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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 30.07.2008
Aktenzeichen: XII ZR 150/06
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 1600 Abs. 1 Nr. 2
BGB § 1600 Abs. 2
BGB § 1600 Abs. 4
ZPO § 640 d
Zum Umfang der Amtsaufklärungspflicht und zur Darlegungslast des Klägers für das Nichtbestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind im Falle der Anfechtung der Vaterschaft durch den biologischen Vater.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

XII ZR 150/06

Verkündet am: 30. Juli 2008

in der Familiensache

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juli 2008 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne, den Richter Sprick, die Richterin Dr. Vézina und die Richter Dose und Dr. Klinkhammer

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision gegen das Urteil des 9. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Hamm vom 4. August 2006 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Von Rechts wegen Tatbestand:

Der Kläger ist der leibliche Vater der am 19. April 2004 geborenen Beklagten zu 1. Der Beklagte zu 2, der die Vaterschaft für die Beklagte am 14. Mai 2004 mit Zustimmung der Kindesmutter anerkannt hat, lebt mit dieser zusammen.

Mit seiner den Beklagten am 4. August 2004 zugestellten Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass nicht der Beklagte zu 2, sondern er selbst der Vater der Beklagten zu 1 ist.

Das Amtsgericht (Familiengericht) gab der Klage nach Einholung eines Abstammungsgutachtens durch ein nicht mit Tatbestand und Entscheidungsgründen versehenes Urteil statt. Auf die Berufung der Beklagten zu 1 änderte das Berufungsgericht die angefochtene Entscheidung und wies die Klage ab. Dagegen richtet sich die zugelassene Revision des Klägers, mit der er die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.

Entscheidungsgründe:

Die Revision hat keinen Erfolg.

I.

Das Berufungsgericht hat trotz des vorliegenden Verstoßes gegen § 310 Abs. 2 ZPO in der Sache entschieden, weil keine der Parteien die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das Familiengericht beantragt hat. Es hat es ferner als unschädlich angesehen, dass der Beklagte zu 2 sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt hat, weil er notwendiger Streitgenosse der Beklagten zu 1 und infolge der von dieser eingelegten Berufung selbst Partei des Berufungsverfahrens geworden sei.

Das ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden und wird auch von der Revision nicht angegriffen.

II.

1. Die Parteien streiten allein darüber, ob zwischen den Beklagten eine sozial-familiäre Bindung besteht, die es dem nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB grundsätzlich anfechtungsberechtigten Kläger hier nach § 1600 Abs. 2 BGB verwehrt, die nach § 1592 Nr. 2 BGB bestehende rechtliche Vaterschaft des Beklagten zu 2 anzufechten.

Das Berufungsgericht hat dies bejaht, weil der Beklagte zu 2 mit der Beklagten zu 1 seit längerer Zeit, nämlich seit mehr als zwei Jahren, in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebe. Deshalb sei nach § 1600 Abs. 3 BGB a.F. davon auszugehen, dass er die tatsächliche Verantwortung für die Beklagte zu 1 trage und somit eine sozial-familiäre Beziehung im Sinne des Absatzes 2 dieser Vorschrift bestehe.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob ein längeres Zusammenleben im Sinne des § 1600 Abs. 3 Satz 2 2. Halbs. BGB a.F. vorliege, sei entgegen der Auffassung des Klägers nicht der Zeitpunkt der Klageerhebung, sondern der der letzten mündlichen Verhandlung. Wegen dieser Frage, die höchstrichterlich noch nicht geklärt sei, hat das Berufungsgericht die Revision zugelassen.

2. Die Auffassung des Berufungsgerichts, es komme insoweit auf den Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung an, trifft zu; davon geht auch die Revision aus. Der Senat hat die Zulassungsfrage nach Erlass der angefochtenen Entscheidung in diesem Sinn beantwortet (Senatsurteil BGHZ 170, 161, 166 f. = FamRZ 2007, 538, 539 f. mit zust. Anm. Luthin FamRZ 2007, 542). Auf die dort gegebene Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.

3. Die Angriffe der Revision richten sich allein gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, der Kläger sei seiner Darlegungslast für Umstände, die gegen die Regelvermutung des § 1600 Abs. 4 Satz 2 2. Halbs. BGB sprächen, nicht nachgekommen. Insoweit habe das Berufungsgericht übersehen, dass in Kindschaftssachen der Amtsermittlungsgrundsatz herrsche (§§ 640 Abs. 1, 616 Abs. 1 ZPO). Deshalb habe der Kläger sich darauf beschränken können, die Darlegungen der Beklagten zu den Umständen, die für eine sozial-familiäre Beziehung zwischen ihnen sprächen, mit Nichtwissen zu bestreiten. Ferner habe das Berufungsgericht bei seiner Würdigung der Voraussetzungen des § 1600 Abs. 2 BGB auch nicht den Umstand außer Acht lassen dürfen, dass der Beklagte zu 2 das erstinstanzliche Urteil nicht angefochten habe.

4. Damit hat die Revision keinen Erfolg.

a) Das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung, das zur Unbegründetheit einer Anfechtungsklage nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB führt (Senatsurteil BGHZ 170, 161, 166 = FamRZ 2007, 538, 539) ist aufgrund der gesetzlichen Definition dieser Beziehung in § 1600 Abs. 4 Satz 1 BGB unwiderleglich stets zu bejahen, wenn der rechtliche Vater für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt; dies begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (Senatsurteil BGHZ 170, 161, 171 = FamRZ 2007, 541 unter II 4 b bb).

b) Soweit der Begründung der angefochtenen Entscheidung allerdings entnommen werden könnte, schon ein längeres Zusammenleben des rechtlichen Vaters mit dem Kind in häuslicher Gemeinschaft rechtfertige stets die Vermutung, dass der rechtliche Vater auch die tatsächliche Verantwortung für das Kind im Sinne des § 1600 Abs. 4 Satz 1 BGB trage, ginge dies über die gesetzliche Regelannahme des § 1600 Abs. 4 Satz 2 BGB in ihrem Zusammenspiel mit Absatz 4 Satz 1 dieser Vorschrift hinaus. Denn Absatz 4 Satz 1 hat das Tragen der tatsächlichen Verantwortung zur Voraussetzung, während Satz 2 lediglich eine - widerlegliche - Regelannahme für die (anfängliche) Übernahme dieser Verantwortung enthält. Letztere reicht indes für das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung nicht aus, weil diese nach § 1600 Abs. 4 Satz 1 BGB voraussetzt, dass der rechtliche Vater die einmal übernommene Verantwortung (noch) trägt, diese also auch über den Zeitpunkt ihrer erstmaligen Übernahme hinaus weiterhin von ihm wahrgenommen wird. Die Übernahme der tatsächlichen Verantwortung begründet ihrerseits noch keine Regelannahme dahin, dass diese Verantwortung auch weiterhin wahrgenommen wird und somit eine sozial-familiäre Beziehung im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung noch besteht (Senatsurteil BGHZ 170, 161, 172 = FamRZ 2007, 541 unter II 4 b cc).

c) Dies verhilft der Revision aber nicht zum Erfolg.

aa) Es ist bereits fraglich, ob das Berufungsgericht mit seiner unter II 2 b der Entscheidungsgründe möglicherweise verkürzt dargestellten gesetzlichen Regelannahme eine von der vorstehend wiedergegebenen Auffassung des Senats abweichende Ansicht vertreten wollte. Jedenfalls hat sich das Berufungsgericht nicht darauf beschränkt, allein aus dem längeren Zusammenleben der Beklagten in häuslicher Gemeinschaft auf eine sozial-familiäre Beziehung zwischen ihnen zu schließen. Es hat vielmehr den vom Kläger lediglich mit Nichtwissen bestrittenen weiteren Vortrag der Beklagten zu 1 zur fortgesetzten Wahrnehmung der tatsächlichen Verantwortung durch den Beklagten zu 2 im Tatbestand wiedergegeben und die Feststellung getroffen, dass der Beklagte zu 2 schon seit der Geburt der Beklagten zu 1 gemeinsam mit dieser (und der Kindesmutter) in einer familiären Struktur lebt und die tatsächliche Verantwortung für die Beklagte zu 1 seitdem gemeinsam mit der Kindesmutter trägt.

bb) Insoweit hat das Berufungsgericht auch zu Recht entschieden, dass das Bestreiten der Darstellung der Beklagten zu 1 mit Nichtwissen angesichts der dem Kläger obliegenden Darlegungslast unbeachtlich ist (Senatsurteil BGHZ 170, 161, 173 = FamRZ 2007, 541 unter II 4 b cc). Daran vermag auch der Einwand der Revision, der Kläger habe sich auf ein Bestreiten mit Nichtwissen beschränken dürfen, weil er keinen Kontakt mehr zur Kindesmutter gehabt habe, schon deshalb nichts zu ändern, weil die Revisionserwiderung zutreffend darauf hinweist, dass der Kläger seinem eigenen Schriftsatz vom 25. Juli 2006 zufolge seit Juni 2006 regelmäßige Besuchskontakte zur Beklagten zu 1 unterhielt. Unter diesen Umständen hätte es zumindest weiteren Vortrags bedurft, warum es dem Kläger gleichwohl nicht möglich gewesen sei, zumindest ansatzweise Einblick in die Beziehung zwischen den Beklagten zu nehmen, und sei es auch nur anlässlich der von ihm nicht dargelegten äußeren Umstände, unter denen diese Besuchskontakte stattfanden.

cc) Entgegen der Auffassung der Revision ändert auch der im vorliegenden Verfahren geltende Amtsermittlungsgrundsatz an diesem Ergebnis nichts. Der Kläger hat keine objektiven Umstände vorgetragen, die gegen eine sozial-familiäre Beziehung sprechen könnten und denen das Gericht aufgrund seiner Amtsermittlungspflicht hätte nachgehen müssen. Er hat vielmehr in seiner Berufungserwiderung eingeräumt, es möge sein, "dass bis zum heutigen Tage eine solche Beziehung zwischen der Beklagten zu 1 und dem Beklagten zu 2 gewachsen ist", und sich insoweit lediglich auf seine Rechtsansicht berufen, auf die nach Klageerhebung eingetretene Entwicklung komme es nicht an. Hat der Kläger aber keine Umstände dargelegt und sind auch sonst keine Anhaltspunkte ersichtlich, die gegen eine fortdauernd wahrgenommene tatsächliche Verantwortung sprechen, darf der Tatrichter auch ohne weitere Amtsermittlung davon ausgehen, dass der rechtliche Vater die von ihm übernommene Verantwortung weiterhin trägt (Senatsurteil BGHZ 170, 161, 169 = FamRZ 2007, 541 unter II 4 b).

dd) Auch der Umstand, dass der Beklagte zu 2 kein eigenes Rechtsmittel gegen das amtsgerichtliche Urteil eingelegt hat, bot im Gegensatz zur Auffassung der Revision keinen Anlass, zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen zusätzliche Beweismittel heranzuziehen.

Der anwaltlich vertretene Beklagte zu 2 hatte in erster Instanz Klagabweisung beantragt und damit zu erkennen gegeben, dass ihm der Rechtsstreit nicht gleichgültig war. Dies hat er zudem bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Amtsgericht mit der Erklärung bekräftigt, dass er sich ungeachtet des vorliegenden Ergebnisses des Abstammungsgutachtens als Vater der Beklagten zu 1 fühle und dies auch bleiben wolle.

Mit dieser Anhörung hatte das Amtsgericht seiner Amtsaufklärungspflicht genügt, da es deren Ergebnis in Verbindung mit dem unstreitigen Sachverhalt als ausreichend ansehen durfte, um sich von dem Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen den Beklagten zu überzeugen. Entgegen der von der Revision in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung bedurfte es insbesondere nicht einer Anhörung des Jugendamtes. Zwar hatte der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes eine solche Anhörung im Fall der Anfechtung durch den biologischen Vater vorgesehen, indem § 640 d ZPO um einen entsprechenden Absatz 2 ergänzt werden sollte (BT-Drucks. 15/2253 S. 6); dies ist jedoch nicht in das Gesetz übernommen worden. Eine Befragung des Jugendamtes ist daher nur angebracht, soweit dies dem Gericht zur Sachaufklärung zweckmäßig oder notwendig erscheint (vgl. Senatsurteil BGHZ 170, 161, 173 = FamRZ 2007, 538, 541; Friederici in juris-PR-FamR 7/2004 Anm. 6). Auch die seit dem 1. Juni 2008 geltende Neufassung des § 640 d ZPO schreibt die Anhörung des Jugendamtes in Abs. 2 Satz 1 dieser Vorschrift nur für den Fall der Anfechtung nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB (Anfechtung durch die zuständige Behörde) vor.

Der Umstand, dass der Beklagte zu 2 das gegen ihn ergangene Urteil nicht selbst mit der Berufung angegriffen hat, lässt auch nicht etwa auf einen Sinneswandel schließen, der das Berufungsgericht zu weiterer Sachverhaltsaufklärung hätte veranlassen können. Denn durch die Berufung der Beklagten zu 1 wurde auch der Beklagte zu 2 zur Partei des Rechtsmittelverfahrens, das zu betreiben er der Beklagten zu 1 überlassen konnte. Als Partei des Berufungsverfahrens hat er zudem - entgegen der Darstellung der Revision - an der Berufungsverhandlung teilgenommen, wie sich aus der Sitzungsniederschrift vom 4. August 2006 ergibt.

d) Ohne Erfolg macht die Revision ferner geltend, das Berufungsgericht habe auch die Beziehungen zwischen dem Beklagten zu 2 und der Kindesmutter aufklären und eine Prognose über die weitere Entwicklung dieser Beziehung sowie der Beziehung der Beklagten untereinander treffen müssen.

Auf die Beziehung des rechtlichen Vaters zur Kindesmutter kommt es nach § 1600 Abs. 2 BGB nicht an. Sie kann allenfalls, wenn die Kindesmutter wie hier bei ihrer Anhörung vor dem Amtsgericht den Fortbestand dieser "festen Beziehung" und ihren Willen bekräftigt, sie unter Einschluss des Kindes auch weiterhin aufrecht zu erhalten, als zusätzliches Indiz für das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen den Beklagten herangezogen werden.

Auch einer Prognose über die weitere Entwicklung der Beziehung zwischen den Beklagten bedurfte es nach mehr als zwei Jahren des Zusammenlebens in häuslicher Gemeinschaft nicht, da dem Kläger die Anfechtungsklage bereits stets dann verwehrt ist, wenn der rechtliche Vater die tatsächliche Verantwortung für das Kind im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung trägt. Lediglich dann, wenn dies fraglich ist, weil der rechtliche Vater und das Kind noch nicht längere Zeit zusammengelebt haben, muss der Tatrichter prüfen, ob das Zusammenleben noch andauert und der rechtliche Vater die tatsächliche Verantwortung für das Kind übernommen hat und in einer Weise wahrnimmt, die auf Dauer angelegt erscheint (Senatsurteil BGHZ 170, 161, 167 = FamRZ 2007, 540 unter II 3). Allenfalls die Prüfung der zuletzt genannten Voraussetzung erfordert eine prognoseähnliche Beurteilung.

Ende der Entscheidung

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