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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 10.11.1998
Aktenzeichen: VI ZB 21/98
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 117 Abs. 2
ZPO § 519 b
ZPO § 234 Abs. 1 und Abs. 2
ZPO § 567 Abs. 4
ZPO § 114
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

VI ZB 21/98

vom

10. November 1998

in dem Rechtsstreit

Der VI Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Bischoff, Dr. v. Gerlach, Dr. Müller und Dr. Dressler

am 10. November 1998

beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin wird der Beschluß des 1. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 8. Juli 1998 aufgehoben.

Der Klägerin wird gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 19. Dezember 1997 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Beschwerdewert: 50.000 DM

Gründe

I.

Das klagabweisende Urteil des Landgerichts ist der Klägerin am 29. Dezember 1997 zugestellt worden. Mit am 29. Januar 1998 beim Berufungsgericht eingegangenem Schriftsatz ihrer zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten hat die Klägerin unter Beifügung der Erklärung gemäß § 117 Abs. 2 ZPO nebst Anlagen Prozeßkostenhilfe für die beabsichtigte Berufung gegen dieses Urteil beantragt. Im Antrag heißt es, die Unterzeichnende werde nach Akteneinsicht den Entwurf einer Berufungsschrift nebst Berufungsbegründung zur Darlegung der Erfolgsaussichten der Berufung nachreichen. Nach am 13. März 1998 mitgeteilter Bewilligung der Akteneinsicht sowie nachfolgender gerichtlicher Aufforderung zu deren Wahrnehmung und kurzfristiger Aushändigung der Akten an die Prozeßbevollmächtigte der Klägerin am 7. April 1998 hat das Berufungsgericht mit Beschluß vom 5. Mai 1998 den Prozeßkostenhilfeantrag mangels hinreichender Erfolgsaussicht zurückgewiesen. Gegen den am 12. Mai 1998 zugestellten Beschluß hat die Klägerin mit am 26. Mai 1998 eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt und nach gerichtlichem Hinweis auf deren Unzulässigkeit mit am 29. Mai 1998 eingegangenem Schriftsatz Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gestellt, Berufung eingelegt und erneut Prozeßkostenhilfe für das Berufungsverfahren beantragt. Hinsichtlich der Wiedereinsetzungsfrist hat sie geltend gemacht, daß ihr nach Zustellung des ablehnenden Beschlusses am 12. Mai 1998 noch eine Überlegungsfrist von drei bis vier Tagen zugestanden habe.

Mit Beschluß vom 8. Juli 1998 hat das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die beantragte Wiedereinsetzung werde schon daran scheitern müssen, daß die Prozeßbevollmächtigte der Klägerin versäumt habe, rechtzeitig den im Prozeßkostenhilfeantrag angekündigten Entwurf einer Berufungsbegründung einzureichen. Zwar entspreche es der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, daß der Antragsteller lediglich die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozeßkostenhilfe darzutun habe. Etwas anderes könne aber gelten, wenn der Entwurf einer Berufungsbegründung angekündigt werde und anschließend unterbleibe, obwohl der Prozeßbevollmächtigte erkennen müsse, daß ohne Beibringung der Begründung eine positive Bescheidung nicht zu erwarten sei. Aus der Aufforderung des Gerichts, die bewilligte Akteneinsicht wahrzunehmen, habe unschwer geschlossen werden können, daß aufgrund der Aktenlage mit einer positiven Bescheidung des Antrags nicht zu rechnen sei. Bei dieser Sachlage habe die Prozeßbevollmächtigte nach Bewilligung der Akteneinsicht nicht mehr als sechs Wochen ungenutzt verstreichen lassen dürfen. Habe sie jedoch ohne Einreichung des Entwurfs einer Berufungsbegründung nicht mit einer positiven Bescheidung des Prozeßkostenhilfeantrags rechnen können, so sei das Hindernis, das der Einlegung der Berufung entgegengestanden habe, nicht erst mit Zustellung des ablehnenden Beschlusses am 12. Mai 1998 entfallen, sondern schon Ende April 1998.

In jedem Fall stehe der von der Klägerin beantragten Wiedereinsetzung aber entgegen, daß die mit Zustellung dieses Beschlusses am 12. Mai 1998 in Lauf gesetzte Wiedereinsetzungsfrist nicht gewahrt sei. Die Klägerin könne sich nicht mit Erfolg darauf berufen, daß ihr nach Zugang dieses Beschlusses noch eine Überlegungsfrist von drei oder vier Tagen zugestanden habe, bevor die zweiwöchige Wiedereinsetzungsfrist zu laufen begonnen habe. Der Senat habe schon grundsätzlich Zweifel daran, ob eine solche Überlegungszeit überhaupt veranlaßt sei. Die herrschende Meinung, die eine solche Überlegungsfrist zubillige, begegne vor allem deswegen Bedenken, weil die Dauer einer solchen Überlegungsfrist nicht feststehe, sondern zwei bis vier Tage betragen könne und von den Umständen des Einzelfalls abhängen solle, was eine für den Fristbeginn unannehmbare Unsicherheit mit sich bringe. Jedenfalls halte der Senat eine solche zusätzliche Überlegungsfrist unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht für angezeigt, weil der Prozeßkostenhilfeantrag durch eine Rechtsanwältin eingereicht worden sei, die Akteneinsicht erbeten und erhalten sowie die Übersendung des Entwurfs einer Berufungsbegründung angekündigt habe, mit dessen Erstellung sie offensichtlich schon betraut gewesen sei. Die Nichteinhaltung der Zwei-Wochen-Frist könne auch nicht mit der von der Klägerin "erst im Nachhinein reklamierten zusätzlichen Überlegungsfrist" gerechtfertigt werden, weil sich die Klägerin nach Erhalt des die Gewährung von Prozeßkostenhilfe ablehnenden Beschlusses entschlossen habe, die Berufung ggf. auf eigene Kosten durchzuführen. Bei dieser Vorgabe hätte ihre Prozeßbevollmächtigte spätestens zwei Wochen nach Zustellung des ablehnenden Beschlusses Berufung einlegen müssen. Wenn sie statt dessen mittels einer unzulässigen sofortigen Beschwerde weiterhin um Prozeßkostenhilfe nachgesucht und erst auf Hinweis des Vorsitzenden auf deren Unzulässigkeit Berufung eingelegt und Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt habe, stelle dies eine Säumnis dar, die auf einem Verschulden der Prozeßbevollmächtigten beruhe und deshalb der Klägerin zuzurechnen sei.

Gegen diesen Beschluß hat die Klägerin sofortige Beschwerde eingelegt, mit der sie geltend macht, im Prozeßkostenhilfeantrag sei das Gesuch um Akteneinsicht gestellt worden, weil sie damals mit der Gewährung einer finanziellen Unterstützung durch ihren Bruder zur Deckung des anwaltlichen Kostenvorschusses gerechnet habe, die jedoch nicht erfolgt sei. Mangels Vorschuß sei ihre Prozeßbevollmächtigte nicht gehalten gewesen, Akteneinsicht zu nehmen und die Erfolgsaussichten der Berufung zu prüfen. Sie sei deshalb durch Mittellosigkeit an der Einhaltung der Berufungsfrist gehindert gewesen. Ihr Wiedereinsetzungsantrag sei auch rechtzeitig, weil ihr nach Kenntnis des die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe ablehnenden Beschlusses nach gefestigter Rechtsprechung vor Beginn der Wiedereinsetzungsfrist noch eine Überlegungszeit von drei bis vier Tagen zugestanden habe. Hilfsweise hat die Klägerin beantragt, ihr gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

II.

Das gemäß § 519 b ZPO statthafte und auch form- und fristgerecht eingelegte Rechtsmittel erweist sich als begründet.

1. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat die Klägerin die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag, die nach § 234 Abs. 1 ZPO zwei Wochen beträgt, nicht versäumt. Diese Frist beginnt gemäß § 234 Abs. 2 ZPO mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben worden ist. Für den Beginn dieser Frist ist, wie das Berufungsgericht im Ansatz auch nicht verkannt hat, nicht auf die Zustellung des die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe ablehnenden Beschlusses am 12. Mai 1998 abzuheben, weil durch diesen Beschluß die Prozeßkostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussichten versagt worden war. In einem solchen Fall steht dem Antragsteller vor Beginn der Frist des § 234 ZPO nämlich noch eine zusätzliche kurze Frist für die Überlegung zu, ob er das Rechtsmittel auf eigene Kosten durchführen will (BGHZ 4, 55, 57/58; 26, 99, 100; 41, 1; Senatsbeschluß vom 6. Februar 1979 - VI ZR 13/79 - VersR 1979, 444; BGH, Beschlüsse vom 30. April 1982 - V ZB 6/82 - VersR 1982, 757; vom 28. November 1984 - IV b ZB 119/84 - NJW 1986, 257, 258 und vom 8. November 1989 - IV b ZB 110/89 - NJW-RR 1990, 451, jeweils m.w.N.). Soweit das Berufungsgericht die Zubilligung einer solchen Überlegungsfrist unter Hinweis auf eine im Schrifttum vertretene Auffassung (Müko-Feiber, ZPO § 233 Rn. 44, § 234 Rn. 25) schon vom Grundsatz her in Zweifel zieht, verkennt es, daß die Gewährung dieser Frist auf dem verfassungsrechtlichen Gebot der prozessualen Chancengleichheit von bemittelten und mittellosen Parteien beruht, wie im folgenden näher auszuführen ist (unten 2.). Die angemessene Dauer der erforderlichen Überlegungsfrist ist im vorliegenden Fall mit drei Werktagen jedenfalls nicht überschritten. Diese zusätzliche Überlegungsfrist ist auch nicht dadurch in Wegfall geraten, daß die Klägerin gegen den Beschluß vom 12. Mai 1998 zunächst eine gem. § 567 Abs. 4 ZPO unzulässige Beschwerde eingelegt hat. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts stand der Zubilligung einer Überlegungsfrist auch nicht entgegen, daß die Prozeßbevollmächtigte der Klägerin bereits mit dem Prozeßkostenhilfeantrag Akteneinsicht erbeten und die Einreichung des Entwurfs einer Berufungsbegründung angekündigt hatte. Insoweit hat die Klägerin im Beschwerdeverfahren (§ 570 ZPO) geltend gemacht, der Hinweis auf die beabsichtigte Berufungsbegründung im Prozeßkostenhilfeantrag sei deshalb erfolgt, weil sie seinerzeit gehofft habe, mit familiärer Unterstützung den für die anwaltliche Prüfung der Erfolgsaussicht erforderlichen Prozeßkostenvorschuß aufbringen zu können. Ob dieses Vorbringen einer besonderen Glaubhaftmachung nach § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO bedarf und ob insoweit der Vortrag durch die Prozeßbevollmächtigte der Klägerin ausreicht, kann dahinstehen, weil von der Klägerin bereits aus den nachstehend dargelegten Gründen vor Entscheidung über das Prozeßkostenhilfegesuch eine Darlegung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels nicht verlangt werden konnte.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittelfrist unter Beifügung der erforderlichen Unterlagen (vgl. hierzu Senatsbeschluß vom 16. Dezember 1997 - VI ZB 48/97 - NJW 1998, 1231) die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über den Antrag solange als ohne sein Verschulden an der Einlegung des Rechtsmittels verhindert anzusehen, als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen muß (BGH, Beschluß vom 11. November 1992 - XII ZB 118/92 - NJW 1993, 732, 733). Deshalb ist bei der Entscheidung der Frage, ob nach einer Verweigerung der beantragten Prozeßkostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist gewährt werden kann, grundsätzlich nur darauf abzuheben, ob der Antragsteller sich ohne Verschulden für bedürftig im Sinn des § 114 ZPO halten durfte. Das gilt auch, wenn die Prozeßkostenhilfe wie im vorliegenden Fall nicht mangels Bedürftigkeit, sondern mangels Erfolgsaussicht des beabsichtigten Rechtsmittels versagt worden ist (BVerfGE 22, 83, 86 = NJW 1967, 1267; BGH, Beschlüsse vom 6. Juli 1988 - IV b ZB 147/87 - FamRZ 1988, 1152, 1153 und vom 11. November 1992 - aaO). Aufgrund der von der Klägerin dargelegten Einkommensverhältnisse durfte sie sich im Sinn der genannten Rechtsprechung für bedürftig halten, zumal sie auf die von ihr erhoffte familiäre Unterstützung nach ihrem Vorbringen keinen Anspruch hatte und diese tatsächlich auch nicht gewährt worden ist. Bei dieser Sachlage konnte sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragen, nachdem das Berufungsgericht über den Prozeßkostenhilfeantrag entschieden hatte. Voraussetzung hierfür war lediglich, daß sie innerhalb der Rechtsmittelfrist alles Erforderliche getan hatte, damit aufgrund der von ihr eingereichten Unterlagen ohne Verzögerung über das Gesuch entschieden werden konnte (vgl. Senatsbeschluß vom 16. Dezember 1997 - aaO m.w.N.). Über diese Unterlagen hinaus war, wie der Bundesgerichtshof im Beschluß vom 11. November 1992 (aaO) eingehend dargelegt hat, eine sachliche Begründung des Prozeßkostenhilfegesuchs nicht erforderlich. Wenn auch eine solche Begründung in bezug auf ein beabsichtigtes Rechtsmittel zweckmäßig und erwünscht sein mag, wäre ein Zwang hierzu mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der prozessualen Chancengleichheit von bemittelten und mittellosen Parteien nicht zu vereinbaren. Da eine bedürftige Partei nämlich nicht über die Mittel verfügt, um einen Rechtsanwalt durch Zahlung des erforderlichen Kostenvorschusses mit der Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu beauftragen, würde sie gegenüber einer bemittelten Partei benachteiligt, wenn der Erfolg ihres Prozeßkostenhilfegesuchs von einer Darlegung der Erfolgsaussichten abhängig gemacht würde, deren sachgerechte Beurteilung juristische Sachkunde erfordert. Die Prozeßbevollmächtigte der Klägerin war auch nicht gehalten, ohne Kostenvorschuß und vor einer Beiordnung durch das Gericht die erforderliche Sach- und Rechtsprüfung für die Klägerin vorzunehmen (vgl. §§ 17, 127 BRAGO sowie BGH, Beschluß vom 11. November 1992 - aaO). Deshalb war das Berufungsgericht auch im Hinblick auf die im Prozeßkostenhilfeantrag angekündigte Einreichung des Entwurfs einer Berufungsbegründung nicht der erforderlichen eigenen Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels nach § 117 ZPO enthoben und hat im übrigen diese Prüfung im Beschluß vom 5. Mai 1998 - wenn auch denkbar kurz - vorgenommen. Bei dieser Sachlage kann es aus den dargelegten Gründen nicht der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegenstehen, daß die Klägerin infolge ihrer Bedürftigkeit die zunächst angekündigte Darlegung der Erfolgsaussichten unterlassen hat.

III.

Nach alldem war der Klägerin auf den am 29. Mai 1998 fristgerecht eingegangenen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu bewilligen. Soweit das Berufungsgericht in Erwägung zieht, ob schon dieser Schriftsatz eine Berufungsbegründung hätte enthalten müssen, ist darauf hinzuweisen, daß mit diesem Schriftsatz gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO die versäumte Einlegung der Berufung nachgeholt worden ist, während für die Begründung der Berufung die Monatsfrist des § 519 Abs. 2 Satz 2 ZPO gilt.



Ende der Entscheidung

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