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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 05.10.2004
Aktenzeichen: VI ZB 30/04
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 238 Abs. 2
ZPO § 520 Abs. 2 Satz 3
ZPO § 522 Abs. 1 Satz 4
ZPO § 574 Abs. 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

VI ZB 30/04

vom 5. Oktober 2004

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. Oktober 2004 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll

beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluß der 1. Zivilkammer des Landgerichts Kaiserslautern vom 22. März 2004 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 1.256,92 €

Gründe:

I.

Mit Urteil vom 6. August 2003, dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 11. August 2003, hat das Amtsgericht die auf Zahlung restlichen Schadensersatzes gerichtete Klage abgewiesen. Gegen das Urteil hat der Kläger am 4. September 2003 Berufung eingelegt und mit Schriftsatz vom 9. Oktober 2003 erstmalig beantragt, die Frist zur Begründung der Berufung bis einschließlich 13. November 2003 zu verlängern. Zur Begründung hat er ausgeführt, daß die Angelegenheit noch nicht abschließend besprochen werden konnte. Der Schriftsatz weist den Eingangsstempel vom 14. Oktober 2003 auf. Nach einem richterlichen Hinweis auf den verspäteten Eingang des Fristverlängerungsantrags hat der Kläger fristgemäß mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2003, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufung begründet. Unter Vorlage der eidesstattlichen Versicherung der Kanzleiangestellten S. seines Prozeßbevollmächtigten hat er vorgetragen, daß der Antrag auf Fristverlängerung innerhalb laufender Frist bereits am Freitag, dem 10. Oktober 2003 von der Kanzleiangestellten persönlich in der Postannahmestelle des Gerichts abgegeben worden sei. Der Justizbeamte, der den Eingangsstempel auf den Verlängerungsantrag aufgebracht hat, kann sich nach der vom Landgericht eingeholten dienstlichen Stellungnahme an den Vorgang nicht erinnern. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers wurde vom Berichterstatter der Berufungskammer aufgefordert, die Aktenzeichen der gleichzeitig von der Kanzleiangestellten zu Gericht gebrachten Schriftstücke zu benennen und Fotokopien der einschlägigen Seiten seines Postausgangsbuches vorzulegen. Dem ist der Prozeßbevollmächtigte ohne weitere Angaben nicht nachgekommen.

Mit Beschluß vom 22. März 2004 hat das Landgericht den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist und das Wiedereinsetzungsgesuch des Klägers zurückgewiesen und zugleich die Berufung als unzulässig verworfen. Gegen den seinem Prozeßbevollmächtigten am 23. März 2004 zugestellten Beschluß wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.

II.

1. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, daß der Antrag auf Fristverlängerung nicht vor Ablauf der am Montag, dem 13. Oktober 2003, um 24.00 Uhr endenden Berufungsbegründungsfrist bei Gericht eingegangen ist. Dafür erbringe der gerichtliche Eingangsstempel als öffentliche Urkunde vollen Beweis. Zwar könne dieser durch den Gegenbeweis entkräftet werden, doch sehe die Kammer keine Grundlage für eine Zeugenvernehmung der Kanzleiangestellten und des zuständigen Justizwachtmeisters, nachdem der Prozeßbevollmächtigte des Klägers den Aufforderungen zur Vorlage der der Sachverhaltsaufklärung dienenden Schriftstücke ohne Angabe von Gründen nicht nachgekommen sei.

Dem Antrag auf Wiedereinsetzung könne nicht stattgegeben werden. Der Prozeßbevollmächtigte habe nicht dargelegt, daß er darauf habe vertrauen dürfen, daß die Kanzleiangestellte S. die ihr übertragenen Aufgaben zuverlässig erledigen und ihm Auskunft darüber erteilen würde. Auch habe er sich vor Fristablauf und Eintragung des Erledigungsvermerks im Fristenkalender erkundigen müssen, ob die Verlängerung tatsächlich gewährt worden sei. Daß der von ihm genannte Grund einer noch nicht ausreichenden Besprechungsmöglichkeit als ausreichend für die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist angesehen werden würde, habe dem Prozeßbevollmächtigten in jedem Fall zweifelhaft erscheinen müssen.

2. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft nach §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Nr. 1, 238 Abs. 2 ZPO. Sie ist fristgerecht eingelegt und auch im übrigen zulässig, da die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

a) Die Frage der Zulässigkeit der Berufung hat das Berufungsgericht von Amts wegen zu prüfen (§ 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Hat es insoweit Zweifel, die sich auf andere Weise nicht beheben lassen, so muß es versuchen, diese Unklarheiten durch Erhebung geeigneter Beweise zu beseitigen. Dabei genügt die einfache Glaubhaftmachung (§ 294 ZPO), für die schon eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des behaupteten Geschehensablaufes ausreicht, nicht (vgl. BGHZ 93, 300, 306; BGH, Beschluß vom 17. Mai 1989 - IVa ZB 6/89 = BGHR ZPO § 236 Abs. 2 Satz 1, Glaubhaftmachung 1). Vielmehr ist der volle Beweis notwendig.

Für die Rechtzeitigkeit oder Verspätung eines fristgebundenen Schriftsatzes erbringt zwar der gerichtliche Eingangsstempel als öffentliche Urkunde den vollen Beweis (§ 418 Abs. 1 ZPO). Er kann allerdings durch den Gegenbeweis entkräftet werden (§ 418 Abs. 2 ZPO). Beweisbelastet ist insofern die Partei, die sich auf den rechtzeitigen Eingang eines Rechtsmittels oder sonstigen fristgebundenen Schriftstückes beruft (vgl. BGH, Beschluß vom 26. März 1981 - IVa ZB 4/81 - NJW 1981, 1789). Vom Beweisverfahren in der Sache selbst unterscheidet sich die Beweiserhebung über verfahrensrechtliche Umstände, insbesondere über die Zulässigkeit von Anträgen und Rechtsmitteln, nur dadurch, daß es sich hierbei um einen Freibeweis handelt, mithin das Gericht von einem Beweisantritt der Parteien unabhängig und auf die gesetzlichen Beweismittel nicht beschränkt ist (BGH, Beschluß vom 9. Juli 1987 - VII ZB 10/86 - NJW 1987, 2875 unter II. 1. b der Gründe, m.w.N.). Hängt die Zulässigkeit der Berufung nicht unmittelbar vom Eingang der Rechtsmittelbegründung ab, sondern - wie hier - vom Eingang des Antrages auf Verlängerung der Begründungsfrist, so gilt für die Prüfung der betreffenden Tatsachen nichts anderes.

b) Im vorliegenden Fall hätte das Berufungsgericht über die Umstände, die der Kläger in seinem Wiedereinsetzungsgesuch zur Wahrung der Berufungsbegründungsfrist vorgetragen hat, Beweis erheben müssen und erst dann über den Verlängerungsantrag sowie die Zulässigkeit der Berufung entscheiden dürfen. Zwar hat sich das Berufungsgericht in dem angefochtenen Beschluß mit dem tatsächlichen Vorbringen des Klägers auseinandergesetzt, dabei hat es aber lediglich die Frage der Glaubhaftmachung anhand der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung geprüft. Es ist nicht von vornherein auszuschließen, daß eine Beweisaufnahme, die sich nach Lage der Dinge vor allem auf die Vernehmung der Kanzleiangestellten S. sowie des Justizbeamten, der den Eingangsstempel aufgebracht hat, konzentrieren wird, trotz der gegenüber der Glaubhaftmachung strengeren Anforderungen zu einem anderen, für den Kläger günstigeren Ergebnis führen kann. Erst wenn das Berufungsgericht bei dieser erneuten Prüfung nicht die Überzeugung von der Rechtzeitigkeit des Fristverlängerungsantrages gewinnt, muß von einer Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ausgegangen werden. Schon deshalb ist der angefochtene Beschluß aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zurückzuverweisen.

3. Im Hinblick auf die Ausführungen des Berufungsgerichts zum Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, auf den es im Falle der Rechtzeitigkeit des Antrags auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist ankäme, weil zum Zeitpunkt der Berufungsbegründung die Frist mangels einer Verlängerung verstrichen wäre, weist der Senat auf folgendes hin:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann ein Rechtsanwalt in aller Regel erwarten, daß seinem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, wenn ein erheblicher Grund im Sinne des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO geltend gemacht wird (vgl. dazu insbesondere BGH, Beschluß vom 5. Juli 1989 - IVb ZB 53/89 - VersR 1989, 1064; vom 2. November 1989 - III ZB 49/89 = BGHR ZPO § 233, Fristverlängerung 3 und 4 und vom 28. November 2002 - III ZB 45/02 - BGHReport 2003, 459). Davon geht auch das Berufungsgericht aus. Doch begegnet die Auffassung rechtlichen Bedenken, daß der Rechtsanwalt unter den Umständen des vorliegenden Falles eine Erkundigungspflicht nach dem Erfolg seines Antrags gehabt habe. Auch wenn die Begründung des Verlängerungsantrags nach der Auffassung des Berufungsgerichts zu pauschal und wenig aussagekräftig ist, durfte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers darauf vertrauen, daß die beantragte Fristverlängerung nicht ohne "Vorwarnung" abgelehnt wird, wenn der Antrag nach der Behauptung des Klägers zwei Tage vor Fristablauf bei Gericht eingereicht worden ist (vgl. BVerfG, NJW 1998, 3703; BGH, Beschluß vom 1. August 2001 - VIII ZB 24/01 - NJW 2001, 3552; vom 19. Januar 2000 - XII ZB 22/99 - NJW-RR 2000, 799 und vom 11. November 1998 - VIII ZB 24/98 - NJW 1999, 430; vgl. v. Pentz, NJW 2003, 858 ff., 863).

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