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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 13.09.2005
Aktenzeichen: VI ZB 19/05
Rechtsgebiete: GG, ZPO
Vorschriften:
GG Art. 2 Abs. 1 | |
GG Art. 20 Abs. 3 | |
ZPO § 78 Abs. 1 |
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
vom 13. September 2005
in dem Rechtsstreit
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. September 2005 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
beschlossen:
Tenor:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Kassel vom 14. Februar 2005 wird auf Kosten der Beklagten verworfen.
Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 2000 €
Gründe:
I.
Die Beklagte ist vom Amtsgericht W. durch Versäumnisurteil unter Strafandrohung verurteilt worden es zu unterlassen, "die Telekomliste, betr. Einzelanrufnachweisen des Klägers, in deren Besitz sich die Beklagte gesetzt hat, weiterhin zu benutzen und Teilnehmer anzurufen". Den Einspruch der Beklagten hat das Amtsgericht in einer nicht näher bezeichneten Entscheidung vom 4. November 2004 verworfen, die der Beklagten am 1. Dezember 2004 zugestellt worden ist. Die Beklagte legte gegen diese Entscheidung am 13. Dezember 2004 privatschriftlich "Beschwerde" ein.
Das Amtsgericht hat der Beschwerde "aus den Gründen des zugrundeliegenden Beschlusses nicht abgeholfen" und die Sache dem Landgericht Kassel vorgelegt. Das Landgericht sandte die Akten an das Amtsgericht zurück. Dieses wies das Landgericht darauf hin, dass sich die Beschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 4. November 2004 richte und übersandte die Akten erneut. Mit Verfügung vom 30. Dezember 2004 teilte der Vorsitzende der 1. Zivilkammer des Landgerichts Kassel der Beklagten mit, dass sie sich gegen ein Urteil wende, deshalb nur die Berufung durch einen zugelassenen Rechtsanwalt statthaft gewesen wäre und die Beklagte Gelegenheit zur Rücknahme erhalte, um Kosten zu sparen. Die Verfügung ist der Beklagten am 5. Januar 2005 zugestellt worden. Die Beklagte legte daraufhin durch ihren Prozessbevollmächtigten am 19. Januar 2005 Berufung ein, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie Prozesskostenhilfe. Sie habe weder die Klageschrift noch die Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung erhalten.
Das Landgericht hat die Berufung mit Beschluss vom 14. Februar 2005 - den Prozessbevollmächtigten der Beklagten zugestellt am 16. März 2005 - als unzulässig verworfen. Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist könne der Beklagten nicht gewährt werden, weil die mangelnde Kenntnis der Form- und Fristerfordernisse einer Anfechtung des Amtsgerichtsurteils zu Lasten der Partei gehe.
Gegen diesen Beschluss hat die Klägerin am 18. April 2005 Rechtsbeschwerde eingelegt, die sie am 16. Juni 2005 innerhalb verlängerter Frist begründet hat.
II.
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin ist als unzulässig zu verwerfen. Sie ist zwar statthaft (§§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO) und form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 575 Abs. 1, 2, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Sie ist jedoch unzulässig, weil eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.
1. Dieser Zulassungsgrund (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 ZPO) ist nur gegeben, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass die angefochtene Entscheidung von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts, von einer gleichrangigen Entscheidung eines anderen Spruchkörpers desselben Gerichts oder von der Entscheidung eines anderen gleichgeordneten Gerichts abweicht. Eine solche Abweichung liegt nur vor, wenn die angefochtene Entscheidung ein und dieselbe Rechtsfrage anders beantwortet als die Vergleichsentscheidung, also einen Rechtssatz aufstellt, der von einem die Entscheidung tragenden Rechtssatz der Vergleichsentscheidung abweicht (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2003 - VI ZB 19/03 - Juris, m.w.N.). Daran fehlt es hier.
Das Vorgehen des Landgerichts verletzt insbesondere nicht den in der Rechtsprechung anerkannten Anspruch der Beklagten auf ein faires Verfahren (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstreitsprinzip - Art. 20 Abs. 3 GG). Das Gebot des fairen Verfahrens verbietet es, einer Partei nach Versäumung einer Rechtsmittelfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflicht zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen konnte (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2003 - VI ZB 76/02 - VersR 2003, 1458, 1459 sowie BGH, BGHZ 151, 221, 227 f.).
Das Landgericht hat keine Anforderungen an die Sorgfaltspflichten der einen Rechtsbehelf einlegenden Partei gestellt, mit denen die Beklagte nicht rechnen konnte.
a) Gegen die den Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil verwerfende Entscheidung des Amtsgerichts vom 4. November 2004 war nur die Berufung zum Landgericht zulässig, die ausschließlich durch einen bei einem Landgericht zugelassenen Rechtsanwalt wirksam eingelegt werden konnte (§§ 78 Abs. 1 Satz 1, 341 Abs. 1, 511 Abs. 1 ZPO). Das Landgericht hat jedoch keine Pflicht des Amtsgerichts zur Belehrung der Beklagten über die Voraussetzungen eines Rechtsbehelfs gegen dessen Entscheidung verkannt. Das Amtsgericht war nicht verpflichtet, die Beklagte nach Einlegung ihrer "Beschwerde" darauf hinzuweisen, dass sie eine Berufung wirksam nur durch einen zugelassenen Rechtsanwalt einlegen konnte.
Allerdings ist anerkannt, dass die Fürsorgepflicht des Gerichts es gebietet, einer Partei, die das mit der Sache befasste Gericht um Auskunft über die Rechtsbehelfsmöglichkeiten und deren Erfordernisse ersucht, diese Auskunft zu erteilen (vgl. BVerfGE 93, 99, 114 f.). Den Rechtssuchenden ist jedoch im Allgemeinen hinreichend bekannt, dass im Zivilprozess für die Rechtsmittel der Berufung und der Revision ausnahmslos Anwaltszwang besteht (§ 78 Abs. 1 ZPO; vgl. BVerfGE aaO 109); eine Pflicht zum Hinweis auf den Anwaltszwang für das Rechtsmittel besteht daher auch nicht für das Gericht, dessen Entscheidung eine Partei anfechten will und dazu - wie hier - ohne Anwalt einen Schriftsatz einreicht. Zwar betrachten es die Gerichte in vergleichbaren Fällen überwiegend als "nobile officium", durch Hinweise und andere Maßnahmen zur Heilung von Formmängeln beizutragen. Eine Rechts- oder Fürsorgepflicht dahin besteht jedoch nicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. November 1990 - XII ZB 141/90 - FamRZ 1991, 425; vom 2. Mai 1992 - XII ZB 3/92 - VersR 1992, 1154; vom 19. März 1997 - XII ZB 139/96 - NJW 1997, 1989).
Auch musste das Amtsgericht die Beklagte nicht darauf hinweisen, dass der Schriftsatz beim Landgericht einzureichen war. Es hatte ihn lediglich an das zuständige Gericht weiterzuleiten, das erforderlichenfalls Wiedereinsetzung gegen die Fristversäumung bewilligen konnte (vgl. BVerfGE aaO 115). Dieser Pflicht hat es genügt.
Nach diesen Grundsätzen war der Beklagten entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch nicht deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren, weil das Amtsgericht die Beklagte nicht darauf hingewiesen habe, dass für die Berufung Anwaltszwang besteht. Eines entsprechenden Hinweises bedurfte es - wie erwähnt - nicht.
b) Die Rechtsbeschwerde kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass eine Abwägung zwischen dem Interesse des Rechtssuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung und dem Interesse der Justiz an ihrer Funktionsfähigkeit jedenfalls dann zugunsten des Rechtssuchenden zu erfolgen habe, wenn das Gericht mit dem Verfahren selbst befasst gewesen sei. Es geht - anders als in dem vom Bundesverfassungsgericht aaO entschiedenen Fall - vorliegend nicht darum, dass das Amtsgericht die als Berufung der Beklagten zu wertende Eingabe verspätet weitergeleitet hätte. Die Rechtsbeschwerde übersieht, dass die Berufung der Beklagten im hier zu entscheidenden Fall schon deshalb unzulässig war, weil die Beklagte die Berufung ohne Beachtung des allgemeinen bekannten Anwaltszwangs selbst eingelegt hatte.
Eine nachwirkende Fürsorgepflicht des Amtsgerichts zu einem Hinweis auf die Formwidrigkeit des Rechtsmittels bestand nicht. Zuständig für die Bearbeitung dieser Eingabe war das Berufungsgericht, das auch für deren abschließende Auslegung (als Berufung oder als formfrei möglichen Prozesskostenhilfeantrag - was hier allerdings ausschied) berufen war. Das mit der Sache befasste Amtsgericht ist nicht zur Heilung von Formmängeln eines Rechtsmittels verpflichtet.
c) Nach allem hat das Landgericht eine Wiedereinsetzung in die Versäumung der Berufungsfrist ohne Rechtsfehler abgelehnt und zu Recht die Berufung der Beklagten im Schriftsatz vom 13. Dezember 2004 wegen Verstoß gegen §§ 78 Abs. 1 Satz 1, 519 Abs. 1 ZPO sowie die formgerecht eingelegte Berufung im Schriftsatz vom 19. Januar 2005 wegen Verfristung (§ 514 ZPO) als unzulässig verworfen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Ende der Entscheidung
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