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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 20.04.1999
Aktenzeichen: B 1 KR 15/98 R
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 130 Satz 1
SGG § 54 Abs 4 oder 5
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Az: B 1 KR 15/98 R

in dem Rechtsstreit

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Gmünder Ersatzkasse (GEK), Gottlieb-Daimler-Str. 19, 73529 Schwäbisch Gmünd, Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 20. April 1999 durch den Präsidenten von Wulffen, die Richter Steege und Dr. Dreher sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Brandenburg und Leite

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 1998 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten um die Ansprüche des Klägers aus einem rechtskräftigen erstinstanzlichen Urteil.

Der Kläger ist bei der beklagten Ersatzkasse krankenversichert; aus seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung ist er zum 1. Januar 1993 ausgeschieden. Seit dem 16. Dezember 1992 war er arbeitsunfähig krank und bezog Krankengeld von der Beklagten. Zum 15. Februar 1993 wurde durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Arbeitsfähigkeit festgestellt; nachdem sich der behandelnde Arzt, der Allgemeinarzt Dr. L , dieser Beurteilung - allerdings erst zum 1. März 1993 - angeschlossen hatte, stellte die Beklagte die Krankengeldzahlung mit dem letztgenannten Datum ein. In der Folge bezog der Kläger Arbeitslosengeld; außerdem wurde vom zuständigen Rentenversicherungsträger eine Heilmaßnahme durchgeführt, während der Übergangsgeld gezahlt wurde.

Am 30. September 1993 beantragte der Kläger die Weiterzahlung des Krankengeldes über den 28. Februar 1993 hinaus. Von Dr. L wurde nunmehr eine ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit seit März 1993 bescheinigt. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Gesundheitszustand des Klägers hob das Sozialgericht (SG) die den Krankengeldanspruch ablehnenden Bescheide der Beklagten auf und verurteilte diese, dem Kläger ab 1. März 1993 Krankengeld nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren (Urteil vom 14. November 1995). Dieses Urteil ist rechtskräftig.

In Ausführung des Urteils bewilligte die Beklagte dem Kläger Krankengeld ab 30. September 1993 bis zur Erschöpfung der Höchstbezugsdauer von 78 Wochen am 20. April 1994. Für die Zeit vom 1. März bis 29. September 1993 verweigerte sie die Leistung, weil der Anspruch mangels Meldung der Arbeitsunfähigkeit (unter Anrechnung auf die Höchstbezugsdauer) geruht habe (Bescheid vom 19. Februar 1997, Widerspruchsbescheid vom 14. April 1997). Bei rechtzeitiger Meldung wären unter Berücksichtigung der bezogenen anderen Leistungen 4.298,32 DM zu zahlen gewesen.

Im zweiten Klageverfahren hat das SG mit Urteil vom 26. August 1997 auch diese Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für den strittigen Zeitraum Krankengeld in Höhe des genannten Betrags zu zahlen. Mit Urteil vom 12. Mai 1998 hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es ist der Meinung, die Voraussetzungen für den Anspruch auf Krankengeld seien in der Zeit vom 1. März bis zum 29. September 1993 mangels Meldung der Arbeitsunfähigkeit nicht erfüllt gewesen; der Anspruch habe nach § 49 Abs 1 Nr 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) geruht. Beim Kläger sei durch den MDK und den behandelnden Arzt zum 1. März 1993 Arbeitsfähigkeit bescheinigt worden; da der Kläger diese Beurteilung gekannt habe, sei damit die Wirkung der vorhergehenden Arbeitsunfähigkeitsmeldung entfallen. Diese solle die Krankenkasse in die Lage versetzen, die Arbeitsunfähigkeit zu überwachen und Maßnahmen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in die Wege zu leiten. Hätte sich der Kläger weiterhin für arbeitsunfähig gehalten, wäre zu erwarten gewesen, daß er der Beurteilung durch den MDK widersprochen hätte.

Aus dem rechtskräftigen Urteil vom 14. November 1995 ergebe sich kein Anspruch auf Krankengeld, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Grundurteil handle oder nicht. Sei dies nicht der Fall, sei über die Voraussetzungen des Anspruchs auf Krankengeld nicht endgültig entschieden. Bei Annahme eines Grundurteils wäre zwar das Stammrecht des Klägers auf Krankengeld für die Zeit ab dem 1. März 1993 verbindlich festgestellt; die Verurteilung zur Leistungsgewährung "nach den gesetzlichen Vorschriften" enthalte jedoch nicht nur einen Vorbehalt hinsichtlich der Höhe des Anspruchs und schließe daher ein Ruhen mangels Arbeitsunfähigkeitsmeldung nicht aus, da dieses das Stammrecht nicht berühre.

Mit der Revision rügt der Kläger die Mißachtung der Rechtskraft des ersten sozialgerichtlichen Urteils, dessen Inhalt durch das zweite klargestellt worden sei. Der ausgesprochene Vorbehalt beziehe sich lediglich auf die Höhe des Anspruchs. Bei der zunächst zum 1. März 1993 angenommenen Arbeitsfähigkeit seien ausschließlich orthopädische Befunde berücksichtigt worden; erst im Laufe des ersten Klageverfahrens habe sich herausgestellt, daß ein Herzleiden durchgehende Arbeitsunfähigkeit begründet habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und das Urteil des SG Lübeck vom 26. August 1997 wiederherzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger Krankengeld auch vom 1. März bis 29. September 1993 zusteht. Grundlage ist das rechtskräftige Urteil des SG vom 14. November 1995, mit dem die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt wurde, dem Kläger ab 1. März 1993 Krankengeld nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

Entgegen der Auffassung des LSG begründet dieses Urteil die Leistungspflicht der Beklagten. Ob der Anspruch geruht hat, weil die Arbeitsunfähigkeit des Klägers der Beklagten für die Zeit ab dem 1. März 1993 nicht gemeldet worden war, oder ob eine Arbeitsunfähigkeit, die im Lichte nachträglicher Erkenntnisse ununterbrochen bestanden haben muß, nicht (erneut) gemeldet zu werden braucht, hat der Senat nicht zu beurteilen. Über diesen Einwand gegen den Krankengeldanspruch hat das SG im Ergebnis mitentschieden.

Die Reichweite einer rechtskräftigen Verurteilung ergibt sich in erster Linie aus der Urteilsformel; zu deren Auslegung kann auf die Entscheidungsgründe zurückgegriffen werden (grundlegend: BSGE 9, 17 = SozR Nr 1 zu § 141 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Im vorliegenden Fall hat das SG die Verurteilung zur Gewährung von Krankengeld ab dem 1. März 1993 nicht entsprechend dem Gesetzeswortlaut "dem Grunde nach" ausgesprochen oder durch den Zusatz "in gesetzlicher Höhe" präzisiert, sondern nur unbestimmt an die "gesetzlichen Vorschriften" gebunden. Das Urteil enthält keine Hinweise dazu, was mit diesem Vorbehalt gemeint sein sollte.

Die Auswertung der schriftlichen Urteilsgründe und der prozessualen Umstände der Entscheidung ergibt, daß das SG ein Grundurteil erlassen und nur die Festlegung von Leistungshöhe und Leistungsdauer einem weiteren Verwaltungsverfahren vorbehalten wollte. § 130 Satz 1 SGG ermächtigt das Gericht, zur Leistung dem Grunde nach zu verurteilen, wenn nach § 54 Abs 4 oder 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift lagen vor, denn die Klage betraf einen Rechtsanspruch auf Krankengeld, den die Beklagte mit Bescheid vom 14. September 1994 versagt hatte; zutreffend war eine Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG erhoben worden. Anders als nach § 304 Zivilprozeßordnung ist das Grundurteil im sozialgerichtlichen Verfahren in einem solchen Fall kein Zwischenurteil, weil das Betragsverfahren lediglich durch eine neue Verwaltungsentscheidung in Gang gesetzt werden kann (dazu BSG SozR 3-1300 § 104 Nr 9 S 24 mwN); systematisch handelt es sich um eine gesetzlich ausnahmsweise zugelassene Zurückverweisung an die Behörde, um die Höhe der Leistung feststellen zu lassen. Da lediglich insoweit die Verpflichtung des Gerichts zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) und zur vollständigen Entscheidung über den erhobenen Anspruch (§ 123 SGG) hintangestellt wird, erhält das Gericht durch § 130 SGG keine unbeschränkte Befugnis, den Streitgegenstand in einzelne Elemente aufzuspalten, indem es im Wege des Grundurteils immer nur zur gerade streitigen Rechtsfrage Stellung nimmt und die Anwendung der "gesetzlichen Vorschriften" im übrigen der Verwaltung vorbehält.

Ein Urteil, mit dem nur über einen Teil der Anspruchsvoraussetzungen entschieden wird, widerspricht diesen Grundsätzen und ist daher unzulässig; ein Grundurteil darf nur ergehen, wenn alle Voraussetzungen des streitigen Anspruchs geprüft und festgestellt worden sind (Senatsurteil vom 29. September 1998 - B 1 KR 5/97 R, zur Veröffentlichung bestimmt; BSG USK 83141; Pawlak in: Hennig, Sozialgerichtsgesetz, Stand: März 1998, § 130 RdNr 45 jeweils mwN). Welche dies im einzelnen sind, hängt vom jeweiligen Streitgegenstand, also vom erhobenen Anspruch iS des § 123 SGG ab. Beim Streit um die Weitergewährung von Krankengeld über einen bestimmten Stichtag hinaus würde dazu etwa das Bestehen einer Versicherung mit Krankengeldberechtigung gehören (vgl § 44 Abs 1 Satz 2 SGB V). Für Einwände, welche die Entstehung des Anspruchs hindern (beispielsweise § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V), gilt nichts anderes, denn zwischen "positiven" und "negativen" Anspruchsmerkmalen kann insoweit nicht unterschieden werden, da deren Bedeutung für den Streitgegenstand dieselbe ist.

Von der Verpflichtung des Gerichts, bei einem Grundurteil sämtliche Anspruchselemente zu prüfen, sind Umstände, die "nur" zum Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld führen, nicht auszunehmen. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Ruhensgrund bereits zu Beginn des strittigen Zeitraums eingreift und zwangsläufig den Auszahlungsanspruch nicht nur der Höhe nach, sondern insgesamt betrifft. Denn ein Grundurteil setzt zumindest die Wahrscheinlichkeit voraus, daß tatsächlich etwas zu zahlen ist (vgl BSG SozR 1500 § 130 Nr 2). Inwiefern in einem Grundurteil darüber hinaus Tatsachen zu prüfen sind, die - wie beispielsweise der Bezug einer anderen Sozialleistung - die Minderung des Anspruchs oder bei entsprechender Höhe auch dessen Wegfall herbeiführen (verneinend BSG SozR 3-1300 § 104 Nr 3 S 5), kann unentschieden bleiben, denn der Kläger hat bei der Bezifferung seines Anspruchs den Bezug anderweitiger Leistungen berücksichtigt. Es kommt auch nicht darauf an, ob ein Grundurteil die zusätzliche Klärung der Anspruchsdauer zumindest dann voraussetzt, wenn die Beteiligten um die zeitliche Grenze eines Anspruchs streiten, dessen Höchstbezugsdauer im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits überschritten ist. Wenn sich die Beteiligten wie hier zur Anspruchsdauer nicht äußern, darf das Gericht davon ausgehen, daß hierüber Einverständnis besteht. Nach dem Verfahrensstand am 14. November 1995 mußte das SG infolgedessen vor Erlaß eines Grundurteils neben der Arbeitsunfähigkeit geprüft haben, ob eine fehlende Arbeitsunfähigkeitsmeldung der Auszahlung von Krankengeld ab dem 1. März 1993 entgegenstand.

Die Gründe des Urteils vom 14. November 1995 lassen aus sich heraus nicht erkennen, ob das SG dieser Verpflichtung nachgekommen ist, denn darin wird nur auf die Arbeitsunfähigkeit eingegangen. Daraus könnte allenfalls dann auf die Unzulässigkeit eines Grundurteils geschlossen werden, wenn dieses Vorgehen nach außen zu erkennen gegeben hätte, daß sich das Gericht über die Anforderungen des § 130 SGG an ein Grundurteil hinweggesetzt hat. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn es spricht nichts dafür, daß das SG die Frage der Arbeitsunfähigkeitsmeldung, obwohl als entscheidungserheblich erkannt, bewußt offengelassen und der Prüfung durch die Verwaltung vorbehalten hätte. Zur fehlenden Meldung und den daraus zu ziehenden rechtlichen Folgerungen hatten sich die Beteiligten nicht geäußert, obwohl die Beklagte nach ihrer Rechtsauffassung dazu Anlaß gehabt hätte. Ob sie schon dadurch gehindert ist, sich im späteren Verwaltungsverfahren auf diesen Gesichtspunkt zu berufen, bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls zwingt das Schweigen der Urteilsgründe in Verbindung mit dem Schweigen der Beteiligten nicht zur Annahme, das Gericht habe § 130 SGG mißachtet: Es kann nämlich - ebenso wie offenbar die Beklagte - den fraglichen Leistungsausschlußgrund übersehen haben. Es kann aber auch eine erneute Meldung bei fortgesetzter Arbeitsunfähigkeit rechtlich nicht für erforderlich gehalten haben. Schließlich kann es (zu Unrecht) unterstellt haben, die Arbeitsunfähigkeit sei rechtzeitig gemeldet worden. Weder der Urteilstenor noch die Urteilsgründe schließen die dargestellten Möglichkeiten aus. Die ausdrückliche Verurteilung der Beklagten zu einer konkreten Geldleistung ab einem bestimmten Zeitpunkt "nach den gesetzlichen Vorschriften" läßt sich schon vom Wortsinn her nicht auf eine Aussage über die Arbeitsunfähigkeit des Klägers beschränken; auf noch zu prüfende Anspruchsvoraussetzungen wird auch in den Urteilsgründen nicht hingewiesen. Mangels eindeutiger Hinweise auf ein prozeßrechtswidriges Vorgehen ist davon auszugehen, daß das SG eine von der Prozeßordnung zugelassene Entscheidung treffen wollte und die Voraussetzungen für ein Grundurteil beachtet hat. Demnach hat es über den erhobenen Anspruch mit Ausnahme von Leistungshöhe und Leistungsdauer abschließend entschieden.

Die Rechtskraft des somit als Grundurteil erlassenen Urteils vom 14. November 1995 schließt den Einwand der fehlenden Arbeitsunfähigkeitsmeldung in dem nachfolgenden Verwaltungs- und Gerichtsverfahren aus. Das Bundessozialgericht (BSG) hat schon in anderem Zusammenhang ausgesprochen, daß ein rechtskräftiges Grundurteil nicht nur das Stammrecht feststellt, sondern auch Einreden ausschließt, zu denen das Gericht in den Urteilsgründen nicht Stellung zu nehmen brauchte (BSG SozR 1500 § 141 Nr 12). Grenzen der Rechtskraftwirkung hinsichtlich einzelner Anspruchselemente hat es nur in einem Fall angenommen, in dem das Gericht über ein bloßes Element des festzustellenden Rechtsverhältnisses einen eigenen - prozessual unzulässigen - Ausspruch getroffen hatte (BSG SozR Nr 14 zu § 141 SGG). Dem ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar.

Da über den streitigen Krankengeldanspruch rechtskräftig entschieden war, hat das SG die Beklagte im zweiten Urteil zu Recht zur Zahlung verurteilt, gegen deren Höhe keine Bedenken bestehen. Auf die Revision des Klägers ist dieses Urteil durch die Zurückweisung der Berufung der Beklagten wieder herzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.



Ende der Entscheidung

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