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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 18.07.2008
Aktenzeichen: V ZR 171/07
Rechtsgebiete: BGB
Vorschriften:
BGB § 254 Abs. 2 Satz 1 | |
BGB § 275 Abs. 1 Satz 1 | |
BGB § 275 Abs. 2 | |
BGB § 275 Abs. 2 Satz 2 | |
BGB § 912 Abs. 1 | |
BGB § 912 Abs. 1 Satz 1 | |
BGB § 1004 | |
BGB § 1004 Abs. 2 | |
BGB § 1019 Satz 1 | |
BGB § 1027 |
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
Verkündet am: 18. Juli 2008
in dem Rechtsstreit
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juli 2008 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, den Richter Dr. Klein, die Richterin Dr. Stresemann und die Richter Dr. Czub und Dr. Roth
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 28. September 2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Mit notariellem Vertrag vom 6. Oktober 1983 kaufte der Kläger von seinem damaligen Nachbarn eine von dessen Grundstück abzutrennende Teilfläche, auf dem sich ein damals zu Wohnzwecken genutztes Hinterhaus befand. In dem Grundstückskaufvertrag bewilligte und beantragte der Verkäufer die Eintragung einer Wegerechtsdienstbarkeit für den jeweiligen Eigentümer des verkauften Grundstücks auf dem von der Straße aus links neben dem damaligen Vorderhaus belegenen Gang. Der Vertrag wurde vollzogen.
Nach dem Auszug des Mieters im Jahre 1984 wurde das Hinterhaus auf dem von dem Kläger erworbenen Grundstück nicht mehr genutzt und verfällt seitdem. Das eingetragene Wegerecht wurde seit dieser Zeit ebenfalls nicht mehr ausgeübt.
Der Beklagte, der Eigentümer des anderen Nachbargrundstücks (Flurstück 316/76) war, erwarb in der Zwangsversteigerung durch Zuschlagsbeschluss vom 30. Juni 2004 das vordere Grundstück (Flurstück 75/2). In dem Zuschlagsbeschluss ist darauf hingewiesen, dass das in Abteilung II Nr. 12 eingetragene Recht bestehen bleibt. Der Beklagte begann in den Monaten August/September 2005 das erworbene Grundstück mit einem Erweiterungsbau für seinen Kinobetrieb unter Einbeziehung der für das Wegerecht genutzten Fläche zu bebauen. Nach Fertigstellung des Rohbaus verlangte der Kläger im 1. Dezember 2005 den Rückbau im Bereich des Wegerechts. Anschließende Vergleichsgespräche scheiterten.
Das Amtsgericht hat der Klage auf Beseitigung der Bebauung auf der Wegerechtsfläche stattgegeben. Das Landgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Abweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht bejaht einen Anspruch des Klägers auf Beseitigung der die Ausübung des Wegerechts hindernden Bebauung nach §§ 1027, 1004 BGB.
Der Kläger sei nicht nach § 912 Abs. 1 BGB verpflichtet, den Überbau des Weges durch den Neubau des Beklagten zu dulden. Der Beklagte habe den Nachweis fehlender grober Fahrlässigkeit nicht geführt. Dies ergebe sich aus der Tatsache, dass in dem Zuschlagsbeschluss, mit dem der Beklagte das dienende Grundstück vor dem Beginn der Baumaßnahmen erworben habe, auf das Bestehenbleiben des in Abteilung II Nr. 12 eingetragenen Rechts hingewiesen worden sei. Dem Beklagten, der ein erfahrener Geschäftsmann sei, habe klar sein müssen, dass er sich wegen der Bedeutung dieses Hinweises des Vollstreckungsgerichts, z.B. durch eine Einsicht in das Grundbuch, hätte erkundigen müssen. Es möge zwar sein, dass er sich darum nicht weiter gekümmert habe. Darin liege aber eine Missachtung der im Verkehr üblichen Sorgfalt in einem besonders schweren Maße, weil er einfache und nahe liegende Überlegungen nicht angestellt habe.
Der Kläger sei auch nicht deshalb zur Duldung des Überbaus verpflichtet, weil dessen Beseitigung einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordere. Ein solcher Einwand sei nur für den sog. Eigengrenzüberbau anerkannt, wenn also der Überbauende zunächst auch Eigentümer des überbauten Grundstücks gewesen sei. Eine Verallgemeinerung dieser Grundsätze widerspreche der Wertung des § 912 Abs. 1 BGB, weil sie die den Anwendungsbereich der Norm einschränkenden Tatbestandsmerkmale obsolet mache, wenn der Berechtigte einen Überbau auch dann hinnehmen müsse, wenn dem Überbauer Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last falle.
Das Begehren des Klägers auf Beseitigung des Überbaus stelle weder eine Schikane (§ 226 BGB) noch einen Rechtsmissbrauch dar (§ 242 BGB). Der Kläger verfolge ein schutzwürdiges Interesse, da der Zugang zu dem herrschenden Grundstück sonst nur durch die Garage auf dem im Eigentum des Klägers stehenden Nachbargrundstück möglich wäre.
II.
Das hält nicht in allen Punkten rechtlicher Nachprüfung stand.
1. Unbegründet ist allerdings der Einwand der Revision, dass dem Kläger der ihm von dem Berufungsgericht zuerkannte Anspruch nach §§ 1027, 1004 BGB schon deshalb nicht zustehen könne, weil die Grunddienstbarkeit wegen Wegfalles des Vorteiles für das herrschende Grundstück erloschen sei.
Die Belastung eines Grundstücks mit einer Grunddienstbarkeit setzt zwar nach § 1019 Satz 1 BGB voraus, dass diese einen Vorteil für die Benutzung des herrschenden Grundstücks bietet. Eine Grunddienstbarkeit erlischt daher, wenn infolge Veränderung eines der betroffenen Grundstücke ihre Ausübung dauernd ausgeschlossen ist oder der Vorteil für das herrschende Grundstück infolge grundlegender Änderung der tatsächlichen Verhältnisse oder der rechtlichen Grundlage objektiv und endgültig wegfällt (Senat, Urt. v. 24. Februar 1984, V ZR 177/82, NJW 1984, 2157, 2158; Urt. v. 20. Mai 1988, V ZR 29/87, NJW-RR 1988, 1229, 1230; Urt. v. 15. Januar 1999, V ZR 163/96, VIZ 1999, 225, 226 - std. Rspr.). Diese Voraussetzungen liegen aber deshalb nicht vor, weil das herrschende Grundstück ohne das Wegerecht keine Verbindung zur öffentlichen Straße hätte und nur über das benachbarte Grundstück des Klägers durch ein Bauwerk (Garage) hindurch erreichbar wäre. Die Revisionserwiderung weist zu Recht darauf hin, dass dann, wenn bereits jeder brauchbare Weg, der zu einem Grundstück führt, für dessen Zweck vorteilhaft ist (vgl. RGZ 169, 180, 183; OLG Koblenz DNotZ 1999, 511, 512), von einem Wegfall des Vorteils nicht gesprochen werden kann, wenn das Grundstück nur über das Wegerecht mit einer öffentlichen Straße verbunden ist und bei einem Wegfall der Grunddienstbarkeit ein sog. gefangenes Grundstück entstünde.
Die Hinweise der Revision auf das öffentliche Baurecht vermögen demgegenüber den Vorteil einer Wegerechtsdienstbarkeit für ein Grundstück, dem eine andere Verbindung zu einem öffentlichen Weg fehlt, nicht zu beseitigen. Eine Grunddienstbarkeit gibt nämlich dem Berechtigten eine auf dem Privatrecht beruhende Rechtsstellung, die von etwaigen öffentlich-rechtlichen Nutzungsbeschränkungen für das herrschende Grundstück grundsätzlich unabhängig ist und deshalb nicht schon dann wegfällt, wenn dessen Nutzungsmöglichkeiten durch baurechtliche Vorschriften oder bauplanerische Feststetzungen (hier durch die von dem Beklagten vorgetragene nunmehrige Unzulässigkeit einer Nutzung des herrschenden Grundstücks zu Wohnzwecken) beschränkt werden oder ganz wegfallen (vgl. Senat, Urt. v. 7. April 1967, V ZR 14/65, NJW 1967, 1609, 1610).
2. Ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht eine Duldungspflicht des Klägers gemäß § 1004 Abs. 2 BGB nach den Vorschriften über den Überbau (§§ 912 ff. BGB) verneint hat.
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass § 912 Abs. 1 BGB entsprechend anzuwenden ist, wenn ein Überbau zwar nicht das Eigentum, aber ein anderes Recht des Nachbarn (wie eine Grunddienstbarkeit) beeinträchtigt (Senat, BGHZ 39, 5, 8 ff.; 42, 63, 68). Soweit die Revision meint, dass das Berufungsgericht die Unkenntnis des Beklagten von dem Wegerecht zu Unrecht als grob fahrlässig angesehen habe, zeigt sie keinen Rechtsfehler auf.
Die Entscheidung, ob ein vorwerfbares Verhalten als grob fahrlässig zu bewerten ist, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dem Tatrichter vorbehalten, der im Einzelfall unter Würdigung aller Umstände nach seinem pflichtgemäßen Ermessen darüber zu befinden hat. Seine Wertung ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen, sofern er nicht den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit verkannt oder ihr fehlerhaft gewonnene Feststellungen zugrunde gelegt hat (BGHZ 89, 153, 160; 145, 337, 340). Das ist hier nicht der Fall.
Die von der Revision benannten, von dem Berufungsgericht angeblich übergangenen Umstände sind für die tatrichterliche Beurteilung, auf die der Vorwurf grober Fahrlässigkeit gestützt wird, unerheblich, weil der Beklagte das Grundstück selbst ersteigert hat und in dem Termin auf das bestehen bleibende Recht hingewiesen worden ist. Die Nichtbeachtung eines solchen Hinweises trägt die tatrichterliche Würdigung einer zumindest grob fahrlässigen Verletzung des Wegerechts des Klägers durch den Beklagten. Subjektive Besonderheiten (wie geringe Geschäftsgewandtheit und Kenntnisse), die im Einzelfall im Sinne einer Entlastung vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ins Gewicht fallen können (BGHZ 119, 147, 149), liegen nach der Feststellung des Berufungsgerichts, dass der Beklagte ein erfahrender Geschäftsmann ist, nicht vor. Soweit die Revision schließlich auf den Vortrag des Beklagten verweist, dass dieser von anderer Seite - insbesondere seinem Architekten - nicht auf das der geplanten Bebauung entgegenstehende Wegerecht hingewiesen worden sei, ist das für die Feststellung einer grob fahrlässigen Unkenntnis schon deshalb ohne Bedeutung, weil das Berufungsgericht auf die eigenen Kenntnisse des Beklagten abgestellt hat.
3. Erfolg hat das Rechtsmittel jedoch deshalb, weil das Berufungsgericht das auf die Entscheidung des Senats (BGHZ 62, 388, 391 = NJW 1974, 1552 ff.) gestützte Vorbringen des Beklagten zur Unverhältnismäßigkeit des für die Beseitigung der Störung erforderlichen Aufwands mit der rechtsfehlerhaften Begründung zurückgewiesen hat, dass eine solche Einrede nur für den hier nicht vorliegenden Fall eines Eigengrenzüberbaus in Betracht komme.
a) Das Berufungsgericht hat die ständige Rechtsprechung des Senats übersehen, nach der die Geltendmachung von Ansprüchen auf Beseitigung - unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage - unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit begrenzt ist (Senat, BGHZ 143, 1, 6; Urt. v. 2. Oktober 1987, V ZR 140/86, NJW 1988, 699, 700), was sich nunmehr aus § 275 Abs. 2 BGB ergibt (Senat, Urt. v. 30. Mai 2008, V ZR 184/07, Rdn. 17; OLG Düsseldorf NJW-RR 2007, 1024, 1025; zur weiteren Begründung hierzu wird auf das Urteil des Senats vom 30. Mai 2008 (V ZR 184/07 - zur Veröffentlichung bestimmt) Bezug genommen.
Die Vorschrift findet auf alle Leistungspflichten Anwendung, gleichgültig ob diese auf einem Vertrag, auf einem gesetzlichen Schuldverhältnis oder allgemein auf einer gesetzlichen Verpflichtung beruhen (Senat, Urt. v. 30. Mai 2008, V ZR 184/07, aaO). Eine solche Zumutbarkeitsgrenze auch gegenüber einem auf § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB gestützten Beseitigungsverlangen hat der Senat schon auf der Grundlage des bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Rechts analog § 251 Abs. 2 BGB bejaht (vgl. BGHZ 62, 388, 391; Urt. v. 10. Dezember 1976, V ZR 263/74, WM 1977, 536, 537; Urt. v. 16. März 1979, V ZR 38/75, WM 1979, 644, 647). Seitdem der Gesetzgeber mit der Schuldrechtsform in § 275 Abs. 2 BGB einen allgemeinen Rechtssatz mit diesem Inhalt bestimmt hat (BT-Drucks. 14/6040, S. 130), findet die Senatsrechtsprechung hierin ihre Bestätigung.
b) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts wird das Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 2 BGB nicht durch die Regelung in § 912 Abs. 1 BGB verdrängt. Die Vorschriften betreffen verschiedene Gegenstände, nämlich die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen des Beseitigungsanspruchs. Aus § 912 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich eine Duldungspflicht des Nachbarn nach § 1004 Abs. 2 BGB. Liegen deren Voraussetzungen vor, hat der Nachbar weder einen Anspruch auf Beseitigung noch auf Schadensersatz (vgl. Senat BGHZ 97, 292, 295; 156, 170, 172). § 275 Abs. 2 BGB begründet dagegen eine Einrede gegenüber dem Beseitigungsanspruch. Wird die Einrede erhoben und liegen deren Voraussetzungen vor, kann der Nachbar seinen Anspruch auf Beseitigung des Überbaus zwar nicht durchsetzen; seine anderen Ansprüche wegen der rechtswidrigen und schuldhaften Rechtsverletzung bleiben aber davon unberührt (vgl. Senat, BGHZ 156, 170, 172).
III.
Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif.
Das Berufungsgericht hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - eine Abwägung zwischen den Vorteilen, die eine Durchsetzung des Anspruches aus der Grunddienstbarkeit für das herrschende Grundstück des Klägers hätte, und den dafür erforderlichen Aufwendungen des Beklagten durch den zumindest teilweisen Abriss des Kinoneubaus auf dem dienenden Grundstück unterlassen. Das ist nachzuholen.
Zwar wird die nach § 275 Abs. 1 Satz 1 BGB gebotene Abwägung bei einem Anspruch auf Beseitigung eines grob fahrlässig (und erst recht eines vorsätzlich) errichteten Überbaus in der Regel dazu führen, dass die Einrede zu versagen ist (vgl. Senat, Urt. v. 24. April 1970, V ZR 97/67, NJW 1970, 1180, 1181), was sich daraus ergibt, dass nach § 275 Abs. 2 Satz 2 BGB bei der Bestimmung des Maßes der zumutbaren Anstrengungen auch das Verschulden des Schuldners berücksichtigt werden muss (vgl. Senat, Urt. v. 30. Mai 2008, V ZR 184/07, Rdn. 19).
Anders kann es aber auch unter Berücksichtigung des erheblichen Verschuldens des Überbauenden sein, wenn der Nachbar unter vorwerfbarer Verletzung seiner Obliegenheit nach § 254 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 912 Abs. 1 BGB, den Eigentümer vor ungewöhnlich hohen Schäden durch die Zerstörung der mit dem Überbau geschaffenen Werte zu bewahren, mit dem Verlangen auf Beseitigung zuwartet und dadurch selbst wesentlich zu dem Missverhältnis zwischen den Vorteilen für ihn und Aufwendungen des Eigentümers für den Abriss des Neubaus beiträgt. Unter diesen Voraussetzungen kann die unter Beachtung des Gebots von Treu und Glauben (§ 242 BGB) vorzunehmende Abwägung dazu führen, dass der Eigentümer die Erfüllung des Anspruchs des Nachbarn auf Beseitigung des Überbaus verweigern darf.
Da diese Umstände von dem Beklagten zwar vorgetragen worden sind, das Berufungsgericht dazu aber keine Feststellungen getroffen hat, ist die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Ende der Entscheidung
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