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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 19.11.1997
Aktenzeichen: 3 RK 2/97
Rechtsgebiete: SGB V


Vorschriften:

SGB V § 53
SGB V § 57
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Verkündet am 19. November 1997

in dem Rechtsstreit

Az: 3 RK 2/97

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

AOK Westfalen-Lippe - Die Gesundheitskasse, Nortkirchenstraße 103-105, 44263 Dortmund,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 1997 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ladage, die Richter Dr. Udsching und Schriever sowie die ehrenamtlichen Richter Gimpel und Leite

für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts NordrheinWestfalen vom 6. Februar 1997 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Der Kläger beansprucht für die Zeit vom 2. September 1992 bis zum 31. März 1995 die Geldleistung wegen Schwerpflegebedürftigkeit (Pflegegeld) nach den §§ 53 bis 57 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V). Die beklagte Krankenkasse (KK) hält den bei ihr gegen Krankheit versicherten Kläger für nicht schwerpflegebedürftig.

Der im Jahre 1937 geborene Kläger leidet an einer schweren Angstneurose. Er ist als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 100 anerkannt. Im Vordergrund der Erkrankung stehen neurotische Ängste, die es dem Kläger unmöglich machen, auch nur vorübergehend allein zu sein oder einmal allein die Wohnung zu verlassen. Es handelt sich um eine chronifizierte Entwicklung mit depressiven Verstimmungen und phobischer Symptomatik bei Verdacht auf eine schizoid-narzißtische Persönlichkeitsstörung. Sobald der Kläger seine Ehefrau oder eine andere ihm vertraute Person (zB sein noch zuhause wohnender Sohn oder ihn behandelnde Ärzte) nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe glaubt, wähnt er sich in Lebensgefahr. Durch den Verlust des Sicht- oder Sprechkontakts zur Bezugsperson werden anfallsartig auftretende, starke phobische Ängste provoziert, die dann ohne Vorankündigung zu Herzrhythmusstörungen mit einem Anstieg der Herzfrequenz auf über 100/min (Tachykardien) führen, zu einem Schweregefühl des gesamten Körpers, zur Blockierung des einfachsten logischen Denkens und zur Annahme, die Gliedmaßen nicht mehr gebrauchen zu können und umzufallen. Der Kläger ist in derartigen Situationen zwar nicht unmittelbar organisch gefährdet, befindet sich aber in einem Zustand subjektiv empfundener Lebensgefahr, der behandlungsbedürftig ist. Zur Vermeidung dieser Panikattacken, die bereits mehrfach zu Notarzteinsätzen und Klinikaufenthalten geführt haben, ist der Kläger Tag und Nacht auf die ständige Anwesenheit einer Bezugsperson angewiesen. Diese Funktion wird in erster Linie von seiner Ehefrau wahrgenommen.

Die Beklagte hat den Antrag des Klägers auf Gewährung von Pflegegeld abgelehnt, da er nicht schwerpflegebedürftig sei und seine Ehefrau ihm allein durch ihre Anwesenheit, nicht aber durch pflegerische Tätigkeit helfe (Bescheid vom 23. September 1992; Widerspruchsbescheid vom 29. März 1993).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Juli 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 6. Februar 1997). Es hat ausgeführt, Pflegegeld könne nur bei bereits bestehender Schwerpflegebedürftigkeit beansprucht werden, nicht aber für - der Vorsorge zuzurechnende - Maßnahmen jedweder Art, die auf die Verhinderung eines Zustandes abzielten, in dem Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit erst drohe.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 53 und 57 SGB V. Ein Mensch sei schon dann als schwerpflegebedürftig anzusehen, wenn die ständige Anwesenheit einer Bezugsperson unabdingbare Voraussetzung dafür sei, daß er die Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens selbst ausführen könne und die zu Hilflosigkeit führenden Ausfälle der geistigen und körperlichen Fähigkeiten bei Krankheitsschüben gar nicht erst aufträten. Die in der ständigen Anwesenheit der Ehefrau als Bezugsperson liegende Hilfe sei auch von ihrem Zeitaufwand, der örtlichen und persönlichen Gebundenheit sowie von der seelischen Belastung her der pflegerischen Hilfe durch Aufsicht, Kontrolle und körperliche Unterstützung vergleichbar.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 6. Februar 1997 und des SG Münster vom 10. Juli 1995 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 2. September 1992 bis zum 31. März 1995 die Geldleistung wegen Schwerpflegebedürftigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt das Urteil des LSG als zutreffend.

II

Die Revision ist unbegründet. Die Urteile der Vorinstanzen und der angefochtene Bescheid der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Dem Kläger steht der geltend gemachte Pflegegeld-Anspruch nicht zu.

Maßgebend sind die §§ 53 bis 57 SGB V in ihrer bis zum 31. März 1995 geltenden Fassung durch das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477). Diese Vorschriften sind zwar zum 1. April 1995 durch das Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG) vom 26. Mai 1994 (BGBl I S 1014) aufgehoben und durch die Regelungen des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) ersetzt worden; sie sind aber für alle Ansprüche auf Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit weiterhin anzuwenden, die Zeiten vor dem 1. April 1995 betreffen.

Nach § 53 Abs 1 SGB V aF erhalten Versicherte, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen (Schwerpflegebedürftigkeit), häusliche Pflegehilfe. Die häusliche Pflegehilfe soll die Pflege und Versorgung schwerpflegebedürftiger Versicherter in ihrem Haushalt oder dem ihrer Familie ergänzen (§ 55 Abs 1 Satz 1 SGB V aF). Sie umfaßt die im Einzelfall notwendige Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung bis zu einer Stunde je Pflegeeinsatz und bis zu fünfundzwanzig Pflegeeinsätzen je Kalendermonat (§ 55 Abs 1 Satz 3 SGB V aF). Auf Antrag der schwerpflegebedürftigen Versicherten kann die KK ihnen anstelle der häuslichen Pflegehilfe einen Geldbetrag von 400,00 DM je Kalendermonat zahlen, wenn die Schwerpflegebedürftigen die Pflege durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang selbst sicherstellen können (§ 57 Abs 1 SGB V aF). Sowohl die häusliche Pflegehilfe als auch das auf Antrag an ihrer Stelle von den KKn gezahlte Pflegegeld setzen also die Schwerpflegebedürftigkeit des Versicherten voraus. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt, wie die Vorinstanzen im Ergebnis zutreffend entschieden haben.

Die Frage der Schwerpflegebedürftigkeit eines Versicherten beurteilt sich danach, ob und in welchem Umfang er bei 18 bestimmten Verrichtungen des täglichen Lebens auf die Hilfe anderer Personen in jeweils nicht ganz unerheblichem Maße angewiesen ist. Es geht dabei um 14 Verrichtungen des Grundbedarfs (1. Aufstehen/Zubettgehen, 2. Gehen, 3. Stehen, 4. Treppensteigen, 5. Waschen/Duschen/Baden, 6. Mundpflege, 7. Haarpflege, 8. An- und Auskleiden, 9. Nahrungsaufnahme, 10. Nahrungszubereitung, 11. Benutzung der Toilette, 12. Sprechen, 13. Sehen, 14. Hören) sowie um vier Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs (15. Einkauf von Nahrungs- und Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, 16. Wohnungsreinigung, 17. Reinigung und Pflege der Wäsche, 18. sonstige hauswirtschaftliche Arbeiten wie zB Reinigung von Haushaltsgegenständen, Einräumen von Wäsche und Geschirr, Versorgung der Heizung). Hat ein Erwachsener bei mindestens 14 Verrichtungen einen dauernden Hilfebedarf, ist stets von Schwerpflegebedürftigkeit auszugehen. Ist bei 9 bis 13 Verrichtungen ein dauernder Hilfebedarf gegeben, so ist Schwerpflegebedürftigkeit nur dann anzunehmen, wenn aufgrund der Umstände des Einzelfalls, zB wegen eines sehr großen Zeitaufwands, ein Gleichstellungssachverhalt vorliegt. Besteht ein Hilfebedarf bei mindestens einer Verrichtung, aber weniger als neun Verrichtungen, liegt zwar Pflegebedürftigkeit, aber nicht die den Anspruch erst begründende Schwerpflegebedürftigkeit vor. Dieser Beurteilungsmaßstab entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 73, 146 = SozR 3-2500 § 53 Nr 4; BSG SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 bis 10; BSG SozR 3-2500 § 57 Nr 3). Hilfen, die nicht auf die Ermöglichung einer dieser Verrichtungen oder auf die Ermöglichung sonstiger Vitalfunktionen (vgl BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 5 zum "Umlagern" bettlägeriger Pflegebedürftiger und BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 10 zur Atmungshilfe bei Mukoviszidose-Patienten) gerichtet sind, können leistungsrechtlich ebensowenig berücksichtigt werden wie Hilfen, die keinen aktuellen Pflegebedarf abdecken, sondern nur der Vorsorge gegen die Gefahr drohender Pflegebedürftigkeit dienen (so bereits BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 8). Nach diesem maßgeblichen Kriterium der Schwerpflegebedürftigkeit iS des § 53 Abs 1 SGB V aF ist der Kläger nicht als schwerpflegebedürftig anzusehen. Er ist nämlich in der Regel imstande, alle genannten Verrichtungen des täglichen Lebens ohne wesentliche fremde Hilfe auszuführen. Seine Fähigkeit dazu hängt allein davon ab, daß stets eine Bezugsperson in seiner Nähe ist. Nur diese "Hilfe" ist erforderlich, um ihm das für ein beschwerdefreies Leben unentbehrliche Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, und so den anfallartigen Ausbruch seiner Angstneurose und die sich dabei aktualisierende, aber latent immer vorhandene Hilflosigkeit zu verhindern. Der Kläger ist damit entgegen der Meinung des LSG wohl hilflos. Die Hilflosigkeit iS des § 53 SGB V beurteilt sich nämlich nach dem Zustand, dem ein Kranker oder Behinderter unter Berücksichtigung der ihm durch Hilfsmittel verschafften Erleichterungen (vgl BSG 73, 146 = SozR 3- 2500 § 53 Nr 4), aber ohne Berücksichtigung der "helfenden Hand" einer anderen Person, ausgesetzt ist. Sie beurteilt sich nicht danach, welche Fähigkeiten der Betroffene bei Anwesenheit der "helfenden Hand" noch besitzt. Vor diesem Hintergrund ist der Kläger nach den Feststellungen des LSG hilfebedürftig, da die Anwesenheit und Ansprechbarkeit der Bezugsperson ihn gerade erst in die Lage versetzt, die genannten Verpflichtungen im Ablauf des täglichen Lebens selbst auszuführen. Die notwendige Anwesenheit und Ansprechbarkeit der Bezugsperson stellt sich also nicht nur als eine Form der Vorsorge dar, für die der Gesetzgeber in den §§ 53 ff SGB V aF keine Leistungspflicht der KK vorgesehen hat.

Die Klage erweist sich aber dennoch im Ergebnis als unbegründet. Die Hilfeleistung der Ehefrau des Klägers und der anderen Bezugspersonen stellt sich (nur) als ständige Anwesenheit und Ansprechbarkeit dar. Diese Form der Hilfeleistung erreicht nicht die für Pflegeleistungen iS des § 53 Abs 1 und § 55 Abs 1 SGB V aF erforderliche Intensität, auch wenn sie - wie hier - rund um die Uhr erbracht werden muß. In der bis zum 31. März 1995 gültigen Fassung des Gesetzes war eine Hilfebedürftigkeit "in sehr hohem Maße" erforderlich, ohne dies näher zu umschreiben. Die Rechtsprechung hat dies hinsichtlich der Art und Häufigkeit der notwendigen Hilfeleistung durch den erwähnten Katalog der Verrichtungen näher konkretisiert. Das Erfordernis der Hilfebedürftigkeit "in sehr hohem Maße" hat aber nicht nur einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Aspekt. Für die Dauer des Einsatzes einer Pflegeperson muß nicht nur deren Zeit in Anspruch genommen werden, sondern auch ein bestimmtes Maß an pflegerischer Aktivität entwickelt werden. Solche Mindestvoraussetzungen hat der Gesetzgeber in der ab 1. April 1995 geltenden Vorschrift des § 14 Abs 3 SGB XI erstmals definiert. Danach besteht die Hilfe (1) in der Unterstützung, (2) in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, (3) in der Beaufsichtigung oder (4) in der Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen. Diese gesetzliche Definition der leistungsrechtlich relevanten Hilfe ist zwar für den hier betroffenen Zeitraum nicht maßgebend, stimmt aber inhaltlich mit dem überein, was bereits bis zum 31. März 1995 unter dem in den §§ 53 bis 57 SGB V aF nicht definierten Begriff der Pflege zu verstehen war. Erforderlich war eine "aktive Hilfe" der Pflegeperson durch körperliche Hilfe (Unterstützung, Übernahme), durch verbale Hilfe (Anleitung) oder durch Kontrolle bzw Beaufsichtigung (vgl BSG SozR 3-2500 § 53 Nrn 6 und 8 zur Schwerpflegebedürftigkeit geistig behinderter Versicherter). Hilfe durch schlichte Anwesenheit und Ansprechbarkeit, also rein "passive Hilfe", fällt danach nicht darunter.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.



Ende der Entscheidung

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