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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 21.07.1998
Aktenzeichen: VI ZR 15/98
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 286 A
ZPO § 387
ZPO §§ 286 A, 287

Das Gericht hat sich seine Überzeugung, ob ein bei einem Kind vorliegender Hirnschaden auf eine ärztliche Fehlbehandlung durch den Geburtshelfer zurückzuführen ist, auf der Grundlage des § 286 Abs. 1 ZPO zu bilden. Die als Auswirkung der Schädigung geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen stellen keine nach § 287 Abs. 1 ZPO zu beurteilenden Folgeschäden dar.

BGH, Urteil vom 21. Juli 1998 - VI ZR 15/98 - OLG Köln LG Köln


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 15/98

Verkündet am: 21. Juli 1998

Holmes Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juli 1998 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Bischoff, Dr. v. Gerlach, Dr. Müller und Dr. Dressler

für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 15. Dezember 1991 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision fallen dem Kläger zur Last.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Kläger wurde am 27. März 1979 in der geburtshilflichen Abteilung des Krankenhauses in P. durch Kaiserschnitt geboren und nach circa 45 Minuten in die pädiatrische Abteilung der Klinik verlegt. Die vorläufige Diagnose lautete auf "primäre postpartale Asphyxie bei Zustand nach Sectio wegen intrauteriner Asphyxie". Nach Inkubatorpflege, Pufferung mit Bicarbonat, Schockbehandlung mit Humanalbumin und anschließender Infusion einer Glukoselösung erholte sich der Kläger rasch. Am 3. April 1979 wurde er in das Neugeborenenzimmer zurückverlegt.

Im weiteren Entwicklungsverlauf zeigten sich bei dem Kläger Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität, Legasthenie sowie Sprach- und Bewegungsstörungen; ferner trat eine Lebensmittelallergie auf. Der Kläger führt diese Erscheinungen auf eine fehlerhafte Geburtsleitung, insbesondere eine zu spät vorgenommene Schnittentbindung, seitens der bei der Krankenhausträgerin, der Beklagten zu 1, als Ärzte angestellten Beklagten zu 3 und 4 zurück. Deren Fehlverhalten habe bei ihm zu einer hypoxischen Asphyxie und, damit zusammenhängend, zu einer Hirnschädigung geführt.

Am 29. Oktober 1992 unterzeichneten die Eltern des Klägers im eigenen Namen und als Vertreter des Klägers gegenüber dem Haftpflichtversicherer der Beklagten ein als "Teilvergleichs- und Abfindungserklärung" bezeichnetes Schriftstück, in dem sie sich gegen Zahlung von 110.000 DM wegen aller Ansprüche aus Anlaß des Schadensfalles vom 27. März 1979 gegen das Krankenhaus und dort tätige Mitarbeiter endgültig abgefunden erklärten, soweit es sich um Ansprüche bis einschließlich Oktober 1992 handelte. Ausdrücklich vorbehalten blieben in der Erklärung alle materiellen Ersatzansprüche ab 1. November 1992.

Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger geltend gemacht, er sei infolge der verzögerten Sprachentwicklung sowie der Schreib- und Leseschwäche in seinem schulischen Fortkommen stark beeinträchtigt und müsse deshalb ein auswärtiges Internat besuchen. Zum Ausgleich der hierfür anfallenden Kosten hat er die Zahlung einer monatlichen Mehrbedarfsrente für die Dauer der Schulzeit, die Erstattung der Aufwendungen für eine besondere Ernährung und für die Behandlung durch eine Heilpraktikerin sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten hinsichtlich des materiellen Schadens nach dem Ende der Schulausbildung begehrt. Über das letztgenannte Feststellungsbegehren hat das Landgericht am 13. Juli 1994 ein Teil-Anerkenntnisurteil erlassen. Im übrigen hat das Gericht durch Urteil vom 23. Oktober 1996 die Klage mit der Begründung abgewiesen, daß von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen der fehlerhaften Geburtsleitung und den vom Kläger vorgetragenen Beeinträchtigungen nicht ausgegangen werden könne.

Mit seiner Berufung hat der Kläger, der inzwischen seine Schulausbildung mit der mittleren Reife abgeschlossen hatte, unter Rücknahme der früher gestellten Klageanträge allein noch die Feststellung begehrt, daß die Beklagten verpflichtet seien, ihm ab 29. Oktober 1992 alle materiellen Schäden zu ersetzen, die daraus entstanden seien, daß es bei ihm infolge fehlerhafter Geburtsleitung am 27. März 1979 zu einer minimalen cerebralen Dysfunktion gekommen sei, die sich in Form der geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen äußere. Das Oberlandesgericht hat die Berufung durch Urteil vom 15. Dezember 1997 zurückgewiesen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die (zugelassene) Revision des Klägers, mit der er sein Begehren aus dem Berufungsrechtszug weiterverfolgt.

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht hat einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem nicht mehr im Streit befindlichen ärztlichen Fehler bei der Geburtsleitung und den vom Kläger im vorliegenden Verfahren geltend gemachten, vom Berufungsgericht als Folgeschäden einer Hirnschädigung eingeordneten Störungen nicht festzustellen vermocht. Dem Kläger sei es schon nicht gelungen, die Kausalität der verspäteten Sectio für die von ihm behauptete Hirnschädigung als Primärschaden nach § 286 ZPO zu beweisen. Ihm habe insoweit die Beweislast oblegen, da nicht von einem schweren Behandlungsfehler auf seiten der Beklagten ausgegangen werden könne, so daß eine Beweislastumkehr zugunsten des Klägers nicht in Betracht komme. Darüber hinaus fehle es auch an dem Nachweis eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Fehler bei der Geburtsleitung und den vom Kläger behaupteten Folgeschäden. Zwar gelte insoweit der herabgesetzte Beweismaßstab des § 287 ZPO; auch hiernach sei jedoch der Beweis nicht erbracht. Dem Kläger werde die Beweisführung auch nicht durch die Abfindungserklärung vom 29. Oktober 1992 erleichtert. Denn dieser Erklärung könne eine generelle Anerkennung der Haftung durch die Beklagten dem Grunde nach nicht entnommen werden.

II.

Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.

1. Mit Recht wendet sich die Revision allerdings gegen die Ansicht des Berufungsgerichts, bei der vom Kläger auf den ärztlichen Behandlungsfehler zurückgeführten minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD) und den daraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen handele es sich um Folgeschäden der vom Kläger behaupteten Hirnschädigung, die unter dem Gesichtspunkt der haftungsausfüllenden Kausalität nach dem Beweismaßstab des § 287 ZPO zu beurteilen seien.

a) Wie auch das Berufungsgericht letztlich nicht verkennt, hat der Kläger die Ursächlichkeit des Geburtsleitungsfehlers für den von ihm behaupteten hypoxisch-ischämischen Hirnschaden als sogenannten "Primärschaden" nach Maßgabe des § 286 Abs. 1 ZPO zu beweisen. Denn bei dem Hirnschaden handelt es sich um die als erster Verletzungserfolg geltend gemachte Schädigung des nach § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsguts der körperlichen Integrität. Die kausale Verknüpfung dieses Schadens mit dem Verhalten des Schädigers gehört deshalb als Element der Einstandspflicht der Beklagten zum Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. Senatsurteil vom 24. Juni 1986 - VI ZR 21/85 - VersR 1986, 1121, 1122 f.).

b) Erster Verletzungserfolg ist aber im Streitfall entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts, wie die Revision zutreffend ausführt, nicht lediglich die von ihren Symptomen abstrahierte Gehirnschädigung des Klägers, sondern der von ihm behauptete Hirnschaden in seiner konkreten Ausprägung, d.h. mit den vom Kläger als Auswirkung geltend gemachten Beeinträchtigungen seines gesundheitlichen Befindens. Die vom Kläger behaupteten Verhaltensstörungen sind also nicht lediglich Folgeschäden der Hirnschädigung; sie stellen den vom Kläger nach § 286 Abs. 1 ZPO zu beweisenden streitgegenständlichen Hirnschaden selbst dar (vgl. auch Senatsurteil vom 28. Juni 1988 - VI ZR 210/87 - VersR 1989, 145).

2. Die fehlerhafte beweisrechtliche Einordnung der vom Kläger geltend gemachten hirnorganischen Funktionsstörungen durch das Berufungsgericht vermag der Revision jedoch nicht zum Erfolg zu verhelfen.

a) Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsverstoß zu der Überzeugung gelangt, daß der Kläger die von ihm nach § 286 Abs. 1 ZPO zu beweisende Ursächlichkeit des zwischen den Parteien nicht mehr streitigen Geburtsleitungsfehlers, nämlich des zu spät durchgeführten Kaiserschnitts, für den von ihm als Basis der Haftung der Beklagten behaupteten Hirnschaden nicht nachzuweisen vermocht hat.

Daß an die Beweisführung zur Kausalität nach § 286 Abs. 1 ZPO strengere Anforderungen zu stellen sind als nach dem Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO, wird von der Revision nicht in Frage gestellt. Sie rügt vielmehr allein, daß das Berufungsgericht den ärztlichen Geburtsleitungsfehler auf seiten der Beklagten rechtsfehlerhaft nicht als groben Behandlungsfehler gewichtet hat und deshalb nicht zugunsten des Klägers von einer Beweislastumkehr ausgegangen ist. Damit kann die Revision jedoch keinen Erfolg haben.

aa) Dem von der Revision gegen die tatrichterliche Würdigung ins Feld geführten Vorbringen des Klägers aus der Berufungsbegründung, es sei immer klar gewesen, daß es sich bei den Fehlern der Beklagten um grobe Behandlungsfehler gehandelt habe, standen nicht nur die Ausführungen der Beklagten in der Berufungserwiderung entgegen, in der diese in bezug auf die genannte Behauptung des Klägers von einem bloß "angeblich" groben Behandlungsfehler gesprochen und das (von der Revision selbst eingeräumte) Fehlen eines substantiierten Vortrags des Klägers zu einem groben Fehler beanstandet hatten. Gegen eine Einstufung des Behandlungsfehlers als grob sprach vor allem auch das in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils angeführte Gutachten des Sachverständigen Prof. Sch., in dessen im Tatbestand des Urteils in Bezug genommenen Inhalt der Sachverständige bereits Zweifel dagegen geäußert hatte, daß auf seiten der Beklagten überhaupt ein geburtshilflicher Fehler vorgelegen habe.

bb) Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Ansicht des Berufungsgerichts, daß der Teil-Vergleichs- und Abfindungserklärung vom 29. Oktober 1992 nichts für einen groben Behandlungsfehler zu entnehmen sei. Daß das Berufungsgericht in dieser, an den hier maßgeblichen Stellen individuell ausgestalteten Erklärung kein deklaratorisches Anerkenntnis der Beklagten zum Haftungsgrund gesehen hat, läßt, soweit die tatrichterliche Auslegung revisionsrechtlich nachprüfbar ist (BGH, Urteile vom 14. Oktober 1994 - V ZR 196/93 - NJW 1995, 45, 46 und vom 31. Januar 1995 - XI ZR 56/94 - NJW 1995, 1212, 1213), keinen Rechtsfehler erkennen. Die Revision rügt insoweit auch lediglich, das Berufungsgericht habe bei seiner Würdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO nicht berücksichtigt, daß die Beklagten nach ihrem eigenen Vortrag im Berufungsrechtszug beim Abschluß des Vergleichs von einem schadensursächlichen Zusammenhang ausgegangen seien. Die Rüge greift nicht durch. Die Beklagten haben an der von der Revision genannten Stelle ihres Vorbringens zu ihrer Einschätzung der Kausalität die Betonung auf "damals" gelegt und als ihren Vortrag im Prozeß betont, daß eine Kausalität bestritten bleibe.

b) Das Berufungsgericht hat schließlich auch nicht gegen sonstige Verfahrensvorschriften zur Sachaufklärung verstoßen.

aa) Entgegen der Rüge der Revision war das Berufungsgericht verfahrensrechtlich nicht gehalten, dem Kläger gemäß § 139 ZPO noch einen besonderen Hinweis auf die ihn treffende Beweislast zum Kausalverlauf zu geben. Daß das Berufungsgericht der Prüfung der Einstandspflicht der Beklagten nicht etwa einen groben Behandlungsfehler zugrunde legte, ergab sich für den Kläger nicht nur aus den vorgenannten Gegebenheiten, sondern darüber hinaus auch klar aus dem Beweisbeschluß vom 14. Mai 1997. In diesem Beschluß hatte das Berufungsgericht dem Kläger zum Nachweis der Kausalität des ärztlichen Behandlungsfehlers für den geltend gemachten Schaden die Einzahlung eines von ihm dann auch geleisteten Auslagenvorschusses auferlegt; das Gericht ist also von seiner Beweislast ausgegangen.

bb) Das Berufungsgericht mußte in Anbetracht der von ihm zur Kausalität durchgeführten Beweiserhebungen auch nicht nach § 144 ZPO von Amts wegen noch ein weiteres Gutachten einholen. Ebensowenig traf das Berufungsgericht aufgrund des vom Kläger erst nach Schluß der mündlichen Verhandlung vom 3. November 1997 eingereichten, bereits vom 17. November 1990 stammenden Privatgutachtens eines Frauenarztes verfahrensrechtlich die Pflicht, gemäß § 156 ZPO die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen.

Ende der Entscheidung

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