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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 16.04.2002
Aktenzeichen: VI ZR 227/01
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 249 Ba
Zum haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhang bei selbstschädigendem Verhalten des Verletzten.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 227/01

Verkündet am: 16. April 2002

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 16. April 2002 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. Mai 2001 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Beklagte und seine Ehefrau, die Zeugin S., lebten seit 25. Mai 1997 getrennt. Die Zeugin unterhielt nach der Trennung eine freundschaftliche Beziehung zum Bruder des Klägers.

Am Abend des 30. Mai 1997 hielt sich Frau S. in der im zweiten Obergeschoß gelegenen 1-Zimmer-Wohnung ihres Freundes auf. Der Kläger leistete ihr Gesellschaft. Sein Bruder hatte zuvor die Wohnung verlassen, um Getränke zu holen.

Der Beklagte vermutete, seine Ehefrau könne sich in der Wohnung ihres Freundes aufhalten. Er kam daher zwischen 22.30 Uhr und 23.00 Uhr dort hin und verlangte laut schimpfend Einlaß, weil er mit seiner Ehefrau reden wollte. Er trat die Wohnungseingangstür und sodann die Tür vom Flur zum Wohnzimmer ein. Als der Beklagte mit der Flurtüre in das Wohnzimmer "hineinkrachte", riß der Kläger das Fenster auf und sprang aus ca. acht bis zehn Meter Höhe hinaus. Dabei zog er sich u.a. eine Kompressionsfraktur des dritten Lendenwirbelkörpers und eine Trümmerfraktur der Speichenbasis des linken Handgelenkes zu.

Der Kläger begehrt ein Schmerzensgeld von mindestens 30.677 €, eine Unkostenpauschale von 25,57 € und Attestkosten von 303,55 € sowie die Feststellung, daß der Beklagte verpflichtet sei, ihm allen weiteren immateriellen Schaden durch eventuell auftretende Spätfolgen des Unfalles und der dabei erlittenen Verletzungen zu ersetzen, soweit diese nicht durch das Gutachten der Landesversicherungsanstalt vom 16. März 1998 festgestellt worden seien.

Das Landgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, der Kläger wäre zwar mit Sicherheit nicht aus dem Fenster des zweiten Obergeschosses gesprungen, wenn der Beklagte nicht gewaltsam in die Wohnung eingedrungen wäre. Der Beklagte habe daher durch sein Verhalten eine Bedingung für die Körperverletzung des Klägers gesetzt. Zweifelhaft sei aber, ob dieses zur Verletzung führende Verhalten des Beklagten noch als adäquat kausal angesehen werden könne. Selbst wenn es nicht gänzlich unwahrscheinlich sei, daß jemand, der nach dem gewaltsamen Eindringen eines Fremden in die Wohnung um Leib und Leben fürchte und dabei aus Angst einen gefährlichen Fluchtweg benutze, sei ein lebensgefährlicher Sprung aus einem acht bis zehn Meter über dem Erdboden gelegenen Fenster zeitlich vor einem körperlichen Angriff nicht ohne weiteres als Fluchtweg anzusehen. Jedenfalls fehle es an einem Verschulden des Beklagten. Hierfür müsse der Beklagte zumindest fahrlässig nicht erkannt haben, daß sein widerrechtliches Eindringen in die Wohnung beim Kläger eine Schreckreaktion habe auslösen können, in deren Verlauf der Kläger aus dem Fenster acht bis zehn Meter in die Tiefe springen werde. Nach dem unwiderlegten Vortrag des Beklagten sei diesem aber unbekannt gewesen, welche anderen Personen sich außer seiner Ehefrau noch in der Wohnung aufgehalten hätten. Allenfalls habe er damit rechnen müssen, daß der Freund seiner Frau sich aus Angst zu einer folgenschweren Spontanreaktion motivieren lassen könne. Der Beklagte habe sich aber nicht vorstellen müssen, daß ein völlig unbeteiligter Dritter, von dessen Anwesenheit er nichts gewußt habe, eine Verwechslung befürchten könne und den gefährlichen Sprung ausführen werde. Hilfsweise sei von einem Mitverschulden des Klägers in Höhe von 2/3 auszugehen.

II.

Diese Erwägungen des Berufungsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.

1. Allerdings geht das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler davon aus, daß das rechtswidrige (und sogar als Hausfriedensbruch strafbewehrte, vgl. § 128 StGB) Verhalten des Beklagten ursächlich im logisch-naturwissenschaftlichen Sinne für den lebensgefährdenden Sprung des Klägers aus dem acht bis zehn Meter über dem Erdboden liegenden Fenster der Wohnung war. Das

Oberlandesgericht stellt - von der Revision unbeanstandet - fest, daß der Kläger nicht aus dem Fenster gesprungen wäre, wenn der Beklagte nicht gewaltsam in die Wohnung eingedrungen wäre. Das gewaltsame Eindringen kann mithin nicht hinweggedacht werden, ohne daß die Schädigung des Klägers entfiele (vgl. BGHZ 96, 157, 172; BGH, Urteil vom 4. Juli 1994 - II ZR 126/93 - NJW 1995, 126, 127).

2. Dem Berufungsgericht kann jedoch nicht gefolgt werden, soweit es in Zweifel zieht, der Zusammenhang zwischen dem Eindringen des Beklagten in die Wohnung und dem Sprung des Klägers sei adäquat kausal.

Zwar ist der Ansatzpunkt nicht zu beanstanden, daß die Kausalität im logisch-naturwissenschaftlichen Sinne allein zur Schadenszurechnung nicht ausreicht. Sie bedarf vielmehr, um eine zu weitgehende Ausdehnung der Schadensersatzpflicht zu verhindern, einer Ergänzung durch weitere Zurechnungskriterien. Nach ständiger Rechtsprechung muß deshalb das zum Schaden führende Ereignis im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sein, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen (vgl. BGHZ 137, 11, 19; BGH, Urteil vom 14. November 2000 - X ZR 203/98 - VersR 2001, 1388, 1389; vom 23. September 1998 - IV ZR 1/98 - VersR 1998, 1410, 1411). Mit dem Erfordernis der Adäquanz sollen nämlich nur ganz außerhalb des zu erwartenden Verlaufs stehende Schädigungen herausgefiltert werden. Hiernach ist die Adäquanz zu bejahen, wenn durch das Verhalten des Schädigers eine gesteigerte Gefahrenlage geschaffen worden ist, die generell geeignet ist, Schädigungen der eingetretenen Art herbeizuführen.

Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze kann der Beurteilung des Berufungsgerichts, es sei zweifelhaft, ob das Verhalten des Beklagten hier adäquat kausal für den eingetretenen Schaden war, nicht beigetreten werden.

Als der Beklagte zunächst die Wohnungseingangstür und sodann die vom Flur zum Wohnzimmer führende Tür eingetreten hatte, war dieses Toben geeignet, eine in der Wohnung befindliche Person im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zu verängstigen und zum Sprung aus dem Fenster zu veranlassen. Daran ändert es nichts, daß der Beklagte möglicherweise keine Drohungen geäußert und noch nicht zu erkennen gegeben hatte, er werde den Kläger körperlich angreifen. Mit einem solchen Angriff mußte der Kläger nach dem vorausgegangenen Verhalten des Beklagten zumindest rechnen, zumal dieser den Bruder des Klägers nicht persönlich kannte und deshalb damit zu rechnen war, daß er den Kläger für den Nebenbuhler halten werde. Das legt auch der von der Revision im Anschluß an die Bekundung der Zeugin S. behauptete Ruf des Beklagten nach dem Sprung des Klägers ("Ich bringe Dich um, Du Sau") nahe.

3. Die Haftung des Beklagten scheitert ferner nicht daran, daß der geschädigte Kläger die Verletzungen durch seinen Sprung aus dem Fenster selbst mit herbeigeführt hat. Der Sachverhalt ist dadurch geprägt, daß der Beklagte selbst durch sein schuldhaftes Verhalten für die Personen in der Wohnung nur eine Gefährdung herbeigeführt hat, während der Schaden - die Verletzung des Klägers - erst durch den Kläger selbst verwirklicht worden ist. Für die haftungsrechtliche Würdigung derartiger Fallgestaltungen hat der Senat Beurteilungsgrundsätze entwickelt. Danach kann zwar unter Umständen dann, wenn ein Schaden bei rein naturwissenschaftlicher Betrachtung mit der Handlung des Schädigers in einem kausalen Zusammenhang steht, dieser Schaden jedoch entscheidend durch ein völlig ungewöhnliches und unsachgemäßes Verhalten des Geschädigten ausgelöst worden ist, die Grenze überschritten sein, bis zu der dem Schädiger der Eingriff und dessen Auswirkungen als haftungsausfüllender Folgeschaden seines Verhaltens zugerechnet werden können. Eine für den Schaden mitursächliche willentliche Handlung des Verletzten schließt aber nicht stets und ohne weiteres aus, den Schaden demjenigen zuzurechnen, der die schädigende Kausalkette in Gang gesetzt hat. Bestand nämlich für die Handlung des Geschädigten ein rechtfertigender Anlaß oder wurde sie durch das haftungsbegründende Ereignis herausgefordert, so bleibt der Zurechnungszusammenhang mit dem Verhalten des Schädigers bestehen, weil sich die Reaktion dann nicht als ungewöhnlich oder gänzlich unangemessen erweist (vgl. Senatsurteil vom 10. Dezember 1996 - VI ZR 14/96 - VersR 1997, 458, 459 m.w.N.). So kann nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats jemand, der durch vorwerfbares Tun einen anderen zu selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen Willensentschluß auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht, zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der infolge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist. Eine auf solcher Grundlage beruhende deliktische Haftung hat der Senat besonders in Fällen bejaht, in denen sich jemand der (vorläufigen) Festnahme durch Polizeibeamte oder andere dazu befugte Personen durch die Flucht zu entziehen versucht und diese Personen dadurch in vorwerfbarer Weise zu einer sie selbst gefährdenden Verfolgung herausgefordert hat, wobei sie dann infolge der gesteigerten Gefahrenlage einen Schaden erlitten haben (vgl. Senatsurteil BGHZ 132, 164, 166 m.w.N.).

Um einen solchen Fall der "Nacheile" geht es vorliegend allerdings nicht. Die genannten Erwägungen kommen indes nicht nur in den sogenannten "Verfolgungsfällen" zum Tragen. Sie sind vielmehr Ausdruck eines auf rechtlichen Wertungen beruhenden Zurechnungsverständnisses, das allgemein gilt, wie der Senat bereits dargelegt hat (vgl. Senatsurteil vom 4. Mai 1993 - VI ZR 283/92 - VersR 1993, 843, 844). Der erkennende Senat hat deshalb auch in anderen Fallkonstellationen die Schadenszurechnung nach diesen Kriterien bestimmt (vgl. Senatsurteile BGHZ 101, 215, 220 ff.; vom 21. Februar 1978 - VI ZR 8/77 - VersR 1978, 540, 541; vom 4. November 1980 - VI ZR 231/79 - VersR 1981, 192, 193; vom 2. Dezember 1980 - VI ZR 265/78 - VersR 1981, 260, 261; vom 4. Mai 1993 - VI ZR 283/92 - aaO). Dabei setzt der Begriff der Herausforderung voraus, daß der Schädiger durch ein vorwerfbares Tun bei dem Geschädigten eine mindestens im Ansatz billigenswerte Motivation zu dem selbstgefährdenden Verhalten gesetzt hat, die etwa auf Pflichterfüllung, Nothilfe oder Abwehr beruhen kann (vgl. Senatsurteile BGHZ 101, 215, 220 f. und vom 21. Februar 1978 - VI ZR 8/77 - aaO 541).

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Beklagte hat dadurch, daß er zunehmend lauter und aggressiver gegen die Wohnungseingangstür geklopft und sodann diese sowie die vom Flur zum Wohnzimmer führende Tür eingetreten hat, in vorwerfbarer Weise für den Kläger eine gesteigerte Gefahrenlage geschaffen. Vergeblich versucht die Revisionserwiderung das Handeln des Klägers als von einer nicht billigenswerten Motivation getragen darzustellen. Unter den dargestellten Umständen mußte der Kläger befürchten, der Beklagte werde ihn körperlich angreifen. Durch das Eintreten der Türen hatte der Beklagte eine Gewaltbereitschaft gezeigt, durch die der Kläger sich in seiner körperlichen Integrität schon bedroht fühlen durfte, bevor er tätlich angegriffen worden war. Wenn der Kläger zum Schutz vor den befürchteten Gewalttätigkeiten den Sprung aus dem Fenster wagte, war dies eine zumindest verständliche und unter dem Gesichtspunkt des Selbstschutzes auch im Ansatz billigenswerte Motivation, die auf der schon angebahnten Linie des Verhaltens des Beklagten lag und sich als Folge des Verhaltens des Beklagten darstellte, und dies auch dann, wenn der Kläger entsprechend dem Vortrag des Beklagten von athletischer Statur sein sollte.

Das Verhalten des Klägers war bei der hier vom Beklagten gezeigten Gewaltbereitschaft nach allem der vom Beklagten geschaffenen Gefahrenlage nicht soweit entrückt und so tief in den Bereich des allgemeinen Lebensrisikos des Klägers hineinverlagert, daß der Beklagte dafür gerechterweise nicht mehr haftbar zu machen wäre (vgl. Senatsurteile BGHZ 57, 25, 29 ff.; vom 17. September 1991 - VI ZR 2/91 - VersR 1991, 1293, 1294; vom 10. Dezember 1996 - VI ZR 14/96 - aaO 459).

4. Rechtsfehlerhaft verneint das Berufungsgericht schließlich ein Verschulden des Beklagten, wenn es meint, der Beklagte habe nicht damit rechnen müssen, gerade bei dem Kläger, den der Beklagte nicht gekannt und von dessen Anwesenheit in der Wohnung er nichts gewußt habe, eine Schreckreaktion auszulösen.

Hierbei wird verkannt, daß sich das Verschulden des Beklagten nicht auf den eingetretenen Schaden erstrecken muß. Ausreichend ist vielmehr, daß der Schädiger voraussehen kann, es könne aufgrund seines Verhaltens irgendwie eine Person körperlich zu Schaden kommen; nicht erforderlich ist, daß der Schädiger die konkrete Schädigung des tatsächlich Verletzten vorhersehen konnte (vgl. Senatsurteile BGHZ 57, 25, 33; 59, 30, 39; 75, 328, 329 f.). Es ist daher nicht maßgebend, ob der Beklagte mit der Anwesenheit des Klägers in der Wohnung seines Nebenbuhlers und mit dem schädigenden Sprung aus dem Fenster rechnete oder rechnen mußte. Ein Verschulden im Sinne der Fahrlässigkeit ist dem Beklagten schon deshalb vorzuwerfen, weil er die Verletzung irgendeiner Person etwa beim Eintreten der Türen in Betracht ziehen mußte. Eine Verwechslung des Tatopfers (error in persona) wäre schon nach allgemeinen Grundsätzen unerheblich. Ausreichend für den Fahrlässigkeitsvorwurf ist daher, daß bei dem Vorgehen des Beklagten für diesen vorhersehbar eine Person zu Schaden kommen konnte. Insoweit spielt es keine Rolle, ob und welche Person auf welche Weise verletzt wurde.

5. Das angegriffene Urteil hat nach den obigen Ausführungen - entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung - auch nicht deshalb Bestand (§ 563 ZPO a.F.), weil die Mitverursachung durch den Kläger als so erheblich zu werten (§ 254 Abs. 1 BGB) wäre, daß der Verschuldensbeitrag des Beklagten dahinter völlig zurücktreten würde. Das Berufungsgericht wird vielmehr unter Berücksichtigung der dargestellten Rechtsgrundsätze die beiderseitigen Verursachungsbeiträge und ein eventuelles Mitverschulden des Klägers neu zu gewichten haben (vgl. BGHZ 132, 164, 172 ff.; OLG Köln NJW 1982, 2260, 2261).

Ende der Entscheidung

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