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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 13.02.2001
Aktenzeichen: VI ZR 34/00
Rechtsgebiete: BGB
Vorschriften:
BGB § 823 Aa |
Der behandelnde Arzt hat im Hinblick auf den auch im Arzthaftungsrecht maßgeblichen objektivierten zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriff im Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB grundsätzlich für sein dem medizinischen Standard zuwiderlaufendes Vorgehen auch dann haftungsrechtlich einzustehen, wenn dieses aus seiner persönlichen Lage heraus subjektiv als entschuldbar erscheinen mag.
BGH, Urteil vom 13. Februar 2001 - VI ZR 34/00 - OLG Jena LG Erfurt
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
Verkündet am: 13. Februar 2001
Böhringer-Mangold, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 13. Februar 2001 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, die Richter Dr. Lepa, Dr. Dressler und Dr. Greiner sowie die Richterin Diederichsen
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 22. Dezember 1999 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus behaupteten ärztlichen Behandlungsfehlern anläßlich seiner Geburt geltend.
Der Kläger wurde am 28. Februar 1993 mit einem Geburtsgewicht von 5460 Gramm in der Frauenklinik der Beklagten zu 1 geboren. Der Beklagte zu 2 leitete als Assistenzarzt die Geburt. Nachdem der Kopf des Klägers ausgetreten war, folgten die Schultern zunächst nicht. Versuche der Hebamme, durch Ziehen am Kopf des Klägers dessen Schultern zu entwickeln, scheiterten. Daraufhin griff der Beklagte zu 2 ein und zog erneut am Kopf des Kindes, um die Geburt voranzubringen. Nachdem auch seine geburtshilflichen Bemühungen wegen einer beim Kläger vorliegenden Schulterdystokie erfolglos blieben, gelang es dem herbeigerufenen Oberarzt, die Geburt zu vollenden. Beim Kläger traten infolge der Geburtskomplikationen eine Plexusparese des linken Arms sowie eine Gesichts- und Augenlidlähmung ein.
Der Kläger hat die Beklagten (im ersten Rechtszug auch die Hebamme als frühere Beklagte zu 3) auf Zahlung von Schmerzensgeld in Anspruch genommen und die Feststellung ihrer Schadensersatzpflicht begehrt. Er hat insbesondere vorgetragen, der Beklagte zu 2 habe während der Austreibungsphase der Geburt grob gegen ärztliche Pflichten verstoßen, indem er - trotz der insoweit erfolglosen Versuche der Hebamme - nochmals am Kopf des Kindes gezogen habe; dies habe die Schädigung des Klägers herbeigeführt.
Das Landgericht hat - unter Abweisung der Klage im übrigen - die Beklagten zu 1 und zu 2 zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 60.000 DM verurteilt und ihnen gegenüber die begehrte Feststellung ausgesprochen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Mit seiner Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dem Kläger stehe kein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten zu, da der Beklagte zu 2 den beim Kläger eingetretenen Gesundheitsschaden nicht durch ein schuldhaftes ärztliches Fehlverhalten herbeigeführt habe. Allerdings sei das vom Beklagten zu 2 vorgenommene Ziehen am Kopf des Klägers angesichts der bei diesem vorliegenden Schulterdystokie objektiv fehlerhaft gewesen. Ob dieses Vorgehen für die Gesundheitsbeschädigung ursächlich geworden sei, sei zweifelhaft; ein zur Beweislastumkehr zugunsten des Klägers führender grober Behandlungsfehler liege nicht vor. Letztlich könne die Kausalitätsfrage jedoch offenbleiben, da jedenfalls ein schuldhaftes Verhalten des Beklagten zu 2 nicht festzustellen sei. Dieser habe nicht fahrlässig gehandelt, als er am Kopf des Klägers gezogen habe. Er habe in diesem Zeitpunkt noch nicht mit dem Vorliegen einer Schulterdystokie rechnen müssen, vielmehr annehmen können, daß allein wegen der Größe des Kindes, die sich an dem bereits geborenen Kopf gezeigt habe, die Schulter schwer zu entwickeln gewesen sei. Unter diesen Umständen habe er sich durch das Ziehen am Kopf zunächst selbst davon überzeugen dürfen, daß das Kind nicht zu bewegen sei. Bei dieser Sachlage sei sein Vorgehen angesichts der akuten Notsituation nicht als fahrlässig einzustufen.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem Beklagten zu 2 sei kein schuldhafter Verstoß gegen dessen ärztliche Pflichten bei der Geburt des Klägers vorzuwerfen, wird von den getroffenen Feststellungen und dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht hinreichend getragen.
1. Das Berufungsgericht geht allerdings rechtsfehlerfrei davon aus, daß das geburtshilfliche Vorgehen des Beklagten zu 2 insoweit objektiv fehlerhaft war, als er den Kläger, dessen Schultern im Geburtskanal steckengeblieben waren, am Kopf zog. Eine solche Maßnahme war angesichts der Schulterdystokie, die beim Kläger vorlag, medizinisch klar kontraindiziert, wie das Berufungsgericht unter Hinweis auf die Bekundungen des Sachverständigen Professor Dr. H. und auf weitere Stellungnahmen in der medizinischen Literatur beanstandungsfrei dargelegt hat.
2. Die Revision greift jedoch zu Recht die Überlegungen an, aufgrund derer das Berufungsgericht dem Beklagten zu 2 dieses Ziehen am Kopf des Klägers nicht als fahrlässige Verletzung des für ihn maßgeblichen ärztlichen Standards angelastet hat.
a) Das Berufungsgericht ist der Auffassung, eine Gefährdung des Klägers wäre für den Beklagten zu 2 nur dann im Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB vorhersehbar gewesen, wenn er schon im Zeitpunkt seines Eingreifens hätte erkennen müssen, daß bei dem Kind eine Schulterdystokie vorlag. Diese Beurteilung steht, worauf die Revision zutreffend hinweist, nicht im Einklang mit den gutachterlichen Äußerungen des Gerichtssachverständigen Professor Dr. H.. Dieser hat es als fehlerhaft eingestuft, daß der Beklagte zu 2 allein in der Annahme, die Hebamme sei nur kräftemäßig überfordert gewesen, die Schultern zu entwickeln, ohne Untersuchung und ohne Klärung, warum die Schulter des Klägers nicht nachfolgte, einen weiteren Versuch mittels Ziehen am Kopf unternommen hat.
Diese Ausführungen des Sachverständigen zeigen mit Deutlichkeit, daß sich das vom Beklagen zu 2 gewählte Vorgehen bei der von ihm angetroffenen Geburtssituation nicht erst verbot, wenn mit einer Schulterdystokie konkret zu rechnen war, sondern daß ein Ziehen am Kopf des Kindes von vornherein solange dem maßgeblichen ärztlichen Standard widersprach, als keine Klärung über die Ursache des Stockens des Geburtsvorgangs erreicht war. Sollte das Berufungsgericht demgegenüber Zweifel daran gehabt haben, ob die Bekundungen des Sachverständigen in diesem Sinne zu verstehen waren, so hätte es durch zusätzliche Befragung des Gutachters - auch zu dem von Klägerseite vorgetragenen Problem eines zur Vorsicht zwingenden "Turtle-Phänomens" bei Schultergeradstand - auf eine weitere Sachaufklärung hinwirken müssen. Hingegen durfte das Berufungsgericht, das über keine eigene Sachkunde verfügte, unter den gegebenen Umständen nicht aus seiner Sicht heraus zu dem Schluß gelangen, der Beklagte zu 2 habe sich zunächst - ohne weitere Untersuchungsmaßnahmen - durch Ziehen am Kopf des Kindes selbst davon überzeugen dürfen, daß dieses nicht zu bewegen sei.
b) Die Beurteilung der Verschuldensfrage durch das Berufungsgericht wird - was die Revision ebenfalls rügt - auch nicht hinreichend durch die weiteren Bekundungen des Sachverständigen Professor Dr. H. getragen, als Nothilfe sei das Vorgehen des Beklagten zu 2 "nicht als fahrlässig einzustufen". Der Gutachter hat insoweit darauf abgestellt, der Beklagte zu 2 habe in einer akuten Notsituation und bei Nichtanwesenheit eines Facharztes versucht Hilfe zu leisten, wenn auch sein Vorgehen nicht mit den etablierten Behandlungsmethoden übereingestimmt habe.
Diese Stellungnahme des Sachverständigen läßt der Sache nach nicht an dem hier unterlaufenen Verstoß gegen die Gebote des ärztlichen Behandlungsstandards zweifeln; sie kann vielmehr lediglich eine rein subjektive Entlastung des möglicherweise persönlich der Geburtssituation nicht voll gewachsenen Beklagten zu 2 nahelegen. Angesichts des auch im Arzthaftungsrecht maßgeblichen objektivierten zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriffs im Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB (vgl. hierzu z.B. Senatsurteil BGHZ 113, 297, 303 f. m.w.N.) hat der behandelnde Arzt jedoch grundsätzlich für sein dem medizinischen Standard zuwiderlaufendes Vorgehen auch dann haftungsrechtlich einzustehen, wenn dieses aus seiner persönlichen Lage heraus subjektiv als entschuldbar erscheinen mag, etwa weil er sich im gegebenen Behandlungsgeschehen als überfordert erwies und daher mit medizinisch falschen Mitteln helfen wollte. Diese objektiv zu bestimmenden Anforderungen an den mit der Geburtsleitung befaßten Arzt gelten betreffend den Geburtsvorgang des Klägers auch für den Beklagten zu 2, der - worauf die Revision unter Bezugnahme auf die Parteianhörungen im Berufungsrechtszug zu Recht abstellt - zwar noch kein Facharzt, aber auch kein Berufsanfänger mehr war, sondern nach eigener Bekundung ein "erfahrenerer Arzt".
3. Das Berufungsurteil beruht auf diesen nicht rechtsfehlerfreien Überlegungen, aufgrund derer ein schuldhafter Behandlungsfehler des Beklagten zu 2 verneint worden ist. Zur Frage der Kausalität des fehlerhaften ärztlichen Vorgehens für die vom Kläger geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen hat das Berufungsgericht noch keine abschließenden Feststellungen getroffen; revisionsrechtlich ist daher von der seitens des Klägers behaupteten Ursächlichkeit auszugehen, zumal die bisherigen Ausführungen des Sachverständigen durchaus für eine Kausalität des Vorgehens des Beklagten zu 2 sprechen.
III.
Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Im erneuten Berufungsdurchgang wird der Kläger Gelegenheit haben, zu seinen weiteren Angriffen gegen die bisherigen Überlegungen des Berufungsgerichts noch vorzutragen, insbesondere zu der mit der Revision vertretenen Ansicht, entgegen den im aufgehobenen Urteil angestellten Erwägungen sei das dem Beklagten zu 2 haftungsrechtlich anzulastende Vorgehen als grob fehlerhaft mit der Folge einer Beweislastumkehr in der Kausalitätsfrage anzusehen.
Ende der Entscheidung
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