicher Grund, diese Frist zu verkürzen, war nicht ersichtlich. Diesem Vertrauen der Beklagten mußte das Berufungsgericht von Verfassungs wegen auch dann Rechnung tragen, wenn es der ihm zugrunde liegenden Rechtsprechung nicht folgen wollte (BVerfG, FamRZ 2002, 533, 534).
b) Die Beklagte mußte auch nicht damit rechnen, daß das Berufungsgericht die Berufungsbegründungsfrist um einen Zeitraum verlängerte, in dem die geltend gemachten ergänzenden Erkundigungen erkennbar nicht würden eingeholt werden können. Die Verlängerung der Berufungsfrist um nur etwas mehr als eine Woche konnte dem Prozeßbevollmächtigten der Beklagten nicht ausreichen, weil er Ermittlungen dazu anzustellen hatte, welche Abwasseranschlußmaßnahme Gegenstand des Abwasserbeitragsbescheids war, von dem die Beklagte den Kläger freistellen sollte, und ob diese endgültig abgeschlossen war. Das hatte er in seinem Antrag nur kurz umrissen. Mehr war aber auch nicht nötig, weil das Amtsgericht die Beklagte aus eben diesem Grund verurteilt hatte.
c) Ihre Entscheidung hat die Kammer der Beklagten in einer Weise bekannt gemacht, die diese irreleitete. In der Verfügung war nämlich der in dem dafür verwendeten Formular vorgesehene Textblock, mit dem auf die teilweise Zurückweisung des Antrags hingewiesen wird, nicht angekreuzt und darum in die Reinschrift auch nicht aufgenommen worden. So erweckte das Schreiben den Eindruck einer antragsgemäßen Fristverlängerung. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, daß das Schreiben die Ankündigung enthielt, mit weiteren Fristverlängerungen sei nicht zu rechnen. Veranlassung, einen solchen Hinweis aufzunehmen, besteht gewöhnlich nur, wenn die beantragte Verlängerung antragsgemäß bewilligt wird. Bei einer teilweisen Zurückweisung ihres gestellten Antrags käme eine Partei nicht auf den Gedanken, sie könne mit einem weiteren Antrag eine weitergehende Fristverlängerung erreichen. Schließlich sprach auch der Zeitpunkt der Unterrichtung für eine antragsgemäße Verlängerung. Bei Eingang der Verfügung war der Beklagten die Beschaffung der zusätzlichen Unterlagen, um deretwillen sie Fristverlängerung beantragt hatte, praktisch nicht mehr möglich. Das ließ aus ihrer Sicht eine antragsgemäße Fristverlängerung erwarten.
d) Nichts anderes ergibt sich aus dem von dem Berufungsgericht hervorgehobenen Umstand, daß das Vertrauen in die Bewilligung einer Fristverlängerung nur schützenswert ist, wenn auch erhebliche Gründe für die Fristverlängerung vorgetragen werden (BGH, Beschl. v. 16. Juni 1992, X ZB 6/92 VersR 1993, 379). Auf diese Frage kommt es hier nicht an, weil das Berufungsgericht selbst die Gründe als ausreichend angesehen und die Frist zur Begründung der Berufung verlängert hat. Hier geht es allein um die zu verneinende Frage, ob die Beklagte damit rechnen mußte, daß die Frist kürzer als beantragt bewilligt werde.
3. Ist dem Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten stattzugeben, darf ihre Berufung auch nicht als unzulässig verworfen werden.
Ende der Entscheidung
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