Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 23.01.2001
Aktenzeichen: VI ZR 70/00
Rechtsgebiete: SGB VII


Vorschriften:

SGB VII § 106 Abs. 3
SGB VII § 106 Abs. 3 3. Alternative
SGB VII § 106 Abs. 3, 3. Alternative

Zum Begriff der "gemeinsamen Betriebsstätte" im Sinne des § 106 Abs. 3, 3. Alternative SGB VII.

BGH, Urteil vom 23. Januar 2001 - VI ZR 70/00 - OLG Hamm LG Münster


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 70/00

Verkündet am: 23. Januar 2001

Böhringer Mangold, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 23. Januar 2001 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, die Richter Dr. Lepa, Dr. Dressler und Dr. Greiner sowie die Richterin Diederichsen

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision gegen das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 15. Dezember 1999 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzverpflichtung der Beklagten für immaterielle Schäden aufgrund eines von der zuständigen Berufsgenossenschaft anerkannten Arbeitsunfalls vom 27. März 1998.

An diesem Tag lieferte der Kläger im Auftrag seines Arbeitgebers mit dessen LKW auf dem Betriebshof der Firma J. in A. Gasflaschen an. Während der Kläger hinter dem LKW stand und diesen entlud, kam der Beklagte zu 1) mit einem LKW der Beklagten zu 2), der bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert war, ebenfalls auf das Firmengelände. Er wollte dort im Auftrag der Beklagten zu 2) Waren anliefern oder abholen. Der LKW der Beklagten zu 2) fuhr auf das stehende Fahrzeug des Klägers auf. Der Kläger wurde zwischen beiden Fahrzeugen eingeklemmt und schwer verletzt.

Der Kläger hat vorgetragen, der Beklagte zu 1) sei versehentlich mit dem Fuß vom Kupplungspedal abgerutscht. Er hat von den Beklagten als Gesamtschuldnern ein angemessenes Schmerzensgeld nicht unter 40.000 DM nebst Zinsen begehrt, auf das er eine Zahlung der Beklagten zu 3) in Höhe von 6.809,80 DM anrechnet. Ferner hat er beantragt festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm alle weiteren immateriellen Schäden aus dem Unfall zu ersetzen.

Die Beklagten sind dem Klagebegehren unter Hinweis auf das Haftungsprivileg des § 106 Abs. 3 SGB VII entgegengetreten.

Das Landgericht hat eine solche Haftungsfreistellung verneint, die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 43.190,20 DM verurteilt und die begehrte Feststellung ausgesprochen. Das Oberlandesgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Schmerzensgeld um 10.000 DM verringert; es hat ferner festgestellt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger alle zukünftigen immateriellen Schäden aus dem Unfall zu ersetzen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen.

Mit ihrer zugelassenen Revision begehren die Beklagten, das Berufungsurteil aufzuheben und unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils die Klage insgesamt abzuweisen.

Entscheidungsgründe:

I.

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt, dem Kläger stehe ein Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 40.000 DM zu. Der Beklagte zu 1) habe als Verrichtungsgehilfe der Beklagten zu 2) den Kläger rechtswidrig und schuldhaft verletzt. Nach dem Beweis des ersten Anscheins sei davon auszugehen, daß es zu einer Fehlbedienung der Steuerungselemente des LKW gekommen sei. Die Beklagte zu 3) hafte als Haftpflichtversicherer.

Die Haftung der Beklagten sei nicht nach § 106 Abs. 3 3. Alternative SGB VII ausgeschlossen, denn der Unfall habe sich nicht auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ereignet. Nach der Gesetzessystematik, dem Wortlaut und Zweck der Bestimmung sowie ihrer Entstehungsgeschichte sei das Tatbestandsmerkmal der "gemeinsamen Betriebsstätte" eng auszulegen. Es könne nur bejaht werden, wenn die beteiligten Unternehmen bzw. Arbeitnehmer ein gemeinsames Ziel im weiteren Sinne verfolgten oder zumindest eine gewisse Verbindung der Arbeiten miteinander bestehe. Nach dem Wortlaut der Norm sei eine enge Bindung im Sinne einer Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Unternehmen vorauszusetzen. Daran fehle es, wenn die Unternehmen wie hier lediglich "parallele" Tätigkeiten ausführten und es dabei zu einer Schädigung komme.

Der Feststellungsantrag sei zulässig und ebenfalls begründet.

II.

Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision stand.

1. Zutreffend hat das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten als Gesamtschuldner für den dem Kläger aus dem Unfall vom 27. März 1998 entstandenen Schaden bejaht, weil die Beklagten dem Kläger nach §§ 823 Abs. 1, 831, 840 Abs. 1, 847 BGB und § 3 Nr. 1, 2 PflVG für den vom Beklagten zu 1) verursachten Schaden einzustehen haben. Dagegen erhebt die Revision keine Beanstandungen.

2. Im Ergebnis zu Recht hat das Berufungsgericht die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Haftungsausschluß nach § 106 Abs. 3 3. Alternative SGB VII verneint. Dies ist für den Streitfall nicht zu beanstanden, auch wenn es möglicherweise den Begriff "gemeinsame Betriebsstätte" zu eng ausgelegt hat.

a) Wie der erkennende Senat mit Urteil vom 17. Oktober 2000 (- VI ZR 67/00 - r+s 2001, 26, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt) ausgeführt hat, liefe eine zu enge Auslegung des neu geschaffenen § 106 Abs. 3 3. Alternative SGB VII letztlich auf die frühere Rechtslage hinaus und bliebe deshalb in nicht hinnehmbarer Weise hinter den Intentionen des Gesetzgebers zurück, der erkennbar die Haftungsfreistellung des Schädigers in Fällen der Beteiligung mehrerer Unternehmen im Vergleich zum bisherigen Recht deutlich erweitern wollte.

b) Zu weit geht allerdings die Revision, wenn sie dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung entnehmen will, eine "gemeinsame Betriebsstätte" könne ohne ein Zusammenwirken der Beteiligten vorliegen. Der erkennende Senat hat sich im Urteil vom 17. Oktober 2000 gegen eine so weite Auslegung ausgesprochen, weil sie nicht vereinbar mit der Erkenntnis sei, daß die vom Gesetz geforderte "gemeinsame" Betriebsstätte mehr voraussetze als "dieselbe" Betriebsstätte. Der Gesetzgeber habe nämlich mit dem Postulat der gemeinsamen Betriebsstätte offensichtlich bezweckt, den Kreis der Schadensfälle nicht ausufern zu lassen, in denen eine Haftungsbefreiung einsetzen soll, wenn das Zusammentreffen der Risikosphären mehrerer Betriebe zum Schadensfall führt. Dieser gesetzgeberischen Zielsetzung trägt - wie der Senat ausgeführt hat - am ehesten eine Auslegung des Begriffs der gemeinsamen Betriebsstätte Rechnung, nach der § 106 Abs. 3 3. Alternative SGB VII ein bewußtes Miteinander im Arbeitsablauf meint, das zwar nicht nach einer rechtlichen Verfestigung oder auch nur ausdrücklichen Vereinbarung verlangt, sich aber zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Haftungsfreistellung des § 106 Abs. 3 3. Alternative SGB VII erfaßt damit über die Fälle der Arbeitsgemeinschaft hinaus betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewußt und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, daß die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt.

c) Nach diesen Grundsätzen hat das Oberlandesgericht hier im Ergebnis zu Recht eine "gemeinsame" Betriebsstätte verneint. Es hat - von der Revision unbeanstandet - in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, der Kläger sei im Begriff gewesen, Gasflaschen abzuladen; der Beklagte zu 1) habe abwarten wollen, bis der Kläger seine Tätigkeit beendet gehabt habe, um dann seinerseits mit dem Ausladen oder Beladen von Kunststofftonnen zu beginnen. Während dieses Abwartens sei der LKW der Beklagten zu 2) auf das Fahrzeug des Klägers aufgefahren und habe den Kläger verletzt. Hiernach trafen der Kläger und der Beklagte zu 1) rein zufällig aufeinander. Es fehlt ein bewußtes und gewolltes Ineinandergreifen der Tätigkeiten des Klägers und der Beklagten zu 1) oder zu 2), wie dies nach den Grundsätzen des Senatsurteils vom 17. Oktober 2000 jedoch erforderlich wäre. Allein der Umstand, daß die Tätigkeiten des Klägers und des Beklagten zu 1) der Abwicklung des geschäftlichen Warenaustausches zwischen der Firma J. und ihren Lieferanten oder Kunden dienen sollten, ist nicht geeignet, die beiderseitigen Aktivitäten in der erforderlichen Weise miteinander zu verknüpfen. Der Kläger hat die Verletzungen, aus denen er seine Ansprüche herleitet, mithin nicht bei einer betrieblichen Tätigkeit auf einer "gemeinsamen" Betriebsstätte im Sinne von § 106 Abs. 3 3. Alternative SGB VII erlitten, weil die Tätigkeiten des Klägers und des Beklagten zu 1) nicht aufeinander bezogen oder im Sinne des genannten Senatsurteils miteinander verknüpft waren.

III.

Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Ende der Entscheidung

Zurück