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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 06.12.2006
Aktenzeichen: XII ZB 99/06
Rechtsgebiete: GG, ZPO


Vorschriften:

GG Art. 103 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 1
ZPO § 238 Abs. 2 Satz 1
ZPO § 522 Abs. 1 Satz 4
ZPO § 574 Abs. 1 Nr. 1
ZPO § 574 Abs. 2 Nr. 2
ZPO § 85 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

XII ZB 99/06

vom 6. Dezember 2006

in dem Rechtsstreit

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Dezember 2006 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Sprick, Weber-Monecke, Prof. Dr. Wagenitz und Dose beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des 6. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Hamm vom 10. April 2006 aufgehoben.

2. Dem Antragsteller wird wegen der Versäumung der Berufungsfrist gegen das Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Detmold vom 21. September 2005 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Beschwerdewert: 6.415 €.

Gründe:

I.

Der Antragsteller hat gegen das ihm am 26. September 2005 zugestellte Urteil des Amtsgerichts mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2005, eingegangen beim Berufungsgericht am (Donnerstag) 27. Oktober 2005, Berufung eingelegt und diese zugleich begründet. Am 7. März 2006 wies der Vorsitzende des Berufungssenats den Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers telefonisch auf den verspäteten Eingang der Berufungsschrift hin. Daraufhin beantragte der Antragsteller mit am 20. März 2006 eingegangenem Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist.

Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Antragstellers.

II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch sonst zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nach ständiger Rechtsprechung außer in Fällen der Divergenz auch dann geboten, wenn bei der Auslegung oder Anwendung revisiblen Rechts Fehler über die Einzelfallentscheidung hinaus die Interessen der Allgemeinheit nachhaltig berühren. Das ist vor allem dann anzunehmen, wenn das Beschwerdegericht Verfahrensgrundrechte, insbesondere die Grundrechte auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip) oder auf ein objektiv willkürfreies Verfahren (Art. 3 Abs. 1 GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt hat (BGHZ 151, 221, 226).

Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dient in besonderer Weise dazu, die Rechtsschutzgarantie und das rechtliche Gehör zu gewährleisten. Die Verfahrensgrundrechte auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und auf rechtliches Gehör gebieten es daher, den Zugang zu den Gerichten und den weiteren Instanzen nicht in unzumutbarer, sachlich nicht gerechtfertigter Weise zu erschweren. Deswegen dürfen gerade bei der Auslegung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung die Anforderungen an die Sorgfalt eines Rechtsanwalts nicht überspannt werden (Senatsbeschluss vom 11. Februar 2004 - XII ZB 263/03 - FamRZ 2004, 696 m.w.N.). Das hat das Berufungsgericht hier verkannt.

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Dem Antragsteller ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren, weil er diese Frist weder aus eigenem noch aus einem ihm zurechenbaren Verschulden seines Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) versäumt hat.

a) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ergibt sich ein zurechenbares Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers nicht schon daraus, dass dieser wegen fehlender Vorlage der Sache zur notierten Vorfrist am 19. Oktober 2005 an der Zuverlässigkeit seiner Büroangestellten hätte zweifeln müssen.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Eintragung einer Vorfrist für die Berufungsfrist - im Gegensatz zur Berufungsbegründungsfrist (vgl. insoweit Senatsbeschlüsse vom 25. Juni 1997 - XII ZB 61/97 - NJW-RR 1997, 1289 und vom 20. April 1994 - XII ZB 47/94 - FamRZ 1994, 1519, 1520; BGH Urteil vom 19. November 1976 - IV ZR 36/76 - VersR 1977, 332; Beschlüsse vom 21. Februar 1974 - VII ZB 4/74 - VersR 1974, 756 und vom 30. November 1951 - I ZB 14/51 - NJW 1952, 183) - grundsätzlich nicht erforderlich (BGH Beschluss vom 24. Mai 1973 - III ZB 5/73 - VersR 1973, 840). Wenn der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers gleichwohl auch hinsichtlich der Berufungsfrist mit einer doppelten Fristenkontrolle eine über das gebotene Maß hinausgehende organisatorische Sicherung angeordnet hat, kann dies jedenfalls nicht zu einer Verschärfung der ihn treffenden Sorgfaltspflichten führen (BGH Urteil vom 19. Dezember 1991 - VII ZR 155/91 - NJW 1992, 1047).

bb) Zweifel an der Zuverlässigkeit seiner Büroangestellten musste der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers aber auch deswegen nicht haben, weil sich - entgegen der Annahme des Berufungsgerichts - aus dem Sach- und Streitstand keineswegs ergibt, dass die Akten dem Prozessbevollmächtigten nicht zur Vorfrist am 19. Oktober 2005 vorgelegt wurden. Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags hatte der Beklagte nämlich ausdrücklich vorgetragen, dass die Akte seinem Prozessbevollmächtigten zu den Fristterminen zur Bearbeitung vorgelegt worden sei. Diese Formulierung ist nur so zu verstehen, dass die Büroangestellte die Akten sowohl zur Vorfrist als auch zur Hauptfrist vorgelegt hatte.

Wenn dem Berufungsgericht - trotz dieses eindeutigen Wortlauts - gleichwohl Zweifel an der Zuverlässigkeit der Büroangestellten verblieben waren, hätte es den Antragsteller jedenfalls darauf hinweisen müssen. Denn ein Gericht, das ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte, verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör dieser Prozesspartei (BVerfG NJW 1994, 1274). Für die Versagung der Wiedereinsetzung ist diese Verletzung des rechtlichen Gehörs - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - auch erheblich geworden. Denn der Antragsteller hätte - was im Verfahren der Rechtsbeschwerde zu unterstellen ist - nach dem Inhalt seiner Rechtsbeschwerdebegründung ausdrücklich vorgetragen, dass die Akte seinem Prozessbevollmächtigten auch zur Vorfrist vorgelegt worden war und er diese zur Hauptfrist zurückgegeben hatte. Für Zweifel an der Zuverlässigkeit seiner Büroangestellten bestand dann aber kein Anlass.

b) Soweit das Berufungsgericht seine Entscheidung alternativ auf Zweifel an der Glaubhaftigkeit des dargestellten Geschehensablaufs stützt, beruht auch dies auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs des Antragstellers (Art. 103 Abs. 1 GG).

aa) Der Antragsteller hat als Ursache für die Versäumung der Berufungsfrist einen Fehler der Bürokraft seines Prozessbevollmächtigten angeführt. Zugleich hat er dargelegt und glaubhaft gemacht, dass aufgrund einer Organisationsanweisung in der Sozietät seines Prozessbevollmächtigten bei Eingang erstinstanzlicher Urteile der Tag des Ablaufs der Berufungsfrist auf dem Urteil selbst notiert wird. Weiter hat er dargelegt und glaubhaft gemacht, dass zusätzlich als Vorfrist der siebte Kalendertag vor Fristablauf auf dem Urteil vermerkt wird, und dass deswegen hier für den Ablauf der Berufungsfrist der 26. Oktober 2005 und als Vorfrist der 19. Oktober 2005 vermerkt worden sind. Nach der Organisationsanweisung in der Sozietät seines Prozessbevollmächtigten werden Fristsachen, die nicht unverzüglich per Büroboten bedient werden, ausnahmslos per Telefax übermittelt. Im EDV-System werden sie erst dann als erledigt markiert, wenn nach Abschluss des Übertragungsvorgangs anhand des Fax-Protokolls festgestellt wurde, dass die Übertragung erfolgreich, fehlerfrei und an die richtige Telefaxnummer durchgeführt worden ist. Diese Anweisung des Prozessbevollmächtigten wird zudem stichprobenartig kontrolliert.

Entsprechend hat die Kanzleiangestellte des Prozessbevollmächtigten glaubhaft gemacht, dass sie den von ihm unterzeichneten Berufungsschriftsatz auf das Telefaxgerät gelegt und die Nummer des Oberlandesgerichts angewählt hat. Die Berufungsschrift sei nur deswegen nicht rechtzeitig zugegangen, weil sie vergessen habe, die Starttaste des Telefax zu betätigen. Nach einer Unterbrechung des Arbeitsvorgangs sei sie irrtümlich davon ausgegangen, dass der von jemand anderem auf die Akte gelegte Schriftsatz versandt worden sei; nur deswegen habe sie die Berufungsfrist gestrichen.

bb) Zweifel an diesem an Eides statt versicherten Geschehensablauf hat das Berufungsgericht allein damit begründet, dass die Berufung nach dem Wortlaut der Berufungsschrift gegen das "am 30.09.2005 zugestellte Urteil des Amtsgerichts" eingelegt worden ist. Soweit das Berufungsgericht diesem unrichtigen Zustellungsdatum (30. September 2005 statt 26. September 2005) eine - für die Fristversäumung ursächliche - Fehlvorstellung des Prozessbevollmächtigten über den Ablauf der Berufungsfrist entnimmt, schöpft auch dies den sich aus den Akten ergebenden Sach- und Streitstand nicht hinreichend aus:

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen (Senatsbeschluss vom 31. August 2005 - XII ZR 63/03 - NJW-RR 2005, 1603). So liegt der Fall hier.

Der Antragsteller hat die Diskrepanz zwischen dem zutreffenden Zustelldatum (26. September 2005) und dem im Berufungsschriftsatz angegebenen Datum (30. September 2005) plausibel dadurch erklärt, dass das Urteil zweimal, nämlich am 26. und am 30. September 2005, zugestellt worden war. Weiter hat er vorgetragen, dass die für das Berufungsverfahren zutreffenden Fristen nach der Zustellung am 26. September 2005 auf dem Urteil vermerkt und im Fristenkalender eingetragen worden sind; dies hat er durch Vorlage der Deckblätter der beiden zugestellten Urteile mit entsprechenden Eingangsstempeln und Fristnotierungen belegt. Auf diesen Vortrag ist das Berufungsgericht nicht eingegangen, obwohl er für die Begründung des angefochtenen Beschlusses von zentraler Bedeutung ist. Dass im Berufungsschriftsatz - fehlerhaft - von einem am 30. September 2005 zugestellten Urteil die Rede ist, lässt sich nämlich allein wegen des zeitlichen Ablaufs eher mit einem Versehen (erst) beim Diktat dieses Schriftsatzes, als mit einer Fehlvorstellung über den Lauf der Berufungsfrist schon bei der erstmaligen Zustellung am 26. September 2005 erklären. Dafür spricht auch, dass nach dem Vortrag des Antragstellers die Fristvorlagen im Büro seines Prozessbevollmächtigten taggenau erfolgen, was eine Vorlage am 26. Oktober 2005 nicht erklären könnte, wenn die Bürokraft von einem Fristablauf am 30. Oktober 2005 ausgegangen wäre.

Auch insoweit ist die fehlende Berücksichtigung des Sachvortrags, die hier zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs führt, entscheidungserheblich. Denn bei hinreichender Würdigung der vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vorgetragenen Gründe hätten dem Prozessgericht Zweifel an der Glaubhaftigkeit des dargestellten Geschehensablaufs nicht verbleiben können.

3. Mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist entfällt zugleich die Verwerfung der Berufung des Antragstellers als unzulässig. Denn dieser Entscheidung ist mit der Wiedereinsetzung die Grundlage entzogen, ohne dass es insoweit eines ausdrücklichen Ausspruchs bedarf (Senatsbeschluss vom 9. Februar 2005 - XII ZB 225/04 - FamRZ 2005, 791, 792 m.w.N.).



Ende der Entscheidung

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