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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 16.10.2002
Aktenzeichen: B 10 LW 10/02 R
Rechtsgebiete: ALG, GG


Vorschriften:

ALG § 92 Abs 1
GG Art 3 Abs 1
GG Art 3 Abs 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Az: B 10 LW 10/02 R

in dem Rechtsstreit

Der 10. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 16. Oktober 2002 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Loytved, die Richter Dau und Masuch sowie die ehrenamtlichen Richter Gerner und Freiherr Grote

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 12. April 2002 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten über Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).

Die 1941 geborene Klägerin heiratete 1964 einen Landwirt. Ihr Ehemann zahlte bis zum 30. September 1993 als landwirtschaftlicher Unternehmer Pflichtbeiträge nach § 14 Abs 1 Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte (GAL) und anschließend gemäß § 27 GAL Pflichtbeiträge als Weiterversicherter. Die Abgabe des Hofes erfolgte am 20. August 1997.

Die Beklagte lehnte den im September 2000 gestellten Rentenantrag der Klägerin ab, weil in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU (am 29. Februar 1996) - anders als in § 13 Abs 1 Nr 2 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) gefordert - nicht mindestens drei Jahre (36 Monate) Pflichtbeiträge zur landwirtschaftlichen Alterskasse gezahlt worden seien (Bescheid vom 4. April 2001; Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2001). In dem maßgebenden Zeitraum vom 1. März 1991 bis zum 28. Februar 1996 sei die Klägerin selbst nicht versicherungs- bzw beitragspflichtig gewesen. Nach § 92 Abs 1 ALG seien ihr zwar die von ihrem Ehemann als Landwirt nach § 14 GAL bis zum 30. September 1993 gezahlten Beiträge anzurechnen, nicht aber die daran anschließenden Beiträge als Weiterversicherter, also nur 31 statt der erforderlichen 36 Monate.

Das Sozialgericht Hannover (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. April 2002). In den Entscheidungsgründen wird im Wesentlichen ausgeführt:

Die Beklagte habe den Rentenantrag der Klägerin in zutreffender Anwendung des § 92 Abs 1 ALG abgelehnt. § 92 Abs 1 ALG stelle eine verfassungsrechtlich mögliche Inhalts- und Schrankenbestimmung rentenrechtlich als Eigentum der Klägerin geschützter Rechtspositionen dar. Auch der vollständige Entzug einer bestehenden Rechtsposition könne im Einzelfall verfassungskonform sein, wenn mit dieser Regelung überwiegende Ziele des Allgemeinwohls verfolgt würden. Das sei hier der Fall.

Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, dass die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen EU habe. Ebenso sei unstreitig, dass mit Ausnahme der Berücksichtigung von Beitragszeiten des Ehemannes als Weiterversicherter die Rentenberechnung zutreffend erfolgt sei.

Die Beklagte habe die Beitragszeit des Ehegatten unter Berücksichtigung von § 92 Abs 1 ALG nicht als "Zusplittungszeit" bei der Klägerin berücksichtigen können. Nach dieser Vorschrift gälten für die Ehezeit in der Zeit vom 1. Oktober 1957 bis 31. Dezember 1994 für den Ehegatten Beiträge als gezahlt, für die der andere Ehegatte Beiträge als Landwirt nach § 14 GAL gezahlt habe. Die Zeit vom 1. Dezember 1972 bis 31. Dezember 1994 sei keine Beitragszeit nach § 14 GAL, der die Beitragspflicht landwirtschaftlicher Unternehmer regele. Der Ehemann sei in dieser Zeit nicht mehr landwirtschaftlicher Unternehmer gewesen. Er habe vielmehr die Beiträge als Weiterversicherter gemäß § 27 GAL gezahlt. Diese Beiträge könnten nach dem klaren Gesetzeswortlaut nicht berücksichtigt werden.

Zwar begründe § 92 ALG verfassungsrechtliche Zweifel, jedoch sei die Kammer nicht zu der vollen Überzeugung gelangt, dass diese Gesetzesvorschrift verfassungswidrig sei. Die Kammer sei deshalb nicht gehalten gewesen, den Rechtsstreit auszusetzen und zur Entscheidung dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art 100 Grundgesetz (GG) vorzulegen.

Die Klägerin hat mit Zustimmung der Beklagten die - vom SG zugelassene - Sprungrevision eingelegt. Sie macht geltend, § 92 Abs 1 ALG verstoße gegen Art 3 Abs 1 und Abs 2 GG und überschreite die Grenzen verfassungsrechtlich zulässiger Rückwirkung. Der Gesetzgeber habe die Vorschrift mit Gesetz vom 21. März 2001 rückwirkend zum 23. Dezember 1995 dahin geändert, dass nur nach § 14 GAL gezahlte Beiträge anzurechnen seien. Es handele es sich um eine echt rückwirkende Regelung, die verfassungswidrig sei, weil sie gegen die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebote der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoße. Im Übrigen dürften sich die Beiträge "aktiver Landwirte" und "Weiterversicherter" unter dem Blickwinkel des Art 3 Abs 1 GG auf die soziale Sicherung der Ehegatten nicht unterschiedlich auswirken, weil beides Pflichtbeiträge seien. Die beanstandete Regelung verstoße außerdem gegen Art 3 Abs 2 GG. Auch Weiterversicherungsbeiträge nach § 27 GAL würden dem gemeinsamen Familieneinkommen entzogen. Sie müssten deshalb ebenso wie Beiträge nach § 14 GAL - zur sozialen Sicherung der Bäuerinnen - "zugesplittet" werden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Hannover vom 12. April 2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. April 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. September 2000 Rente wegen EU zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie geht auch in Anbetracht der mit der Revision vorgetragenen verfassungsrechtlichen Argumente davon aus, dass nach geltendem Recht Beitragszeiten als Weiterversicherter nicht zugesplittet werden könnten. Außerdem weist sie darauf hin, dass zwei Absätze der sozialgerichtlichen Entscheidungsgründe offensichtlich nicht den vorliegenden Rechtsstreit beträfen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

II

Die Revision hat in dem Sinne Erfolg, dass das angegriffene Urteil aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der Senat konnte offen lassen, ob die Beklagte im Revisionsverfahren dem Gesetz entsprechend vertreten gewesen ist, denn Revisionsführerin ist die Klägerin. Die Frage ordnungsgemäßer Vertretung stellt sich, nachdem Art 2 Nr 18 Gesetz zur Organisationsreform in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVOrgG) vom 17. Juli 2001 (BGBl I, 1600) den § 58b in das ALG eingefügt und dort in Abs 3 bestimmt hat, dass die Spitzenverbände der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ihre Mitglieder bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen unterstützen, "insbesondere 1. vertreten sie ihre Mitglieder gegenüber Bundesinstitutionen, europäischen und internationalen Institutionen, anderen Trägern der Sozialversicherung und deren Verbänden, nationalen und internationalen Behörden, obersten Bundesgerichten sowie dem Europäischen Gerichtshof...". Damit könnte lediglich eine Aufgabe der Spitzenverbände beschrieben sein, zu deren Wahrnehmung sie im Einzelfall - wie bisher - bevollmächtigt werden müssen, es könnte sich aber auch um eine gesetzliche Anordnung zur ausschließlichen Vertretung der Mitglieder vor den obersten Bundesgerichten durch die Spitzenverbände handeln.

Nach § 13 Abs 1 ALG in der hier maßgebenden Fassung (des Art 6 Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung vom 24. März 1999 <BGBl I, 388>; vgl §§ 94, 95a ALG) haben Landwirte Anspruch auf Rente wegen EU, wenn sie erwerbsunfähig nach den Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge zur landwirtschaftlichen Alterskasse gezahlt und vor Eintritt der EU die Wartezeit von fünf Jahren erfüllt haben und wenn das Unternehmen der Landwirtschaft abgegeben ist. Die Klägerin fällt unter diese Vorschrift, obwohl sie nicht Landwirt iS des ALG ist. Insoweit reicht es gemäß § 92 Abs 2 Satz 2 Halbsatz 1 ALG aus, dass ihr als ehemaliger Bäuerin die von ihrem Ehemann zur landwirtschaftlichen Alterskasse gezahlten Beiträge nach Maßgabe des § 92 Abs 1 ALG anzurechnen sind. Nach den Umständen des vorliegenden Falles kann auch davon ausgegangen werden, dass die Klägerin erwerbsunfähig ist und die Wartezeit erfüllt. Überdies ist das Unternehmen der Landwirtschaft abgegeben (vgl § 21 ALG). Ob der Anspruch auf EU - wie von der Beklagten angenommen - dennoch scheitert, weil in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU nicht mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge anzurechnen sind, lässt sich nach den im sozialgerichtlichen Urteil getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden.

Den Entscheidungsgründen des SG ist insbesondere nicht zu entnehmen, seit wann die Klägerin nach der Beurteilung dieses Gerichts erwerbsunfähig ist. Das Urteil enthält keine konkreten Ausführungen zu den Voraussetzungen des § 13 ALG, vielmehr findet sich an der betreffenden Stelle ein Text, der zu einem anderen Fall gehört, bei dem es lediglich um die Rentenhöhe geht. Vorliegend besteht besondere Veranlassung, den Zeitpunkt des Eintritts der EU genau festzustellen, da nach den Berechnungen der Beklagten, die EU ab 29. Februar 1996 angenommen hat, nur fünf Monate zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 13 Abs 1 Satz 1 Nr 2 ALG fehlen. Aus demselben Grunde ist auch im Einzelnen zu prüfen, ob sich der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der EU nach Maßgabe des § 13 Abs 2 ALG um bestimmte Zeiträume in die Vergangenheit hinein verlängert.

Beides - ein früherer Eintritt von EU und das Vorliegen von sog Streckungstatbeständen - könnte zur Anrechnung weiterer Pflichtbeiträge führen. Insoweit kommt der Klägerin nämlich § 92 Abs 1 ALG zugute, der im Wesentlichen vorsieht: Für den Ehegatten gelten für die Ehezeit in der Zeit vom 1. Oktober 1957 bis 31. Dezember 1994, für die der andere Ehegatte Beiträge als Landwirt nach § 14 GAL gezahlt hat, Beiträge als gezahlt, soweit diese Zeiten nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres des Ehegatten liegen und für den Ehegatten nicht bereits mit anrechenbaren Beitragszeiten als Landwirt belegt sind und sofern weitere - hier unproblematische - Voraussetzungen gegeben sind. Da der Ehemann der Klägerin offenbar vom 1. Oktober 1964 bis 30. September 1993 Beiträge als Landwirt nach § 14 GAL gezahlt hat, die Beklagte jedoch - ausgehend von einem Eintritt der EU am 29. Februar 1996 und ohne Berücksichtigung von Verlängerungszeiten - nur die in die Zeit ab 1. März 1991 fallenden Beiträge berücksichtigt hat, würde ein um fünf Monate früherer Beginn des maßgeblichen - ggf verlängerten - Fünf-Jahres-Zeitraumes eine Bejahung des Rentenanspruchs der Klägerin ermöglichen.

Da das SG die insoweit erforderlichen Feststellungen in seinem Urteil nicht getroffen hat und der erkennende Senat entsprechende Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht durchführen kann (vgl § 163 SGG), ist eine Zurückverweisung der Sache geboten.

Sollte das SG nach den im wiedereröffneten erstinstanzlichen Verfahren anzustellenden weiteren Ermittlungen wiederum zu dem Ergebnis kommen, dass die Klägerin nach geltendem Recht keinen Anspruch auf EU-Rente hat, so dürfte es bei Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieses Rechts ua folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben:

Das Gesetz zur Reform der agrarsozialen Sicherung (Agrarsozialreformgesetz 1995 - ASRG 1995) vom 29. Juli 1994 (BGBl I 1890) hatte die Klägerin noch nicht in die eigenständige soziale Sicherung der Bäuerinnen einbezogen. Dafür fehlte ein Pflichtbeitrag als Landwirt für Januar 1995 (vgl § 92 Abs 1 Nr 1 ALG aF). Der Kreis der durch die agrarsoziale Reform begünstigten Bäuerinnen ist erst durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Reform der agrarsozialen Sicherung (ASRG-ÄndG) vom 15. Dezember 1995 (BGBl I 1814) erweitert worden, indem dort für nach dem 1. Januar 1930 geborene Ehegatten von Landwirten - also auch für die Klägerin - auf den Pflichtbeitrag im Januar 1995 verzichtet wurde. Gegenläufig zu dieser Erweiterung ist der begünstigte Personenkreis - bereits damals - möglicherweise zugleich verkleinert worden, weil nur noch Beiträge für solche Zeiten angerechnet werden sollten, "für die der andere Ehegatte Beiträge als Landwirt zur Altershilfe gezahlt hat", statt wie zuvor für solche Zeiten, "für die der Landwirt Beiträge zur Altershilfe für Landwirte gezahlt hat".

Der Senat hat zwar am 17. August 2000 entschieden (BSGE 87, 66, 72 = SozR 3-5868 § 92 Nr 1), dass beide Formulierungen auch nach § 27 GAL weiterentrichtete Pflichtbeiträge erfassen. Der Gesetzgeber hat den "Wettstreit" über die Auslegung der genannten Formulierungen zwischen dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) sowie den landwirtschaftlichen Alterskassen auf der einen Seite und dem Bundessozialgericht (BSG) auf der anderen Seite aber durch eine eindeutige Neufassung des § 92 Abs 1 ALG im Nachhinein entschieden: Durch Art 6 Nr 8 Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensergänzungsgesetz - AVmEG) vom 21. März 2001 (BGBl I 403) sind in § 92 Abs 1 Satz 1 ALG die Wörter "zur Altershilfe" durch die Wörter "nach § 14 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte" ersetzt worden. Diese Änderung ist nach Art 12 Abs 2 AVmEG mit Wirkung vom 23. Dezember 1995 in Kraft getreten. Damit hat der Gesetzgeber den zuvor zweifelhaften Norminhalt - des § 92 Abs 1 Satz 1 ALG idF des ASRG-ÄndG - authentisch festgelegt (vgl zur authentischen Interpretation vgl BSGE 58, 243, 245 = SozR 2200 § 182 Nr 98 mwN; SozR 3-2600 § 93 Nr 3). Da die zitierte Rechtsprechung des Senats den Inhalt der genannten Vorschrift nur mit erheblichem Interpretationsaufwand letztlich dahin bestimmt hat, dass auch weiterentrichtete Pflichtbeiträge anrechenbar seien, dürfte es sich bei der prompten Reaktion des Gesetzgebers (durch das Gesetz vom 21. März 2001) nicht um einen verfassungsrechtlich zum Scheitern verurteilten Versuch handeln, ein von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zutreffend angewandtes - völlig klares - Gesetz rückwirkend zu ändern, um die Rechtsprechung für die Vergangenheit ins Unrecht zu setzen und zu korrigieren (vgl dazu BVerfGE 18, 429 und 30, 367). Es dürfte vielmehr - auch nach dem Selbstverständnis des Gesetzgebers (vgl BT-Drucks 14/4595, S 77) - eine klarstellende Regelung vorliegen, also eine rückwirkende Inhaltsbestimmung innerhalb des Spektrums durchaus möglicher Auslegungen einer bis dahin unklaren Vorschrift.

Das SG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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