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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 20.03.2001
Aktenzeichen: VI ZR 325/99
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 256
ZPO § 256

Besteht die Möglichkeit des Eintritts weiterer Verletzungsfolgen, so kann ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Ersatzpflicht für immaterielle Zukunftsschäden auch dann gegeben sein, wenn der Schmerzensgeldanspruch dem Grunde nach bereits für gerechtfertigt erklärt worden ist.

BGH, Urteil vom 20. März 2001 - VI ZR 325/99 - OLG Oldenburg LG Oldenburg


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES ANERKENNTNISURTEIL

VI ZR 325/99

Verkündet am: 20. März 2001

Böhringer-Mangold, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2001 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller und die Richter Dr. Lepa, Dr. v. Gerlach, Dr. Greiner und Wellner

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Rechtsmittel des Klägers werden die Urteile des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 3. September 1999 und des Landgerichts Oldenburg vom 9. April 1999 bezüglich des Feststellungsausspruchs dahin abgeändert, daß die Verpflichtung des Beklagten auch zum Ersatz aller immateriellen Schäden festgestellt wird, die dem Kläger aus dem Unfall vom 30. Mai 1998 entstehen.

Der Beklagte hat die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten seiner eigenen Revision und diejenigen der Revision des Klägers zu tragen. Im übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Landgericht vorbehalten.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger nimmt den Beklagten, der eine krankengymnastische Praxis betrieb, wegen eines schweren Unfalls in dessen Praxisräumen auf Schadensersatz in Anspruch.

Am 30. Mai 1998 wurde der damals ca. 1 1/2 Jahre alte Kläger von seiner Mutter zu einem Behandlungstermin beim Beklagten mitgenommen. Dort mußte sich die Mutter für ca. 20 Minuten mit dem Rücken auf eine Liege mit Kühlkissen legen, die durch Betätigung zweier in Kniehöhe angebrachter Elektrotaster auf und ab bewegt werden konnten.

Nachdem der Beklagte zunächst erklärt hatte, er werde sich für die Dauer der Behandlung um den Kläger kümmern, begab er sich wegen eines Telefonats in einen Nebenraum und ließ den Kläger im Behandlungsraum zurück. Dieser geriet bei dem Versuch, auf die Liege zu klettern, an den Taster, mit dem man die Liege herunterfahren konnte, und wurde durch deren Abwärtsbewegung mit dem Kopf zwischen Liege und Untergestell eingeklemmt. Dabei erlitt er einen Schädelbruch. Der rechte Sehnerv wurde derart geschädigt, daß der Kläger auf dem rechten Auge erblindete. Durch eine Hirnblutung kam es zu einer dauerhaften Wesensveränderung.

Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Schmerzensgeldklage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt; außerdem hat es festgestellt, daß der Beklagte dem Kläger alle materiellen Schäden aus dem Unfall zu ersetzen habe. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen.

Der Senat hat die Revision des Beklagten nicht angenommen; diejenige des Klägers hat er angenommen. Den danach noch streitigen Anspruch auf Feststellung der Ersatzpflicht für immaterielle Zukunftsschäden hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung anerkannt.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat diesen Anspruch abgewiesen, weil es an dem erforderlichen Feststellungsinteresse fehle. Es meint, ein Schmerzensgeld könne grundsätzlich nicht in einen Betrag für die Vergangenheit und einen für die Zukunft aufgeteilt werden. Es handele sich vielmehr um einen einheitlichen Anspruch, bei dem über die zukünftige Entwicklung eine Prognose zu treffen sei. Diese habe in den zu findenden Schmerzensgeldbetrag einzufließen. Ein Feststellungsausspruch über zukünftige immaterielle Schäden komme daher nur dann in Betracht, wenn die zukünftige gesundheitliche Entwicklung des Geschädigten völlig ungewiß sei, so daß eine Prognose nicht möglich sei. Diese Voraussetzungen lägen hier nach dem Vortrag des Klägers nicht vor.

II.

Dagegen wendet sich die Revision mit Erfolg.

1. Der Beklagte hat zwar den Feststellungsanspruch hinsichtlich der immateriellen Zukunftsschäden inzwischen anerkannt (§ 307 ZPO), was noch in der Revisionsinstanz möglich ist (BGHZ 10, 333, 334). Das enthebt den Senat jedoch nicht der Notwendigkeit, die prozessualen Voraussetzungen der Feststellungsklage, nämlich das rechtliche Interesse gemäß § 256 ZPO, um das es hier geht, zu prüfen, denn das Anerkenntnis erstreckt sich lediglich auf den sachlich-rechtlichen Anspruch (BGHZ 10, 333, 335; Senatsurteil vom 12. Februar 1974 - VI ZR 187/72 - VersR 1974, 601, 602).

2. Dabei trifft es allerdings zu, daß wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes, der eine ganzheitliche Betrachtung und Bemessung gebietet (BGHZ 128, 117, 121 f; Senatsurteil vom 6. Dezember 1960 - VI ZR 73/60 - VersR 1961, 164, 165), die künftige Entwicklung des Schadensbildes in die Bemessung des Schmerzensgeldes miteinbezogen werden muß. Das schließt zwar, wenn sich die künftige Entwicklung noch nicht überschauen läßt, die Möglichkeit eines Teilschmerzensgeldes unter Ausklammerung in der Zukunft etwa noch auftretender Schäden nicht grundsätzlich aus (Senatsurteile vom 16. Mai 1961 - VI ZR 112/60 - VersR 1961, 727, 728; vom 22. April 1975 - VI ZR 50/74 - VersR 1975, 852 zu IV; RG Warn Rspr. 1917 Nr. 99; 1935 Nr. 81). Eine solche nur teilweise Abgeltung des immateriellen Schadens ist hier jedoch nicht beantragt und hat daher außer Betracht zu bleiben. Deshalb muß, wie das Berufungsgericht weiter mit Recht angenommen hat, zum Zwecke einer einheitlichen Bemessung und Abgeltung eine Prognose über die künftige Entwicklung getroffen werden, deren Ergebnis in die Festsetzung des Schmerzensgeldbetrages einzufließen hat.

3. Diese Grundsätze schließen jedoch für den Streitfall ein Interesse des Klägers an der Feststellung der Ersatzpflicht für immaterielle Schäden nicht aus.

a) Läßt sich eine Aussage darüber, ob in der Zukunft noch Spätfolgen der Unfallverletzungen auftreten können, nicht treffen, dann ist, solange der Eintritt derartiger Schäden nicht ausgeschlossen werden kann, die Möglichkeit von Spätschäden gegeben. Besteht aber die Möglichkeit eines weiteren Schadenseintritts, so reicht dies, wie der Senat erst kürzlich im Urteil vom 16. Januar 2001 entschieden hat, für das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse grundsätzlich aus (VI ZR 381/99 - zur Veröffentlichung bestimmt). Letzteres darf nur verneint werden, wenn aus der Sicht des Klägers bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen. Von der Möglichkeit derartiger Spätfolgen des Unfalls kann jedenfalls nach dem Anerkenntnis des Beklagten ausgegangen werden.

b) Das Feststellungsinteresse entfällt auch nicht deshalb, weil der Schmerzensgeldanspruch des Klägers dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt worden ist und in dem anschließenden Betragsverfahren ein umfassendes Schmerzensgeld festgesetzt werden wird. Denn mit diesem Schmerzensgeld werden lediglich alle bereits eingetretenen oder erkennbaren sowie alle objektiv vorhersehbaren unfallbedingten Verletzungsfolgen abgegolten (Senatsurteil vom 8. Juli 1980 - VI ZR 72/79 - VersR 1980, 975; vom 24. Mai 1988 - VI ZR 326/87 - VersR 1988, 929 f; vom 7. Februar 1995 - VI ZR 201/94 - VersR 1995, 471, 472; BGH, Urteil vom 4. Dezember 1975 - III ZR 41/74 - VersR 1976, 440). Nicht erfaßt werden solche Verletzungsfolgen, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch nicht eingetreten und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar waren, d.h. mit denen nicht oder nicht ernstlich zu rechnen war.

Der Kläger kann für den Fall, daß es in Zukunft beim Eintritt nicht vorhersehbarer Spätschäden zu einer Schmerzensgeldnachforderung kommt, durchaus ein Interesse daran haben, schon jetzt in einem unfallnahen Zeitpunkt eine rechtskräftige Entscheidung über den Haftungsgrund herbeizuführen, um diesen für die Zukunft dem Streit der Parteien zu entziehen (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 1977 - I ZR 30/76 - NJW 1978, 544). Ein solches Anliegen muß als ein rechtliches Interesse im Sinne des § 256 ZPO für die Erhebung einer Feststellungsklage in Bezug auf nicht vorhersehbare Verletzungsfolgen anerkannt werden; dies auch im Hinblick auf die andernfalls in Betracht kommende Verjährung, so daß das Berufungsgericht dem Feststellungsantrag insoweit auch aus diesem Grunde hätte stattgeben müssen.

Ende der Entscheidung

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