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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 26.09.2006
Aktenzeichen: VI ZR 200/05
Rechtsgebiete: Brüssel I-VO


Vorschriften:

Brüssel I-VO Art. 11 Abs. 2
Brüssel I-VO Art. 9 Abs. 1 lit. b
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird folgende Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 234 EGV zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Ist die Verweisung in Artikel 11 Absatz 2 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: EuGVVO) auf Artikel 9 Absatz 1 lit. b EuGVVO dahin zu verstehen, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Ortes in einem Mitgliedstaat, an dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat?


BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

VI ZR 200/05

vom 26. September 2006

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. September 2006 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll

beschlossen:

Tenor:

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.

2. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird folgende Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 234 EGV zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist die Verweisung in Artikel 11 Absatz 2 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: EuGVVO) auf Artikel 9 Absatz 1 lit. b EuGVVO dahin zu verstehen, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Ortes in einem Mitgliedstaat, an dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat?

Gründe:

I.

Der Kläger, der in Deutschland seinen Wohnsitz hat, verlangt von der Beklagten, einer Haftpflichtversicherung mit Sitz in den Niederlanden, Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls in den Niederlanden mit einem Versicherten der Beklagten. Das Amtsgericht am Wohnsitz des Klägers hat die Klage wegen fehlender internationaler Zuständigkeit deutscher Gerichte als unzulässig abgewiesen. Das Berufungsgericht hat mit einem Zwischenurteil (veröffentlicht: OLG Köln, VersR 2005, 1721) die Zulässigkeit der Klage bejaht. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte weiterhin die Klageabweisung.

II.

Das Berufungsgericht hält die Zuständigkeit des Wohnsitzgerichts des Klägers in Deutschland aufgrund der Verweisung in Artikel 11 Absatz 2 auf Artikel 9 Absatz 1 lit. b EuGVVO für gegeben. Diese Auslegung entspreche dem ausdrücklichen Willen des europäischen Verordnungsgebers und sei mit dem Wortlaut der auszulegenden Norm sowie deren Zweck und Entstehungsgeschichte vereinbar. Der Wille des Verordnungsgebers komme eindeutig in der Erwägung 16 a der Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 zum Ausdruck, die die Richtlinie 2000/26/EG vom 16. Mai 2000 in folgender Weise ergänze:

"16 a): Nach Artikel 11 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 9 Absatz 1 b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen kann der Geschädigte den Haftpflichtversicherer in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, verklagen."

Der Schutz der schwächeren Partei gegenüber dem Versicherer, dem die Zuständigkeitsregelung in Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO zu Gunsten des Begünstigten diene, rechtfertige gleichermaßen auch bei Klagen des Unfallopfers die Einräumung eines Klage-Gerichtsstands, da sich dieses ebenfalls gegenüber dem Versicherer in einer schwächeren Position befinde und bei einem Unfall im Ausland besonders schutzbedürftig sei. Die Verweisung auf die Vorschrift des Art. 9 EuGVVO könne nach allgemeinen methodischen Grundsätzen auch ohne eine ausdrückliche Anordnung in dem Sinn verstanden werden, dass Art. 9 Abs. 1 lit. b auf den Geschädigten entsprechend anwendbar sein solle.

III.

1. Die Zulässigkeit der Klage und demzufolge der Erfolg der Revision hängen davon ab, wie die Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVVO auf Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO zu verstehen ist. Nach der Umsetzung der Richtlinie 2000/26/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16. Mai 2000 (4. Kraftfahrzeughaftpflichtversicherungs-Richtlinie) ist eine Direktklage des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer in allen Mitgliedstaaten möglich. Umstritten ist, ob aufgrund der Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVVO der Geschädigte als "Begünstigter" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO den Haftpflichtversicherer auch an seinem eigenen Wohnsitz verklagen kann oder ob Begünstigter im Sinne des Art. 9 EuGVVO nur derjenige des Versicherungsvertrags sein kann, so dass der Geschädigte nicht die Direktklage vor dem Gericht an seinem Wohnsitz erheben könnte. Auch wenn die Erwägung 16 a in der Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 11. Mai 2005 die Auslegung des Berufungsgerichts stützt, werden hierdurch letztlich die Zweifel nicht in einer Weise beseitigt, die eine einheitliche Handhabung durch die Gerichte der Mitgliedstaaten gewährleisten könnte. Vor der Entscheidung über das Rechtsmittel der Beklagten ist deshalb das Verfahren auszusetzen und zur Klärung dieser Zweifel gemäß Artikel 234 Absatz 1 lit. b EGV eine Vorabentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof zu der im Beschlusstenor aufgestellten Frage einzuholen.

2. Die überwiegende Meinung in der deutschen Rechtsliteratur lehnt eine Auslegung, wonach ein Gerichtsstand am Wohnsitzgericht des Geschädigten gegeben ist, ab. Sie stützt sich unter anderem darauf, dass die Direktklage keine Versicherungssache im Sinne der Art. 8 ff. EuGVVO sei, weil der Direktanspruch im deutschen internationalen Privatrecht als deliktischer Anspruch verstanden werde und dem Deliktsstatut unterliege (hierzu vgl. Senat, BGHZ 108, 200, 202; BGHZ 120, 87, 89 m.w.N.). Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO erfasse nach Wortlaut und Stellung im Gesetz nur Versicherungssachen im engeren Sinn (vgl. Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2003, Art. 11 Rn. 2.; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Auflage 2005, vor Art. 8 Rn. 7, Art. 11, Rn. 4; Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2. Auflage, Art. 11, Rn. 16; Fuchs IPRax 2001, 425, 426; Lemor NJW 2002, 3666, 3667 f.). Demzufolge könne Begünstigter im Sinne des Art. 9 EuGVVO nur jemand aufgrund des Versicherungsvertrags sein, neben dem der Geschädigte durch Art. 11 Abs. 2 EuGVVO lediglich zu einem zusätzlichen Verfahrensbeteiligten werden könne.

3. Hiergegen wird die Meinung vertreten, dass ein Gerichtsstand am Wohnort des Geschädigten aufgrund der Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVVO für Direktklagen des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer gegeben sei (vgl. Looschelders in der Anmerkung zu OLG Köln, VersR 2005, 1721; Staudinger in Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht 2003 Art. 11 Brüssel I-VO Rn. 6; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht 3. Aufl. Rn. 284; Backu DAR 2003, 153; Riedmeyer DAR 2004, 203, 206; Lemor/Becker DAR 2004, 677, 684). Diese Auffassung befürwortet auch der Senat.

Gegen sie spricht nicht, dass der Geschädigte in Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO nicht genannt wird. Da die Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVVO die Regelungen des Art. 9 EuGVVO auf den Geschädigten überträgt, muss dieser dort nicht gesondert erwähnt werden (vgl. Looschelders aaO).

Für die entsprechende Anwendung des Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO spricht maßgeblich, dass kurz vor Erlass der EuGVVO durch die Richtlinie 2000/26/EG vom 16. Mai 2000 (4. Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie) der Schutz des Geschädigten bei einem Unfall im Ausland durch die Direktklage des Geschädigten gestärkt worden ist. Die Richtlinie 2005/14/EG bekräftigt die Rechtsposition des Geschädigten weiter. Aus den Materialien über die Vorarbeiten dazu ergibt sich, dass nach dem Willen der Kommission, die auch Verordnungsgeber der EuGVVO war, und des Europäischen Parlamentes mit der Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer einzuführen, auch ein Gerichtsstand am Wohnort des Geschädigten durch Art. 11 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO geschaffen werden sollte. Dies statuierte erstmals der Ausschuss für Recht und Binnenmarkt des Europäischen Parlamentes in seinem Bericht vom 10. Oktober 2003 (A5-0346/2003 ENDGÜLTIG, S. 18), gestützt auf ein (unveröffentlichtes) Gutachten seines juristischen Dienstes. Dieser Rechtsauffassung schloss sich die Kommission in ihrer Stellungnahme vom 30. April 2004 an [KOM (2004) 351 endgültig, S. 3; siehe auch KOM (2005) 57 endgültig, S. 3)]. Darauf beruht schließlich die Aufnahme der Erwägung 16 a in die Richtlinie 2005/14/EG, durch die für die Direktklage ein Gerichtsstand am Wohnsitzgericht des Geschädigten ausdrücklich bestätigt wird. Auch wenn Erwägungsgründe (Art. 253 EGV) keine verbindlichen Rechtsvorschriften, sondern lediglich Mittel zur Auslegung des betreffenden Gesetzes sind (vgl. EuGH - Rs. 215/88 - Casa Fleischhandel - Slg. 1989, 2789, 2808; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften 1997 S. 253 ff.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts 2004 S. 171 ff.; Kropholler aaO, Einl. Rn. 46) und der einschlägige Erwägungsgrund erst mehr als vier Jahre nach Erlass der EuGVVO in einen anderen EG-Rechtsakt eingefügt worden ist, ist jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen (EuGH - Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T.) - Slg. 1982, 3415 (3430) = NJW 1983, 1257 (1258); Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung 1996 S. 62 ff.). Spätere Entwicklungen sind also zu berücksichtigen. Danach sprechen die überwiegenden Gründe für die Annahme, dass der Geschädigte den Direktanspruch gegen den Versicherer vor dem Gericht an seinem Wohnsitz geltend machen kann.

Ende der Entscheidung

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