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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 06.07.1999
Aktenzeichen: VI ZR 170/98
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 833 Satz 1
BGB § 833 Satz 1

Eine spezifische Tiergefahr kann für einen Reitunfall auch dann ursächlich geworden sein, wenn der Unfall nicht unmittelbar durch das tierische Verhalten, sondern dadurch herbeigeführt worden ist, daß der Reiter aufgrund einer durch das tierische Verhalten hervorgerufenen und anhaltenden Verunsicherung vom Pferd fällt.

BGH, Urteil vom 6. Juli 1999 - VI ZR 170/98 - OLG Braunschweig LG Braunschweig


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 170/98

Verkündet am: 6. Juli 1999

Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 1999 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler und Dr. Greiner

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision des Beklagten zu 1 gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 22. April 1998 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt aus abgetretenem Recht ihrer Tochter, der Zeugin Gabriel O., Ersatz materieller und immaterieller Schäden aus einem Unfall, den diese im Reitunterricht bei der Reitlehrerin des Beklagten zu 1, der Beklagten zu 2, erlitten hat.

Der Beklagte zu 1 (künftig: Beklagter) stellt nach seinem satzungsmäßigen Zweck seinen Mitgliedern Reitpferde zur Verfügung. Daneben haben Reitschüler und Interessenten gegen ein geringes Entgelt die Möglichkeit, unter Aufsicht das Reiten zu erlernen.

Am 30. Dezember 1991 hatte die Tochter der Klägerin ihre neunte oder zehnte Reitstunde. Sie nahm erstmals an einem Hintereinanderherreiten mit der Stute Biggy teil, nachdem sie zuvor an der Longe bzw. im Einzelunterricht den Wallach Loriot geritten hatte. Auch die Reitlehrerin war ihr bis dahin nicht bekannt. Gegen Ende der Reitstunde fiel die Tochter der Klägerin vom Pferd auf den Boden und zog sich dabei Verletzungen zu.

Die Klägerin hat von beiden Beklagten Ersatz unfallbedingter Mehraufwendungen, ein angemessenes Schmerzensgeld, das sie mit mindestens 15.000 DM angegeben hat, sowie die Feststellung begehrt, daß der Verein und die Reitlehrerin als Gesamtschuldner verpflichtet seien, der Klägerin den zukünftigen Schaden ihrer Tochter aus Anlaß des Reitunfalles zu erstatten, soweit diese Ansprüche nicht gemäß § 116 SGB X auf Dritte übergegangen sind. Ihre Tochter habe während der Reitstunde mit der Stute Biggy Schwierigkeiten bekommen, diese sei plötzlich ausgebrochen, mit ihrer Tochter losgaloppiert und sodann in einer Hallenecke abrupt stehengeblieben. Ihre Tochter habe versucht, das Pferd durch Schenkeldruck und das Anziehen der Zügel unter Kontrolle zu bringen, was ihr nicht gelungen sei. Durch das plötzliche Stehenbleiben aus dem Galopp heraus sei ihre Tochter auf den Boden der Reithalle gestürzt und habe sich dabei eine Fraktur des fünften Lendenwirbels mit der konkreten Gefahr einer Querschnittlähmung zugezogen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, soweit die Abweisung der Klage gegen die Reitlehrerin angegriffen war; die Klage gegen den beklagten Verein hat es dagegen hinsichtlich der Zahlungsansprüche dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dessen Verpflichtung zum Ersatz des künftigen Schadens der Tochter der Klägerin festgestellt. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte sein Begehren auf Zurückweisung der Berufung der Klägerin weiter.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht führt zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen aus, der Klägerin stünden gegen den Beklagten die geltend gemachten Ansprüche nach § 833 Satz 1 BGB zu. Der Unfall habe sich adäquat kausal durch ein unberechenbares und selbständiges, der tierischen Natur des Pferdes entsprechendes Verhalten verwirklicht. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, daß die Stute Biggy plötzlich aus eigenem Antrieb angaloppiert sei. Dadurch sei die Tochter der Klägerin so stark verunsichert worden, daß es ihr nicht mehr gelungen sei, sich auf dem Pferd zu halten, nachdem dieses bereits zum Stehen gekommen sei. Die hierdurch bewirkte Verunsicherung habe über die Zeit der Fortbewegung des Pferdes hinaus angedauert.

Der beklagte Verein könne sich nicht nach § 833 Satz 2 BGB entlasten. Das Pferd sei kein Haustier gewesen, sondern habe dem sportlichen Freizeitvergnügen der Mitglieder und Reitschüler gedient.

Ein Mitverschulden der Geschädigten sei nicht bewiesen. Auch wenn der gebotene strenge Maßstab angelegt werde, habe die Tochter der Klägerin das Pferd sachgerecht zum Stehen gebracht. Daß sie in der Gefahrenlage in Angst geraten sei und diese zum Zeitpunkt des Unfalles noch angedauert habe, könne ihr als "krasser Anfängerin" nicht vorgeworfen werden. Die Teilnahme am Unterricht trotz nicht optimaler Umstände gereiche ihr nicht zum Vorwurf, weil sie sich auf die zutreffende Einschätzung des Risikos durch die Reitlehrerin habe verlassen dürfen.

II.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision stand.

1. Das Berufungsgericht hat Ansprüche der Klägerin aus abgetretenem Recht ihrer Tochter gegen den Beklagten auf Ersatz der dieser entstandenen materiellen und immateriellen Schäden aus § 833 Satz 1 BGB ohne Rechtsfehler bejaht. Die Tochter der Klägerin ist durch ein Reitpferd, dessen Halter der Beklagte war, an Körper und Gesundheit geschädigt worden. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat sich in der Schädigung eine spezifische Tiergefahr verwirklicht, die sich in einem der tierischen Natur entsprechenden unberechenbaren und selbständigen Verhalten (st. Rspr., vgl. Senatsurteile vom 9. Juni 1992 - VI ZR 49/91 - VersR 1992, 1145, 1146; vom 12. Januar 1982 - VI ZR 188/80 - VersR 1982, 366, 367, je m.w.N.) geäußert hat.

a) Vergeblich beanstandet die Revision die Aussagen der Zeugen hierzu als wenig aussagekräftig und zumindest widersprüchlich. Das Berufungsgericht stellt darauf ab, daß nach der Aussage der Zeugin M. die Stute Biggy immer wieder nach innen getrabt sei, dadurch das vorangehende Pferd irritiert habe, durch dessen Rückschau ihrerseits irritiert worden, ausgebrochen und losgaloppiert sei. Es hat eine gewisse Bestätigung dieser Angaben in der Aussage der Zeugin J. gesehen, nach der die Stute ausgeschert und angaloppiert, dann in Trab und schließlich in Schritt übergegangen sei, sowie in den Aussagen des Zeugen H. und der Geschädigten, wonach die Stute plötzlich losgaloppiert sei. Diese Würdigung hält sich im Rahmen tatrichterlichen Ermessens. Soweit die Revision demgegenüber der Aussage der Zeugin J., das Angaloppieren sei nicht hektisch, sondern eher wie gewollt erfolgt, entnehmen will, das Angaloppieren sei auf unsachgemäße Hilfen der Geschädigten zurückzuführen gewesen, würdigt sie in revisionsrechtlich unbeachtlicher Weise (§ 561 Abs. 2 ZPO) das Ergebnis der Beweisaufnahme anders als der Tatrichter. Fehler in der Beweiswürdigung, die nach § 286 ZPO zu berücksichtigen wären, zeigt die Revision nicht auf.

Das Berufungsgericht war - entgegen der Ansicht der Revision - nicht gehalten, den vom Beklagten lediglich im ersten Rechtszug benannten Zeugen P. dazu zu hören, daß die Stute ein solches Verhalten vorher nicht gezeigt habe und ohne Anweisung der Reitlehrerin offensichtlich aufgrund unsachgemäßer Hilfen der Geschädigten angaloppiert sei. Diese Behauptungen sind für die Entscheidung des Falles unerheblich. Eine spezifische Tiergefahr verwirklicht sich auch dann, wenn ein Pferd erstmals und auf eine (fehlerhafte) Hilfe des Reiters reagiert. Die Reaktion des Tieres auf menschliche Steuerung und die daraus resultierende Gefährdung hat ihren Grund in der Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens, für die der Halter den Geschädigten schadlos halten soll. Hat der Reiter durch vorwerfbare Fehler dazu beigetragen, daß ihn das Pferd abwirft oder er vom Pferd fällt, kann das allenfalls als Mitverschulden (§ 254 BGB) berücksichtigt werden (vgl. Senatsurteile vom 9. Juni 1992 aaO, 1147; vom 24. Juni 1986 - VI ZR 202/85 - VersR 1986, 1206, 1207). Unzutreffend ist hiernach auch die von der Revision vertretene Ansicht, der geschädigte Reiter müsse als Anspruchsteller beweisen, daß das Pferd seinen Hilfen zuwider gehandelt habe.

b) Nicht zu folgen ist der Revision ferner, soweit sie meint, der Reitunfall sei nicht vom Schutzzweck des § 833 Satz 1 BGB umfaßt. Die Revision verkennt nicht, daß die Gefährdungshaftung des Tierhalters nach ständiger Rechtsprechung auch dem Reiter auf dem Pferd zugute kommt (vgl. Senatsurteil vom 9. Juni 1992 aaO S. 1146 re. Sp. m.w.N.). Sie meint jedoch, die durch das Angaloppieren des Pferdes entstandene Gefahrenlage sei mit dem Anhalten des Pferdes durch die Reiterin beendet gewesen und ein Herabfallen der Reiterin nach diesem Zeitpunkt nicht mehr auf das Verhalten des Pferdes, sondern auf die Ängstlichkeit der Reiterin zurückzuführen und deshalb vom Schutzzweck der Norm nicht mehr umfaßt. Das trifft nicht zu.

Die Revision läßt außer Betracht, daß sich ein Reiter, der nach Angaloppieren das Pferd sachgerecht zum Stand bringt, im Sattel halten muß. Wenn das Berufungsgericht als Ergebnis der Beweisaufnahme feststellt, die durch das Angaloppieren verursachte Verunsicherung der Geschädigten habe auch nach dem Anhalten des Pferdes fortgedauert und im unmittelbaren zeitlichen Anschluß an das Anhalten des Pferdes zu dem Sturz geführt, ist das nicht widersprüchlich und ohne Rechtsfehler. Verfahrensfehler zeigt die Revision nicht auf. Daß die Tochter der Klägerin in der Lage war, das Pferd anzuhalten, steht der Annahme eines gelockerten oder verunsicherten Sitzes nicht entgegen; diese ist nachvollziehbar und denkfehlerfrei. Auch vermag die Revision nicht darzulegen, weshalb das Sitzen im Sattel eines stehenden Pferdes für einen erwachsenen, jedoch völlig unerfahrenen Reiter kein Balanceakt sei. Die Revision erläutert auch nicht, weshalb die Reiterin nach den verschiedenen Gangwechseln wie ein erfahrener Reiter fest im Sattel gesessen haben sollte, obwohl sie erst in der neunten oder zehnten Reitstunde und eine "krasse Anfängerin" war.

Soweit die Revision meint, es unterfalle nicht mehr dem Schutzbereich des § 833 Satz 1 BGB, wenn ein Reiter aus Angst vom stehenden Pferd stürze, berücksichtigt sie nicht, daß das Berufungsgericht nicht nur Angst, sondern auch eine durch den vorausgegangenen Galopp verursachte und nach dem Anhalten des Pferdes noch andauernde Verunsicherung der Reiterin beanstandungsfrei festgestellt und als für den Unfall ursächlich gewertet hat.

2. Die Revision hat schließlich auch keinen Erfolg, soweit sie beanstandet, daß das Berufungsgericht kein Mitverschulden der Geschädigten berücksichtigt habe.

a) Im Ansatzpunkt zu Recht geht die Revision zwar davon aus, daß der Reitschüler den Reitlehrer über die Umstände aufklären muß, die dessen Entscheidung über die Teilnahme des Schülers am Reitunterricht beeinflussen können (vgl. Senatsurteil vom 19. Januar 1982 - VI ZR 132/79 - VersR 1982, 348, 349). Die Revision weist auch richtig darauf hin, daß der Reiterin sowohl die Reitlehrerin als auch das zugewiesene Pferd unbekannt waren. Eines Hinweises an die Reitlehrerin bedurfte es dennoch nicht. Das Berufungsgericht hat - von der Revision nicht beanstandet - festgestellt, daß die Reitlehrerin selbst die Einschätzung hatte, die Reiterin habe sich am Unfalltag "nicht in bester körperlicher Verfassung befunden". Die Revision zeigt nicht auf, welche weiteren Kenntnisse die Reitlehrerin benötigt und von einem Hinweis der Reiterin zu erwarten gehabt hätte. Auch durfte sich die Reiterin, deren "Indisponiertheit" die Reitlehrerin tatsächlich erkannt hatte, darauf verlassen, daß diese das Risiko zutreffend einschätzen werde.

b) Die Revision vermag auch nicht mit Erfolg der Geschädigten als Mitverschulden vorzuhalten, daß sie trotz ihrer Ängstlichkeit am Reitunterricht teilgenommen habe. Die Tochter der Klägerin war "krasse Anfängerin", der die objektive Einschätzung ihrer reiterlichen Fähigkeiten besonders schwerfallen mußte und die daher in besonderem Maße auf die Einschätzung der Reitlehrerin angewiesen war. Diese hatte sie für fähig gehalten, am Unterricht teilzunehmen.

3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts weist auch sonst keine Rechtsfehler auf. Die Revision ist daher mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.



Ende der Entscheidung

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