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Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 08.02.2001
Aktenzeichen: B 11 AL 21/00 R
Rechtsgebiete: SGG, SGB X
Vorschriften:
SGG § 128 Abs 1 Satz 1 | |
SGB X § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 |
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil
in dem Rechtsstreit
Az: B 11 AL 21/00 R
Kläger und Revisionsbeklagter,
Prozeßbevollmächtigte:
gegen
Bundesanstalt für Arbeit, Regensburger Straße 104, 90478 Nürnberg,
Beklagte und Revisionsklägerin.
Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat am 8. Februar 2001 ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden Richter Sattler, die Richter Lüdtke und Voelzke, die ehrenamtlichen Richter Gehrken und Brüning
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. November 1999 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
Der Rechtsstreit betrifft die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) und die Rückforderung überzahlter Leistungen.
Der 1938 geborene Kläger war bis zum 31. Dezember 1993 bei verschiedenen Arbeitgebern als Redakteur bzw stellvertretender Chefredakteur beschäftigt. Er erzielte zuletzt ein Arbeitsentgelt von 5.379,59 DM brutto monatlich. Vom 1. Januar bis 28. Februar 1994 bezog er Krankengeld.
Am 9. Dezember 1993 meldete sich der Kläger arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg ab 1. Januar 1994. Auf seiner Lohnsteuerkarte 1994 war zu Beginn des Jahres nach einer Änderung am 11. November 1993 die Steuerklasse V und ein Kinderfreibetrag 0,5 eingetragen. Die Lohnsteuerkarte 1994 seiner Ehefrau wies mit Wirkung ab 1. Januar 1994 die Steuerklasse III und den Kinderfreibetrag 0,5 auf.
Mit Bescheid vom 11. März 1994 bewilligte die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) dem Kläger Alg ab 1. März 1994 in Höhe von 545,40 DM wöchentlich nach der Leistungsgruppe C. Auf der Rückseite dieses Bescheides ist in einem Schema erläutert, die Leistungsgruppe C sei der Steuerklasse III zugeordnet. Nachdem der Kläger ab 1. Juli 1994 eine Beschäftigung aufgenommen hatte, meldete er sich zum 15. Februar 1995 erneut arbeitslos. In seiner Lohnsteuerkarte 1995 war wiederum die Steuerklasse V eingetragen. Mit Bescheid vom 24. Februar 1995 bewilligte die BA Alg in Höhe von 549,60 DM wöchentlich nach der Leistungsgruppe C. Auch dieser Bescheid erhält auf der Rückseite das Schema, wonach die Leistungsgruppe C der Steuerklasse III zugeordnet ist.
Unter dem 1. Dezember 1995 übersandte der Kläger der BA seine Lohnsteuerkarte 1996 und bat um Beachtung, daß für ihn ab 1. Januar 1996 die Steuerklasse IV maßgebend sei. Auf entsprechende Aufforderung der BA teilte er das von seiner Ehefrau im Dezember 1995 erzielte Bruttoarbeitsentgelt mit. Am 27. Dezember 1995 nahm der Kläger wieder eine Beschäftigung auf.
Mit Schreiben vom 29. Januar 1996 gab ihm die BA Gelegenheit, sich dazu zu äußern, daß er Alg nach der Leistungsgruppe C statt nach der ihm zustehenden Leistungsgruppe D bezogen habe. Der Kläger erklärte daraufhin, er habe die unrichtige Zahlung nicht erkennen können. Er sei 1994 erstmals arbeitslos geworden und habe "sozialpolitischen Broschüren" entnommen, daß das Alg etwa 60 vH des Nettoverdienstes betrage. Dem habe die Bewilligung von rund 2.100 DM monatlich entsprochen. Außerdem habe er alle Unterlagen exakt vorgelegt. Wenn Bezieher von Alg die Höhe der Abzüge prüfen sollten, müsse er seines Erachtens eine detaillierte Abrechnung ähnlich einem Gehaltszettel bekommen.
Mit Bescheiden vom 22. April und 18. Juni 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 1996 hob die BA die Bewilligung von Alg in der Zeit vom 1. März bis 30. Juni 1994 sowie vom 15. Februar bis 26. Dezember 1995 in Höhe des Unterschieds der Zahlbeträge nach den Leistungsgruppen C und D auf und forderte 12.399 DM zurück. Ein Vertrauen des Klägers auf den Bestand des Bewilligungsbescheides sei nicht schutzwürdig, weil er die Rechtswidrigkeit der Bewilligung in Höhe des Unterschiedsbetrages gekannt habe oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Er habe den Erhalt des Merkblattes für Arbeitslose bestätigt, in welchem die Zuordnung zu Leistungsgruppen aufgrund der Lohnsteuerklassen erklärt würden. Die Höhe der Rückforderung ergebe sich aus den unterschiedlichen Zahlbeträgen 60,50 DM anstelle von 90,90 DM für 105 Wochentage 1994 und 57,50 DM anstelle von 91,60 DM für 270 Wochentage 1995.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 26. Juni 1998 diese Bescheide insoweit aufgehoben, als die bewilligte Leistung die nach der Leistungsgruppe D zustehende Leistung um ein Drittel überstieg und der Kläger mehr als 4.133 DM zu erstatten habe. Zur Begründung hat es ausgeführt, von Begünstigten sei nur eine "Parallelwertung in der Laiensphäre" zu verlangen. Der Kläger habe sich daran orientieren dürfen, daß sein Alg etwa 60 vH des letzten Nettoarbeitsentgelts betrage. Die Unkenntnis der Überzahlung der Höhe nach müsse er sich in dem Umfang zurechnen lassen, in dem er die Ungewißheit über die Richtigkeit der Bewilligung der Höhe nach hingenommen habe.
Mit der Berufung hat die Beklagte geltend gemacht, der Kläger habe ohne weiteres feststellen können, daß die BA bei der Bewilligung des Alg von einer falschen Leistungsgruppe ausgegangen sei. Wenn er dies tatsächlich nicht erkannt habe, sei ihm zumindest grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Dem SG sei nicht darin zu folgen, daß sich die grob fahrlässige Unkenntnis auch auf die Höhe der Leistungen erstrecken müsse. Im Wege der Anschlußberufung hat der Kläger beantragt, die angefochtenen Bescheide im vollen Umfang aufzuheben.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers das Urteil des SG geändert und die angefochtenen Bescheide in vollem Umfang aufgehoben. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, dem Kläger sei zwar zu Unrecht Alg nach der Leistungsgruppe C bewilligt worden, weil zu Beginn der Jahre 1994 und 1995 die Steuerklasse V in seinen Lohnsteuerkarten eingetragen gewesen sei, so daß Alg nach der Leistungsgruppe D zu bemessen gewesen sei. Da der Kläger unrichtige oder unvollständige Angaben nicht gemacht habe, komme als Grundlage für die Aufhebung der Bewilligungen nur § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren (SGB X) in Betracht. Selbst wenn der Kläger verpflichtet gewesen sei, das Merkblatt zu lesen, sei diesem nicht zu entnehmen, nach welcher Leistungsgruppe die Leistungen tatsächlich bewilligt worden seien. Dies sei nur aus den Bewilligungsbescheiden zu ersehen, aus denen ohne größere Anstrengungen die Leistungsgruppe und die Steuerklasse, der sie zugeordnet ist, entnommen werden könne. Eine vorwerfbare Sorgfaltspflichtverletzung setze jedoch die Pflicht von Leistungsempfängern voraus, einen Bewilligungsbescheid zur Kenntnis zu nehmen, zu lesen und sogar auf seine inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen. Eine solche Pflicht sei weder gesetzlich noch durch andere Rechtsvorschriften geregelt. Auch das Merkblatt weise auf eine solche Prüfungspflicht nicht hin. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dürfe der Bürger vielmehr regelmäßig auf die Rechtmäßigkeit an ihn gerichteter Bescheide vertrauen. Eine vollständige Überprüfung des Leistungssatzes sei ihm ohne Leistungstabelle ohnehin nicht ohne weiteres möglich. Demgemäß sei er auch nicht verpflichtet gewesen zu prüfen, ob die BA für die Bemessung die zutreffende Leistungsgruppe herangezogen habe. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger die Bescheide zur Kenntnis genommen habe, ohne "besondere Auffälligkeiten" bemerkt zu haben. Mehr sei von ihm nicht zu verlangen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die BA die Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Das LSG habe den Inhalt des Widerspruchsbescheids, der die zeitliche und inhaltliche Begrenzung der Aufhebung klarstelle, nicht ausdrücklich festgestellt. Dies begründe die Gefahr, das BSG werde die Ausgangsbescheide wegen nicht hinreichender Bestimmtheit aufheben. Der § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X sei verletzt, weil das LSG zu Unrecht angenommen habe, dem Kläger sei die unrichtige Bemessung des Alg nach Leistungsgruppe C anstatt D ohne Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße unbekannt geblieben. Zu dieser Ansicht sei das LSG gekommen, weil es eine Obliegenheit des Leistungsempfängers zur Überprüfung des Bewilligungsbescheides grundsätzlich verneint habe. Eine Sorgfaltspflichtverletzung in ungewöhnlich hohem Umfang lasse sich nur bei einer Überprüfungsobliegenheit hinsichtlich der Daten der tatsächlichen Bewilligung prüfen. Aus § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X ergebe sich somit notwendigerweise auch eine Überprüfungsobliegenheit hinsichtlich der Daten und Informationen, aus denen sich die zustehende Leistung einerseits und andererseits der Umfang der tatsächlich zuerkannten Leistung und der von der Beklagten dabei ausdrücklich zugrunde gelegten Bemessungsfaktoren ergeben. Eine solche Überprüfungsobliegenheit werde auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung auf der Grundlage des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X angenommen. Nach der Rechtsansicht des LSG wäre eine Aufhebung von Bewilligungsbescheiden nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X gar nicht oder nur in wenigen Ausnahmefällen möglich.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. November 1999 aufzuheben, auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juni 1998 zu ändern und die Klage gegen die Bescheide vom 22. April 1996 und 18. Juni 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 1996 in vollem Umfang abzuweisen sowie die Anschlußberufung des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet, denn die Entscheidung des LSG beruht auf einer Gesetzesverletzung (§ 170 Abs 2 SGG). Eine abschließende Entscheidung des BSG ist untunlich, weil die Konkretisierung des Begriffs "grobe Fahrlässigkeit" überwiegend auf tatsächlichem Gebiet liegt.
1. Eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG ergibt sich nicht aus dem Umstand, daß das LSG den Inhalt des Widerspruchsbescheides nicht ausdrücklich festgestellt, sondern den überholten Inhalt der Aufhebungsbescheide vom 22. April und 18. Juni 1996 in den Tatbestand des Urteils aufgenommen hat. Die Entscheidungsgründe ergeben jedoch, daß das LSG bei seiner Entscheidung § 95 SGG entsprechend die Aufhebungsbescheide in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 1996 zugrunde gelegt hat. Maßgebend für die tatsächlichen Feststellungen, zu denen auch die Auslegung der angefochtenen Bescheide gehört, sind die Entscheidungsgründe. Da diesen zu entnehmen ist, daß das LSG von einer begrenzten Aufhebung der Bewilligungsbescheide ausgegangen ist, enthält das Urteil zwar im Tatbestand überholte Tatsachen, nicht aber unrichtige Tatsachenfeststellungen.
2. Die Entscheidung des LSG beruht auf einer Verletzung des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Den Entscheidungsgründen des LSG ist nicht zu entnehmen, daß es bei seiner Würdigung des Sachverhalts von gesetzlichen Merkmalen der groben Fahrlässigkeit ausgegangen ist.
2.1 Grundlage der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit ist § 45 Abs 1 und 4 SGB X. Zutreffend ist das LSG von der Rechtswidrigkeit der Bescheide vom 11. März 1994 und 24. Februar 1995 über die Bewilligung von Alg der Höhe nach ausgegangen. Da zu Beginn des Kalenderjahres 1994, in dem der Anspruch auf Alg entstanden ist, und unverändert bis Ende 1995 in die Lohnsteuerkarten des Klägers die Steuerklasse V eingetragen war, stand ihm Alg lediglich nach der Leistungsgruppe D, nicht aber nach der Leistungsgruppe C zu, von der die BA in beiden Bescheiden fälschlich ausgegangen ist. Wegen des höheren Lohnsteuerabzugs nach der Steuerklasse V ergibt sich für das gleiche Bruttoarbeitsentgelt ein geringerer wöchentlicher Zahlbetrag. Allerdings eröffnet § 45 Abs 4 SGB X die Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten für die Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X. Liegen indes diese Voraussetzungen vor, hat die Rücknahme einer rechtswidrigen Begünstigung nach § 152 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) idF des Gesetzes vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 2353) als gebundene Entscheidung zu ergehen. Damit ist die BA nicht zu Ermessenserwägungen verpflichtet, aus denen sie von der Rücknahme überhöhter Bemessung von Leistungen Abstand nehmen könnte.
2.2 Von den Tatbeständen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X kommt im vorliegenden Zusammenhang lediglich die Nr 3 in Betracht, denn nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Kläger weder unrichtige noch unvollständige Angaben gemacht. Tatsächliche Anhaltspunkte für die Anwendung der Tatbestände Nr 1 und 2 bestehen nicht. Die Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide hat das LSG ausdrücklich nicht feststellen können. Die Rechtsansicht des LSG, die Unkenntnis des Klägers beruhe nicht auf grober Fahrlässigkeit, kann das BSG nicht abschließend beurteilen. Grobe Fahrlässigkeit ist nach der Legaldefinition des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X nur gegeben, wenn der Kläger als Begünstigter die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Den Entscheidungsgründen des LSG ist nicht zu entnehmen, daß es von diesem Beurteilungsmaßstab ausgegangen ist.
2.3 Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muß (BSGE 42, 184, 187 = SozR 4100 § 152 Nr 3; BSGE 62, 32, 35 = SozR 4100 § 71 Nr 2); dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff: BSGE 35, 108, 112; 44, 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr 20). Bezugspunkt für das grobfahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können "Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung", auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grobfahrlässigen Nichtwissens sind (BVerwG Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr 24; vgl auch BSGE 62, 103, 106 = SozR 1300 § 48 Nr 39), Anhaltspunkt für den Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist aber, daß sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Daß letzteres nicht der Fall gewesen ist, hat das LSG nicht näher ausgeführt. Es hat vielmehr gemeint, den Bewilligungsbescheiden sei "ohne größere Anstrengungen" die Leistungsgruppe und die Steuerklasse, der sie zugeordnet ist, zu entnehmen, eine "vorwerfbare Sorgfaltspflichtverletzung" des Klägers sei aber dennoch zu verneinen, weil sie die Rechtspflicht voraussetze, "einen Bewilligungsbescheid zur Kenntnis zu nehmen, zu lesen und sogar auf seine inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen". Für eine solche Pflicht gebe es keine gesetzliche Grundlage. Dem kann so nicht gefolgt werden.
Entscheidend ist nicht, ob der Kläger dem mit der Rückseite der Bewilligungsbescheide als Hinweis abgedruckten Schema hätte ohne weiteres entnehmen können, der Steuerklasse V sei grundsätzlich die Leistungsgruppe D - nicht aber wie in den Bescheiden angegeben die Leistungsgruppe C - zuzuordnen. Entscheidend ist vielmehr, ob ihm unter den gegebenen Umständen eine Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße vorzuwerfen ist, wenn er die Rechtswidrigkeit der Alg-Bewilligungen der Höhe nach nicht erkannte. Das aber läßt sich erst beurteilen, wenn feststeht, inwieweit der Kläger die Bewilligungsbescheide zur Kenntnis genommen hat, wozu das LSG Feststellungen nicht getroffen hat. Auch dem Satz des LSG, es gebe keine Pflicht von Leistungsempfängern, Bewilligungsbescheide zu lesen oder zur Kenntnis zu nehmen, folgt der Senat nicht.
Eine Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, besteht, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. In verschiedenen Zusammenhängen hat das BSG aus dem Sozialrechtsverhältnis hergeleitet, daß die Beteiligten "sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren" haben (vgl BSGE 34, 124, 127 = SozR Nr 25 zu § 29 RVO; BSGE 77, 175, 180 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2; zur näheren Begründung auch Krause, Das Sozialrechtsverhältnis, Schriftenreihe des deutschen Sozialgerichtsverbandes Band XVIII 1980, 12, 25). In die gleiche Richtung deutet die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr 24; für Beamte vgl BVerwGE 40, 212, 217). Allerdings dürfte ein Antragsteller, der zutreffende Angaben gemacht hat, im allgemeinen nicht zu Gunsten der Fachbehörde gehalten sein, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Der Antragsteller darf davon ausgehen, daß eine Fachbehörde nach den für die Leistung erheblichen Tatsachen fragt und seine wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umsetzt (vgl BVerwGE 92, 81, 84). Das gilt auch, soweit Antragsteller über ihre Rechte und Pflichten durch Merkblätter aufgeklärt werden, die abstrakte Erläuterungen über Voraussetzungen von Ansprüchen und deren Bemessung enthalten. Andernfalls würde Begünstigten durch Merkblätter das Risiko für die sachgerechte Berücksichtigung von eindeutigen Tatsachen durch eine Fachbehörde aufgebürdet. Auch bei der Berücksichtigung der Vielfalt von Aufgaben und der Vielzahl der zu bearbeitenden Vorgänge ist es aber gerade die Aufgabe der Fachbehörde, wahrheitsgemäße tatsächliche Angaben von Antragstellern rechtlich einwandfrei umzusetzen (vgl die entsprechenden Erwägungen in einem anderen, aber vergleichbaren rechtlichen Zusammenhang in BSGE 64, 233, 236 ff = SozR 4100 § 145 Nr 4) und dies Betroffenen in der Begründung des Bescheids deutlich zu machen. Eine Bescheidbegründung, die den zugrunde gelegten Sachverhalt wiedergibt (hier zB: Da in Ihrer Lohnsteuerkarte 1994 zu Beginn des Jahres die Steuerklasse III eingetragen war und ist, erhalten Sie das Alg nach der Leistungsgruppe C) macht im übrigen gegebenenfalls auch den mit einer bestimmten Rechtsmaterie nicht vertrauten Antragsteller darauf aufmerksam, daß der Bewilligungsbescheid nicht in Ordnung ist, zB weil der zugrunde gelegte Sachverhalt (hier: Steuerklasse III) nicht dem angegebenen und wahren (Steuerklasse V) entspricht.
Letztlich liegt es jedoch - wie stets bei der Würdigung eines Verhaltens als grobe Fahrlässigkeit - auf tatsächlichem Gebiet, inwieweit der Begünstigte Bewilligungsbescheide zum Anlaß für Richtigkeitsüberlegungen und Vorstellungen oder Hinweisen gegenüber der Behörde zu nehmen hat. Wäre der Sozialleistungsberechtigte überhaupt nicht gehalten, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, so wären die Vorschriften über Inhalt, Form, Begründung und Bekanntgabe von Verwaltungsakten (vgl §§ 31 ff SGB X) nicht verständlich (vgl dazu BVerwG Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr 24).
3. Das LSG hat hiernach den Begriff der Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße (grobe Fahrlässigkeit) verkannt. Ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist im wesentlichen eine Frage der Würdigung des Einzelfalles, die den Tatsachengerichten obliegt (vgl BSGE 35, 108, 112; BSG SozR 2200 § 1301 Nr 7; BSGE 47, 180 = SozR 2200 § 1301 Nr 8; BSGE 48, 190, 192 = SozR 2200 § 1301 Nr 11). Es ist daher untunlich, daß der Senat abschließend entscheidet, zumal das LSG nicht festgestellt hat, inwieweit der Kläger die Bewilligungsbescheide zur Kenntnis genommen hat. Die Sache ist daher gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Sollte der Kläger nur die Zahlbeträge der Bewilligungsbescheide zur Kenntnis genommen haben, wird bei der erneuten Entscheidung zu bedenken sein, daß sich die Zuordnung von Tatsachen (hier Steuerklasse) zu gesetzlichen Merkmalen (Leistungsgruppe) nicht aus der in einer Bescheidbegründung im Zusammenhang dargestellten Subsumtion ergibt. Dem Leistungsempfänger, der die fehlerhafte Zuordnung nicht aus der Bescheidbegründung erkennen kann, wird daher grobe Fahrlässigkeit nur vorzuwerfen sein, wenn der Fehler ihm bei seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu "in die Augen springt". Davon könnte auszugehen sein, wenn die bewilligte Lohnersatzleistung beispielsweise offensichtlich außer Verhältnis zu dem zugrunde liegenden Arbeitsentgelt stände. Ein Zahlbetrag von 545,40 DM für 1994 und 549,60 DM für 1995 als erhöhter Leistungssatz bei einem Bruttoarbeitsentgelt von 1.240 DM bzw 1.280 DM wöchentlich deutet ohne nähere Kenntnis von Bemessungsvorschriften, insbesondere dem Zusammenhang von gewählter Steuerklasse und Leistungsgruppe bzw Höhe des Alg (§ 111 Abs 2 Nr 1, § 113 AFG), nicht auf eine fehlerhafte Bemessung der Leistung hin. Fehlt es an Anhaltspunkten für eine Fehlerhaftigkeit der Bewilligungsbescheide, dürfte der Kläger keinen Anlaß gehabt haben, die Bemessungsfaktoren an Hand des auf der Rückseite der Bewilligungsbescheide mitgeteilten Schemas oder des Merkblatts zu überprüfen oder bei dem Arbeitsamt nachzufragen, um zwar erkennbare, aber nicht wahrgenommene Unstimmigkeiten (Steuerklasse V/Leistungsgruppe C) aufzudecken.
Ende der Entscheidung
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