Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 22.02.2000
Aktenzeichen: VI ZR 92/99
Rechtsgebiete: StVO


Vorschriften:

StVO § 3 Abs. 1
StPO § 5 Abs. 2
StVO §§ 3 Abs. 1, 5 Abs. 2

Aus einer Gesamtschau der §§ 3 Abs. 1, 5 Abs. 2 StVO folgt, daß sich der Überholende zu Beginn des Überholvorgangs vergewissern muß, daß ihm der benötigte Überholweg hindernisfrei zur Verfügung steht.

BGH, Urteil vom 22. Februar 2000 - VI ZR 92/99 - OLG Hamm LG Essen


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 92/99

Verkündet am 22. Februar 2000

Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 22. Februar 2000 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler und Dr. Greiner

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 27. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 12. Januar 1999 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger erlitt erhebliche Verletzungen, als er am 18. Juni 1994 zwischen 22.35 und 22.55 Uhr mit seinem Leichtkraftrad auf der zweispurigen B 240 zwischen H. und D. mit dem entgegenkommenden, von L. gesteuerten und bei dem Beklagten haftpflichtversicherten Pkw zusammenprallte. L. war gerade im Begriff, auf der Gegenfahrbahn mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h den vor ihm fahrenden Pkw der Zeugin A. zu überholen. Er hatte während des Überholvorgangs Abblendlicht eingeschaltet. Das Fahrzeug des Klägers war vorn unbeleuchtet; es war bei Beginn des Überholmanövers 120 m von L. entfernt.

Der Kläger begehrt mit der Klage die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes; ferner erstrebt er die Feststellung der Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz seines nach einem etwaigen Anspruchsübergang auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte noch verbleibenden zukünftigen materiellen und immateriellen Unfallschadens. Er behauptet, daß sich der Unfall bei Dämmerung ereignet habe, so daß ihn L. habe wahrnehmen können. L. sei zu schnell und beim Überholen zu weit links gefahren, überdies habe er versäumt, auszuweichen, obwohl ihm dies möglich gewesen sei.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat einen unfallursächlichen schuldhaften Verstoß des L. gegen seine Verhaltenspflichten im Straßenverkehr verneint. Es ist auf der Grundlage einer Auskunft des Deutschen Wetterdienstes und der Aussagen der zu den Sichtverhältnissen vernommenen Zeugen zu dem Ergebnis gelangt, daß es im Unfallzeitpunkt bereits dunkel war. Damit entfalle ein Verstoß des L. gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO; die nach dieser Vorschrift geforderte besondere Sorgfalt müsse sich nach dem Einbruch der Dunkelheit allein auf beleuchtete Fahrzeuge erstrecken. Auch aus einer Verletzung des Sichtfahrgebots nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO ließen sich die Ansprüche nicht herleiten. L. habe den Kläger im Abblendlicht seines Fahrzeugs erstmals auf eine Entfernung von etwa 50 m wahrnehmen können. Zwar hätte er nach dem Sichtfahrgebot bei Abblendlicht nur mit einer Geschwindigkeit von 55 km/h fahren dürfen. Dennoch sei der Unfall nicht auf die Verletzung des Sichtfahrgebots zurückzuführen, weil auch die Einhaltung dieser Geschwindigkeit nicht ausgereicht hätte, um eine Kollision mit dem mit einer Geschwindigkeit von 65 km/h entgegenkommenden Kläger zu vermeiden. Dem L. könne auch nicht vorgeworfen werden, daß er überhaupt zum Überholen angesetzt habe, obwohl er nur mit Abblendlicht habe fahren dürfen, weil sonst die Zeugin A. geblendet worden wäre. Das Sichtfahrgebot finde seine Grenze am Vertrauensgrundsatz; es wirke nicht zugunsten eines Verkehrsteilnehmers, der sich - wie der Kläger - in verkehrswidriger Weise mit einer ins Gewicht fallenden Geschwindigkeit auf den Entgegenkommenden zubewege. Ein verkehrswidriges Verhalten des L. lasse sich auch nicht darin erblicken, daß er es versäumt habe, während des Überholmanövers wenigstens kurz aufzublenden. Nach § 5 Abs. 5 Satz 2 StVO dürfe das Fernlicht lediglich zur Ankündigung des Überholens eingesetzt werden; während des Überholvorgangs selbst sei dem L. die Benutzung des Fernlichts nach § 17 Abs. 2 Satz 3 StVO untersagt gewesen, um eine Blendwirkung für die vor oder neben ihm fahrende A. zu vermeiden. L. hätte frühestens aufblenden dürfen, als sich sein Fahrzeug mit dem der A. auf gleicher Höhe befunden habe; dies sei jedoch der Augenblick unmittelbar vor der Kollision gewesen. Es könne dahinstehen, ob der Unfall für L. ein unabwendbares Ereignis i.S. von § 7 Abs. 2 StVG gewesen sei, denn bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge trete eine dem Beklagten etwa anzulastende Betriebsgefahr gegenüber dem groben Verstoß des Klägers gegen die Beleuchtungspflicht aus § 17 Abs. 1 Satz 1 StVO zurück.

II.

Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Überprüfung im Ergebnis nicht stand. 1. Allerdings bleiben die Verfahrensrügen der Revision ohne Erfolg.

a) Nicht durchdringen kann die Rüge der Revision, das Berufungsgericht sei verfahrensfehlerhaft davon ausgegangen, daß im Unfallzeitpunkt bereits völlige Dunkelheit geherrscht habe. Der Deutsche Wetterdienst hat in seinem amtlichen Gutachten im einzelnen ausgeführt, daß am Unfalltag noch vor 22.35 Uhr die sog. bürgerliche Dämmerung beendet gewesen sei. Dieses Gutachten läßt Mängel nicht erkennen. Überdies haben vier Zeugen übereinstimmend bekundet, daß im Unfallzeitpunkt bereits Dunkelheit geherrscht hat.

b) Ebensowenig hat die Revision mit der Rüge Erfolg, die Feststellung des Berufungsgerichts zur Geschwindigkeit des Motorrades des Klägers (65 km/h) beruhe auf einer nicht ausreichend zuverlässigen Grundlage. Der Sachverständige hat die Geschwindigkeit mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (kollisionsmechanische Betrachtung, fotogrammetrische Auswertung) ermittelt. Gesichtspunkte, die das Berufungsgericht hätten hindern können, das Ergebnis des Sachverständigen der tatrichterlichen Überzeugungsbildung zugrunde zu legen, sind nicht ersichtlich.

2. Hingegen sind die Gründe, mit denen das Berufungsgericht eine unfallursächliche schuldhafte Verletzung der Verhaltenspflichten des L. im Straßenverkehr und damit dem Grunde nach eine Haftung des Beklagten aus §§ 823, 847 BGB, § 3 PflVG verneint hat, von ergebnisrelevanten Rechtsfehlern beeinflußt.

a) Der Senat teilt nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, nach der das Fahrverhalten des L. nicht an den Postulaten der §§ 3 Abs. 1 Satz 2, 5 Abs. 2 Satz 1 StVO zu messen sei, weil sich der Kläger in dem Zeitpunkt, als L. zum Überholen angesetzt habe, außerhalb der Schutzbereiche dieser Vorschriften bewegt habe. Vielmehr läßt sich nach Auffassung des Senats diesen Vorschriften bei einer Gesamtschau eine Aussage des Inhalts entnehmen, daß ein Fahrzeugführer nur dann überholen darf, wenn er sich zuvor vergewissert hat, daß ihm der benötigte Überholweg hindernisfrei zur Verfügung steht. Aus seiner Zweckbestimmung, die mit einem Überholvorgang verbundenen spezifischen Gefahren auszuschließen, folgt, daß dieses Gebot jedes Hindernis erfaßt. Dieser Bestimmung des Schutzzwecks steht das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22. Dezember 1961 (4 StR 365/61 - VRS 22, 137, 139) nicht entgegen; dort ging es nicht um die Frage, welchen Sorgfaltsanforderungen der Überholende genügen muß. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts fällt damit der Kläger unabhängig davon, daß das Frontlicht seines Kraftrades nicht brannte, in den Schutzbereich dieses Gebots.

Der Fahrer L. hat dieses Gebot schuldhaft verletzt, als er mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h mit Abblendlicht zum Überholen ansetzte. Er konnte unter diesen Umständen nicht übersehen, daß ihm der benötigte Überholweg hindernisfrei zur Verfügung stand. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hätte er mit Abblendlicht höchstens mit einer Geschwindigkeit von 55 km/h fahren dürfen, um auf ein Hindernis auf seiner Fahrbahn noch rechtzeitig reagieren zu können. Damit hätte L. nach den Umständen, mit denen er sich konfrontiert sah - einer für erforderlich gehaltenen Überholgeschwindigkeit von 80 km/h einerseits und einer durch das Abblendlicht begrenzten Sichtweite andererseits - von der Durchführung des Überholvorgangs absehen müssen.

Dies bedeutet, daß die Unfallverletzungen, auf die der Kläger seine Schadensersatzansprüche stützt, mit auf einem schuldhaften Fahrfehler des L. beruhen. Der Senat hat deshalb das Berufungsurteil aufgehoben, um dem Berufungsgericht Gelegenheit zu geben, diesen Sorgfaltsverstoß in die Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge einzubeziehen.

b) Bei dieser Sachlage stellt sich nicht mehr die Frage, ob L. die Zeugin A. mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h hätte überholen dürfen, wenn er - sei es auch nur kurz - das Fernlicht eingeschaltet hätte. Hierzu beschränkt sich der Senat auf folgende Bermerkungen:

Im Schrifttum wird vereinzelt die Meinung vertreten, das Blendverbot des § 17 Abs. 2 Satz 3 StVO stehe der Betätigung des Fernlichts beim Überholen entgegen (vgl. Booß, Straßenverkehrs-Ordnung, 3. Aufl. § 17 Anm. 2). Auf der anderen Seite findet sich die Auffassung, das Sichtfahrgebot verlange, beim zügigen Überholen das Fernlicht einzuschalten, wenn der Überholende sonst die zum Anhalten benötigte Strecke nicht überblicken kann; der Überholte müsse die für ihn damit verbundene Blendwirkung hinnehmen (vgl. OLG Hamm, VRS 20, 297, 298 und DAR 1970, 132, 133; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 17 StVO Rdn. 23; Mähl, DAR 1970, 233; Mühlhaus/Janiszewski, Straßenverkehrs-Ordnung, 15. Aufl., § 17 Rdn. 8 b). Nach einer vermittelnden Auffassung ist es dem Überholenden gestattet, sich durch ein kurzes Einschalten des Fernlichts zu Beginn des Überholvorgangs einen Überblick über den benötigten Überholweg zu verschaffen, bis er wieder aufblenden kann, sobald beide Fahrzeuge auf gleicher Höhe sind (vgl. Drees/Kuckuck/Werny, Straßenverkehrsrecht, § 17 StVO Rdn. 9; Maase, DAR 1961, 9, 10; Jäger in Heidelberger Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, § 17 StVO Rdn. 25). Mit Blick auf § 5 Abs. 5 StVO, wonach außerhalb geschlossener Ortschaften dann, wenn entgegenkommende Fahrzeugführer nicht geblendet werden, das Überholen auch durch ein kurzes Blinken mit Fernlicht angezeigt werden darf, neigt der Senat der letztgenannten Auffassung zu. Dies unter der Voraussetzung, daß ein kurzes Aufblinken nach den örtlichen Verhältnissen einen ausreichend sicheren Überblick über die Überholstrecke erwarten läßt.

Ende der Entscheidung

Zurück