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Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 03.09.2003
Aktenzeichen: B 1 KR 19/02 R
Rechtsgebiete: SGB V
Vorschriften:
SGB V § 18 Abs 1 | |
SGB V § 27 Abs 1 |
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil
in dem Rechtsstreit
Verkündet am 3. September 2003
Az: B 1 KR 19/02 R
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2003 durch den Präsidenten von Wulffen und die Richter Steege und Dr. Dreher sowie den ehrenamtlichen Richter Gerner und die ehrenamtliche Richterin Arlt
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision der Klägerin gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Februar 2000 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Die 1984 geborene Klägerin leidet an den Folgen einer frühkindlichen Hirnschädigung mit spastischen Lähmungen (sog infantile Cerebralparese). Neben den bei diesem Krankheitsbild üblichen krankengymnastischen Übungsbehandlungen nach Bobath und Vojta hat sie sich in der Zeit zwischen 1996 und 2002 zur Verbesserung insbesondere ihrer motorischen Fähigkeiten mehrfach einer so genannten konduktiven Förderung nach Petö unterzogen. Um deren Bezahlung durch die beklagte Krankenkasse geht der Streit.
Bei der von dem ungarischen Arzt und Heilpädagogen András Petö nach dem Zweiten Weltkrieg begründeten konduktiven Erziehung handelt es sich um ein komplexes pädagogisches System, durch das Menschen mit einer Schädigung des Zentralnervensystems lernen sollen, ihre Dysfunktionen zu überwinden oder zu mindern. Die Anleitung erfolgt durch so genannte Konduktoren, die im Rahmen der ganzheitlichen Betreuung des Kindes Aufgaben eines Physiotherapeuten, Logopäden, Motopäden, Sonderpädagogen, Erziehers, Pflegers und Lehrers eigenverantwortlich wahrnehmen. Die Fördermaßnahmen werden überwiegend an dem unter ärztlicher Leitung stehenden Petö-Institut in Budapest, zum Teil aber auch an Einrichtungen in anderen europäischen Ländern, darunter auch in Deutschland, durchgeführt. Auf Initiative der Ersatzkassen ist das Behandlungskonzept zwischen 1996 und 2001 in einem Modellvorhaben erprobt und begutachtet worden (zu den Ergebnissen: von Voss/Blank, Modellprojekt Petö, ErsK 2002, 272). Der seit 2002 beim Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen anhängige Antrag auf Anerkennung der Petö-Methode als therapeutisch wirksames Heilmittel befindet sich in der Anhörungsphase.
Die Klägerin nahm im Oktober 1996 an einer Voruntersuchung und im Januar 1997 an einem vierwöchigen Behandlungszyklus (sog Förderperiode) am Petö-Institut in Budapest teil. Weitere gleichartige Behandlungen, die im Revisionsverfahren nicht mehr streitig sind, haben im April/Mai 1998 und im Februar/März 2002 in Ungarn sowie im März/April 1999 in einer Fachklinik in Bad Wildungen stattgefunden.
Die Beklagte, bei der die Klägerin familienversichert ist, hat den im Oktober 1995 gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten für die Voruntersuchung und die erste Förderperiode mit Bescheid vom 12. März 1996 und Widerspruchsbescheid vom 24. April 1996 abgelehnt. Die Behandlungskosten sowie Aufwendungen für Reise und Aufenthalt sind daraufhin vom Landkreis Ludwigshafen als örtlicher Sozialhilfeträger als vorläufige Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß § 44 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) getragen worden.
Die zunächst auf Übernahme, später auf Erstattung der Kosten gerichtete Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Nach Auffassung des Landessozialgerichts (LSG) handelt es sich bei der konduktiven Erziehung um eine neue Behandlungsmethode, die bisher nicht Bestandteil des Leistungsspektrums der Krankenversicherung sei, weil der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen sie nicht als therapeutisch zweckmäßig anerkannt habe.
Mit der Revision wendet sich die Klägerin gegen diese Rechtsauffassung und rügt eine Verletzung der §§ 18 Abs 1 und 27 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Dass die seit Jahrzehnten bewährte konduktive Förderung nach Petö noch nicht als Kassenleistung anerkannt sei, beruhe auf einem Mangel des Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung, der den Versicherten nicht zum Nachteil gereichen dürfe. Die Wirksamkeit der Behandlungsmethode sei international und in vielen Einzelschicksalen belegt. Auch in ihrem Fall hätten sich deutliche Fortschritte gezeigt, die mit den herkömmlichen, von den Krankenkassen finanzierten krankengymnastischen Therapieverfahren nicht erreicht worden seien.
Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Februar 2000 und das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 9. Juni 1999 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1996 zu verurteilen, ihr die Kosten der Behandlungen vom 22. Oktober bis 26. Oktober 1996 und vom 5. Januar bis 27. Januar 1997 zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Die angegriffenen Entscheidungen haben einen Kostenerstattungsanspruch zu Recht verneint.
Nachdem die Beteiligten sich über die Behandlungszyklen in den Jahren 1998, 1999 und 2002 verglichen haben und die Klägerin ihren früheren auf zukünftige Leistungen gerichteten Antrag im Revisionsverfahren nicht weiterverfolgt, hat der Senat nur noch über die Erstattung der Kosten zu entscheiden, die der Klägerin durch die Teilnahme an Fördermaßnahmen in Ungarn in den Monaten Oktober 1996 und Januar 1997 entstanden sind. Insoweit hat die Beklagte den zuvor gestellten Antrag mit dem angegriffenen Bescheid vom 12. März 1996 ausdrücklich abgelehnt.
Die auf Kostenerstattung gerichtete Klage ist nicht begründet. Der Senat unterstellt zu Gunsten der Klägerin, dass durch die streitigen Maßnahmen Aufwendungen für Behandlung, Reise und Aufenthalt entstanden sind, die der örtliche Sozialhilfeträger nicht als vorläufige Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG übernommen hat und die demzufolge der Klägerin selbst zur Last gefallen sind. Einer abschließenden Klärung dieser Frage hat es nicht bedurft, weil der erhobene Anspruch jedenfalls aus anderen Gründen nicht besteht.
Die Behandlungen, die den Gegenstand der Revision bilden, sind in den Jahren 1996 und 1997 in Budapest durchgeführt worden. Zwischenstaatliche Vereinbarungen über die Gewährung von Krankenversicherungsleistungen haben zu dieser Zeit mit Ungarn nicht bestanden. Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über Soziale Sicherheit vom 2. Mai 1998 (BGBl II 1999 S 902) ist erst am 1. Mai 2000 in Kraft getreten (BGBl II 2000 S 644) und bestimmt in Art 40 Abs 1 Buchst a ausdrücklich, dass für die Zeit vor seinem Inkrafttreten keine Leistungsansprüche begründet werden. Das Begehren der Klägerin richtet sich somit ausschließlich nach innerstaatlichem Krankenversicherungsrecht. Danach hat die Krankenkasse für Behandlungen aufzukommen, deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (§ 2 Abs 1 Satz 3 SGB V). Die im Rahmen der Behandlung erbrachten Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 Abs 1 SGB V). Bei einer Behandlung, zu der sich der Versicherte ins Ausland begibt, müssen außerdem die besonderen Voraussetzungen des § 18 SGB V erfüllt sein: Die Krankenkasse darf die Kosten der Auslandsbehandlung einschließlich notwendiger Begleitleistungen abweichend von der Regel des § 16 Abs 1 Nr 1 SGB V (Ruhen des Leistungsanspruchs bei Auslandsaufenthalt) nur dann ganz oder teilweise übernehmen, wenn eine dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechende Behandlung der beim Versicherten bestehenden Krankheit nur im Ausland möglich ist. Ob Letzteres hier der Fall war, etwa weil die Kapazitäten der in Deutschland bestehenden Behandlungseinrichtungen für eine zeitgerechte Behandlung nicht ausreichten, kann auf sich beruhen. Denn die umstrittene Therapie erfüllt bereits die übrigen Kriterien nicht.
Der Senat teilt allerdings nicht die Einschätzung, dass die konduktive Förderung wegen ihrer pädagogischen Ausrichtung nicht als medizinische Behandlung oder Rehabilitation einzustufen sei und deshalb von vornherein nicht zum Versicherungsgegenstand der Krankenversicherung gehöre. Für die Abgrenzung zwischen medizinischen und nichtmedizinischen Maßnahmen und damit für die Zuständigkeit der Krankenversicherung kommt es in erster Linie auf die Zielsetzung der Maßnahme an, auch wenn deren Charakter unter Umständen diesbezügliche Rückschlüsse zulässt. Falls eine Methode eines der in den § 27 oder § 11 Abs 2 SGB V genannten Ziele (Erkennen oder Heilen einer Krankheit, Verhütung der Krankheitsverschlimmerung, Linderung von Krankheitsbeschwerden, Vermeidung, Beseitigung oder Besserung einer Behinderung) verfolgt und dabei an der Krankheit selbst bzw an ihren Ursachen ansetzt, verliert der Umstand an Bedeutung, dass wie bei der konduktiven Förderung für die Behandlung vorwiegend pädagogische Mittel eingesetzt werden und das Berufsbild des Therapeuten ("Konduktors") eher dem des Lehrers und Erziehers als dem eines klassischen Heilhilfsberufs ähnelt. Denn ein derartiger unmittelbarer Krankheitsbezug ist ein hinreichendes Indiz dafür, dass keine anderen Zwecke, wie die soziale Eingliederung, die Verbesserung schulischer oder beruflicher Fähigkeiten oder eine behindertengerechte Gesundheitsförderung (dazu Senatsurteil vom 19. März 2002 - SozR 3-2500 § 138 Nr 2 - Hippotherapie), im Vordergrund stehen. In diesem Punkt kommt der Abschlussbericht über das Modellprojekt der Ersatzkassen zur konduktiven Förderung zu der Einschätzung, dass rund 70 Prozent der Arbeit mit den behinderten Kindern auf eine Verbesserung der motorischen Fähigkeiten, also ein therapeutisches Ziel, gerichtet sind (Blank/von Voss, Konduktive Förderung nach Petö, München 2002, S 4-114 f).
Medizinische und nichtmedizinische Behandlungszwecke lassen sich freilich gerade bei komplexen Rehabilitationsangeboten oft nur schwer oder gar nicht voneinander abgrenzen, wie der Senat im Zusammenhang mit der Förderung behinderter Kinder in sozialpädiatrischen Zentren näher dargelegt hat (Urteil vom 31. März 1998 - B 1 KR 12/96 R - in ZfS 1998, 178 = USK 98145). Eine solche Konstellation liegt hier jedoch nicht vor, da durch die Behandlung cerebralparetischer Kinder und Jugendlicher nach der Petö-Methode die krankheitsbedingte Behinderung selber gebessert werden soll und es nicht darum geht, lediglich Auswirkungen der Behinderung auf die Lebensgestaltung aufzufangen oder abzumildern. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, welche Erwartungen der Leistungserbringer selbst mit seinem Vorgehen verbindet. Ob die gestellten Ziele objektiv erreichbar sind, ist eine Frage der Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit der Maßnahme, für die Einordnung als medizinische Behandlung aber nicht entscheidend. Die Petö-Methode erhebt den Anspruch, durch einen aktiven Lernprozess die motorischen Fähigkeiten der cerebral geschädigten Kinder zu verbessern und dabei sogar physiologische und anatomische Veränderungen im Zentralnervensystem zu bewirken (vgl die Beschreibung der Methode in der Internet-Präsentation des Petö-Instituts unter http://w1.peto.hu/?&lang=de, recherchiert am 12. März 2003). Angesichts dessen ist von einem medizinischen Charakter der Fördermaßnahmen auszugehen.
Wie das LSG zutreffend erkannt hat, ist die konduktive Förderung nach Petö aber unabhängig von den speziellen Voraussetzungen einer Kostenerstattung bei Auslandsbehandlungen keine Kassenleistung, weil ihr therapeutischer Nutzen bisher nicht auf dem vom Gesetz vorgeschriebenen Weg durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen festgestellt worden ist.
Da es sich bei den Fördermaßnahmen nicht um ärztliche Behandlung, sondern um medizinische Dienstleistungen handelt, die auf Verordnung eines Arztes durch besonders ausgebildete nichtärztliche Fachkräfte (Konduktoren) erbracht werden, sind sie rechtlich als Heilmittel iS des § 32 SGB V einzustufen (zum Heilmittelbegriff und seiner historischen Entwicklung siehe BSGE 88, 204 = SozR 3-2500 § 33 Nr 41). Neue Heilmittel dürfen die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte nach § 138 SGB V nur verordnen, wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen zuvor ihren therapeutischen Nutzen anerkannt und in den Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V Empfehlungen für die Sicherung der Qualität bei der Leistungserbringung abgegeben hat. § 138 SGB V dehnt den gemäß § 135 Abs 1 SGB V für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden geltenden Erlaubnisvorbehalt auf neue Heilmittel aus. Auch diese können von den Versicherten grundsätzlich nicht beansprucht werden, solange die geforderte Entscheidung des Bundesausschusses nicht ergangen ist. Letzteres trifft für die konduktive Förderung nach Petö zu, die in der Vergangenheit keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung war und deshalb als "neues" Heilmittel dem Erlaubnisvorbehalt unterliegt. Denn zurzeit der hier streitigen Behandlung wurde die Methode noch in dem von den Ersatzkassen initiierten Modellvorhaben erprobt, und das nach Auswertung der Ergebnisse im Jahr 2002 eingeleitete Verfahren beim Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen ist bis heute nicht abgeschlossen. Da für eine sachwidrige Behandlung durch die Krankenkassen oder den Bundesausschuss kein Anhalt besteht, sind die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Krankenversicherung nicht erfüllt.
Die Regelung des § 138 SGB V ist auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden, obwohl die in Rede stehenden Fördermaßnahmen in Ungarn durchgeführt worden sind. Der Senat hat allerdings zu § 135 Abs 1 SGB V entschieden, dass anders als bei Inlandsbehandlungen die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bei Auslandsbehandlungen einen Kostenerstattungsanspruch nicht von vornherein ausschließt, weil der Erlaubnisvorbehalt der Sicherung der Qualität der vertragsärztlichen Versorgung im Geltungsbereich des SGB V dient und ein Tätigwerden des Bundesausschusses außerhalb des vom Gesetz zugewiesenen Aufgabenbereichs nicht veranlasst ist (Urteil vom 16. Juni 1999 - BSGE 84, 90, 96 = SozR 3-2500 § 18 Nr 4 S 18 - Kozijavkin I). Er hat diese Aussage aber ausdrücklich auf Fälle beschränkt, in denen die betreffende Untersuchungs- oder Behandlungsmethode nur im Ausland angeboten wird, sodass für eine Prüfung durch den Bundesausschuss keine Grundlage besteht. Sobald die Behandlung auch in Deutschland zum Einsatz kommt, sei es auch nur, dass der ausländische Leistungserbringer seine Tätigkeit hierher erstreckt, entfällt der Grund für die abweichende Behandlung und es gelten für sie die allgemeinen Vorschriften. Es spielt dann auch keine Rolle, ob die Therapie im konkreten Fall im Inland oder im Ausland durchgeführt wird; denn für die Beurteilung der Qualität einer Behandlungsmethode müssen unabhängig von dem Ort der Leistungserbringung einheitliche Maßstäbe und Verfahrensweisen gelten.
Da das LSG einen Kostenerstattungsanspruch zu Recht verneint hat, war die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Ende der Entscheidung
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