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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 15.06.2004
Aktenzeichen: VI ZB 75/03
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 233 A
a) Es besteht keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen und vorher mit der Sache noch nicht befaßten Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern.

b) Ein etwaiges Verschulden der Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten wirkt sich nur dann nicht mehr aus, wenn die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann.


BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

VI ZB 75/03

vom 15. Juni 2004

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. Juni 2004 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll

beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluß des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 30. Oktober 2003 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 2.969,38 €.

Gründe:

I.

Die Klägerin, eine in den Niederlanden ansässige Versicherungsgesellschaft, nahm den Beklagten aus übergegangenem Recht auf Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Das vom Kläger angerufene Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen das am 17. Februar 2003 zugestellte Urteil legte die Klägerin mit einem am 21. Februar 2003 eingegangenen Schriftsatz beim Landgericht Berufung ein. Am 25. Februar 2003 verfügte der Vorsitzende der Berufungskammer die Wiedervorlage auf den Eingang der Berufungsbegründungsschrift, spätestens auf den 18. April 2003. Die von der Berufungskammer angeforderten Akten gingen am 7. März 2003 beim Landgericht ein. Nachdem die Klägerin die Berufung mit einem am 17. April 2003 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz begründet hatte, wurden die Akten nach Eingang des Originals der Berufungsbegründungsschrift dem Vorsitzenden am 22. April 2003 vorgelegt.

Mit Beschluß vom 16. September 2003 hat die Berufungskammer die Sache auf den Einzelrichter übertragen, der eine mündliche Verhandlung auf den 9. Oktober 2003 anberaumt hat. Am Terminstag beantragte die Klägerin, nachdem ihr Prozeßbevollmächtigter am 8. Oktober 2003 auf die fehlende funktionelle Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes hingewiesen worden war, die Abgabe des Verfahrens an das Oberlandesgericht und beantragte zugleich, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsfrist zu gewähren. Im Anschluß an die mündliche Verhandlung hat das Landgericht das Verfahren an das Oberlandesgericht abgegeben, wo die Akten am 18. Oktober 2003 eingegangen sind.

Das Oberlandesgericht hat mit dem angefochtenen Beschluß die Berufung als unzulässig verworfen und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zurückgewiesen. Die an das Landgericht adressierte Berufungsschrift habe die Frist zur Einlegung der Berufung nicht gewahrt, weil sie beim funktionell unzuständigen Gericht eingegangen sei. In der von dem Amtsgericht verhandelten bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit sei wegen der Beteiligung einer Person, die im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit ihren allgemeinen Gerichtsstand nicht im Geltungsbereich des GVG hatte, das Oberlandesgericht zuständig gewesen (§ 119 Abs. 1 Nr. 1 b GVG). Die Berufung hätte deshalb beim Oberlandesgericht eingelegt werden müssen (§ 519 Abs. 1 ZPO).

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren, weil der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin die Versäumung verschuldet habe. Ihm hätte die Gesetzesänderung, die zur fraglichen Zeit bereits seit über einem Jahr in Kraft gewesen sei, bekannt sein müssen. Die Klägerin könne sich nicht darauf berufen, daß das Landgericht ihre Berufung innerhalb der Berufungsfrist an das zuständige Oberlandesgericht hätte weiterleiten müssen. Denn allein aus der Berufungsschrift und dem ihr beigefügten angefochtenen Urteil habe die funktionelle Unzuständigkeit des angerufenen Landgerichts nicht zweifelsfrei entnommen werden können. Die Berufungsschrift habe den Geschäftssitz der Klägerin nämlich mit G. in Deutschland und nicht wie im Urteil mit A. in den Niederlanden bezeichnet. Ohne nähere Kenntnis des Akteninhaltes und der Berufungsbegründungsschrift habe eine Entscheidung darüber, wo der Geschäftssitz der Klägerin zur Zeit der Rechtshängigkeit gelegen sei, nicht getroffen werden können.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 ZPO statthaft und zur Fortbildung des Rechts zulässig, aber nicht begründet.

1. Die Rechtsbeschwerde wendet sich nicht gegen die Annahme des Berufungsgerichts, daß die Frist zur Einlegung der Berufung versäumt worden sei. Sie meint jedoch, das Berufungsgericht habe den Umfang der Fürsorgepflicht des vom Rechtsmittelführer angerufenen unzuständigen Gerichts und damit die Tragweite des aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren verkannt und deswegen rechtsfehlerhaft keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Damit hat sie keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu Recht nicht gewährt, weil die Fristversäumung nicht unverschuldet ist (§ 233 ZPO). Die Beklagte muß sich das Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 85 Abs. 2 ZPO), welches darin liegt, daß er die Berufung bei einem unzuständigen Gericht eingelegt hat.

a) In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß ein unzuständiges Gericht jedenfalls dann, wenn es vorher selbst mit der Sache befaßt war, aufgrund der nachwirkenden Fürsorgepflicht gehalten ist, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Geht der Schriftsatz so rechtzeitig ein, daß eine fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, wirkt sich ein Verschulden der Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten nicht mehr aus (vgl. BVerfG, BVerfGE 93, 99, 112 ff. und NJW 2001, 1343; BGH, Urteile vom 12. Oktober 1995 - VII ZR 8/95 - NJW-RR 1996, 443 und vom 1. Dezember 1997 - II ZR 85/97 - VersR 1998, 608, 609; Beschlüsse vom 3. September 1998 - IX ZB 46/98 - VersR 1999, 1170, 1171; vom 27. Juli 2000 - III ZB 28/00 - NJW-RR 2000, 1730, 1731 und vom 26. Oktober 2000 - V ZB 32/00 - juris).

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht hingegen keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen rechtzeitig eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. So kann keine "vorbeugende Fürsorgepflicht" des lediglich für die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens in Notarverwaltungssachen zuständigen Bundesgerichtshofs statuiert werden, außerhalb normaler Geschäftsabläufe bei ihm eingehende Beschwerdeschriften an die für die Rechtsmitteleinlegung zuständigen Oberlandesgerichte weiterzuleiten (vgl. BGH, Beschluß vom 29. November 1999 - NotZ 10/99 - NJW 2000, 737 f.).

c) Auch nach Auffassung des Senats besteht keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen und vorher mit der Sache noch nicht befaßten Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen rechtzeitig eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf sich die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, nicht nur an dem Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muß auch berücksichtigen, daß die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muß. Danach muß der Partei und ihrem Prozeßbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden (vgl. BVerfGE 93, 99, 114; BVerfG NJW 2001, 1343). Deshalb nimmt das Bundesverfassungsgericht selbst dann, wenn der fristgebundene Schriftsatz bei dem "mit der Sache befaßt gewesenen Gericht" eingegangen ist, nur dann an, daß sich ein etwaiges Verschulden der Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten nicht mehr auswirke, wenn die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann. In diesem Fall tritt nämlich eine ins Gewicht fallende Belastung des Gerichts nicht ein.

Nach diesen Grundsätzen ist die Abwägung des Berufungsgerichts, aufgrund derer es den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen hat, unter den Umständen des vorliegenden Falls nicht zu beanstanden. Das für die Einlegung der Berufung unzuständige Landgericht war vorher mit dem Fall noch nicht befaßt. In der Berufungsschrift waren sowohl für die Klägerin als auch für den Beklagten Anschriften in Deutschland angegeben. Daher erschien grundsätzlich das Landgericht für die Berufung zuständig, so daß sich aus der Berufungsschrift keine Besonderheit für den Vorsitzenden ergab. Auch wenn sich aus dem Rubrum der der Berufungsschrift beigefügten Ablichtung des angefochtenen amtsgerichtlichen Urteils ergab, daß die Klägerin möglicherweise ihren Sitz in A. hatte, war die Unzuständigkeit des erstmals mit der Sache befaßten Landgerichts nicht "ohne weiteres" oder "leicht und einwandfrei" (so BVerfG NJW 2002, 3692, 3693) erkennbar. Im Gegensatz zu dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, der vor Einlegung der Berufung die Zuständigkeit des Berufungsgerichts prüfen mußte, war der Vorsitzende nicht gehalten, bereits zu diesem Zeitpunkt die funktionelle Zuständigkeit des Gerichts zu prüfen. Da die funktionelle Unzuständigkeit des Landgerichts nicht ohne weiteres zu erkennen war, entsprach es durchaus dem normalen Geschäftsablauf, daß die rechtliche Prüfung erst nach Eingang der Berufungsbegründung durch den die Angelegenheit bearbeitenden Richter vorgenommen wurde. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde verletzte dieses dem normalen Geschäftsablauf entsprechende Verfahren nicht die Fürsorgepflicht des Gerichts.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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