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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 06.04.2000
Aktenzeichen: B 11 AL 55/99 R
Rechtsgebiete: AFG, EWGV 1408/71


Vorschriften:

AFG § 134 Abs 2 Nr 2
EWGV 1408/71 Art 71 Abs 1 Buchst a
EWGV 1408/71 Art 71 Abs 1 Buchst ii
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Verkündet am 6. April 2000

in dem Rechtsstreit

Az: B 11 AL 55/99 R

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Bundesanstalt für Arbeit, Regensburger Straße 104, 90478 Nürnberg,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 6. April 2000 durch den Vorsitzenden Richter Sattler, die Richter Voelzke und Lüdtke sowie die ehrenamtlichen Richter Gumprich und Gehrken

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Februar 1999 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf originäre Arbeitslosenhilfe (Alhi) vom 15. August 1996 bis 6. April 1997; die Beteiligten streiten darüber, ob ein in den dänischen Streitkräften geleisteter Wehrdienst von 10 Monaten den Zugang zu dieser Leistung eröffnet.

Der am 18. Dezember 1975 geborene unverheiratete Kläger ist deutscher und dänischer Staatsangehöriger. Vom 1. Oktober 1995 bis 31. Juli 1996 leistete er in den dänischen Streitkräften und in Dänemark Grundwehrdienst. Vor und nach dem Wehrdienst lebte er bei seinen Eltern in Havetoftloit (Schleswig-Holstein). Eine Beschäftigung hatte er zuvor nicht ausgeübt. Am 15. August 1996 meldete er sich beim Arbeitsamt Flensburg arbeitslos und beantragte Alhi. Im Antragsvordruck gab er an, keine Einkünfte oder Ansprüche zu haben und nicht mit einem Lebenspartner zusammenzuleben.

Die beklagte Bundesanstalt (BA) lehnte den Antrag ab, weil der Kläger nicht mindestens 150 Kalendertage einer beitragspflichtigen Beschäftigung oder einer gleichgestellten Zeit aufzuweisen habe. Wehrdienst aufgrund der Wehrpflicht sei zwar eine beitragspflichtiger Beschäftigung gleichgestellte Zeit. Es müsse sich jedoch um Dienstzeiten bei einem inländischen Hoheitsträger handeln. Der Wehrdienst bei den dänischen Streitkräften sei keine gleichgestellte Zeit (Bescheid vom 18. September 1996; Widerspruchsbescheid vom 14. November 1996).

Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 27. Oktober 1997; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> vom 12. Februar 1999). Das LSG hat ausgeführt, Wehrdienst iS des § 134 Abs 2 Ziffer 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sei lediglich die Erfüllung der nach deutschem Wehrrecht bestehenden Wehrpflicht. Das ergebe sich aus dem räumlichen Geltungsbereich des Sozialversicherungsrechts (§ 3 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung <SGB IV>), der auch für das AFG Anwendung finde. Etwas anderes lasse sich auch nicht aus Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts herleiten. Nach Art 67 Abs 1 der Verordnung (EWGV) 1408/71 vom 14. Juni 1971 sei die Wehrpflichtzeit des Klägers in Dänemark eine gleichgestellte Zeit nur, wenn es sich nach dänischem Recht um eine Beschäftigungs- oder Versicherungszeit gehandelt hätte. Außerdem seien fremde Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten nach Art 67 Abs 3 EWGV 1408/71 nur zu berücksichtigen, wenn der Arbeitslose unmittelbar vor der Auslandszeit eine Versicherungs- oder Beschäftigungszeit nach deutschem Recht zurückgelegt habe. Diese Voraussetzung erfülle der Kläger nicht. Schließlich sei er auch nicht Grenzgänger iS des Art 71 Abs 1 Buchst a, ii sowie Buchst b, ii der EWGV 1408/71 gewesen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger sinngemäß die Verletzung des § 134 Abs 2 Nr 2 AFG und des Art 71 Abs 1 Buchst a, ii EWGV 1408/71. Er habe mit dem Wehrdienst in Dänemark auch seiner Wehrpflicht in Deutschland genügt. Der in den dänischen Streitkräften geleistete Wehrdienst sei deshalb als Zeit des Wehrdienstes iS des § 134 Abs 2 Nr 2 AFG anzusehen. Etwas anderes lasse sich auch nicht aus § 3 SGB IV herleiten. Wohnsitz eines Wehrpflichtigen sei anders als bei Berufssoldaten nicht der Standort. Er habe deshalb seinen Wohnsitz weiter bei seinen Eltern in Deutschland gehabt. Zur Grenzgängereigenschaft während des Wehrdienstes sei er nicht gefragt worden. Bei entsprechender Sachaufklärung durch das LSG hätte sich ergeben, daß ihm nach Art 71 Abs 1 Buchst a, ii EWGV 1408/71 Leistungen gegen die BA zugestanden hätten.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

1. die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Februar 1999 und des Sozialgerichts Schleswig vom 27. Oktober 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. November 1996 aufzuheben;

2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger vom 15. August 1996 bis zum 6. April 1997 Arbeitslosenhilfe zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie vertritt die Ansicht, der in den dänischen Streitkräften geleistete Wehrdienst sei keine der Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleichgestellte Zeit. Die Wehrdienstzeit sei auch nicht nach gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften zu berücksichtigen. Die Voraussetzungen der Art 67 und 71 EWGV 1408/71 habe das LSG zutreffend verneint. Im übrigen ergäbe sich aus Art 13 Abs 2 Buchst e EWGV 1408/71, daß Dänemark zuständiger Staat sei, falls der Wehrdienst eine für Leistungen bei Arbeitslosigkeit erhebliche Zeit sei.

II

Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Das Urteil des LSG verletzt § 134 Abs 2 Nr 2 AFG. Für eine abschließende Entscheidung des Senats reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus.

Anspruch auf Alhi hat nach § 134 Abs 1 AFG, wer (1.) arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alhi beantragt hat, (2.) keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) hat, weil er die Anwartschaftszeit (§ 104) nicht erfüllt, (3.) bedürftig ist und (4.) innerhalb eines Jahres vor dem Tag, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alhi erfüllt sind (Vorfrist), mindestens 150 Kalendertage in einer Beschäftigung gestanden oder eine Zeit zurückgelegt hat, die zur Erfüllung der Anwartschaftszeit dienen kann. Nach den Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß der Kläger vom 15. August 1996 bis 6. April 1997 arbeitslos war, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alhi beantragt hat. Er hatte auch keinen Anspruch auf Alg, weil er vor dem 15. August 1996 nach den Feststellungen des LSG weder eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt, noch Zeiten zurückgelegt hatte, die einer solchen Beschäftigung zum Erwerb eines Anspruchs auf Alg gleichstehen (§§ 104 Abs 1 Satz 1, 107 AFG).

Der Ansicht des LSG, der Kläger sei ab 15. August 1996 bedürftig gewesen, kann sich der Senat nicht anschließen, denn das LSG hat dazu - nach der von ihm vertretenen Ansicht zu § 134 Abs 2 Nr 2 AFG folgerichtig - tatsächliche Feststellungen nicht getroffen. Dies ist aber für eine Aussage über die Anspruchsvoraussetzung Bedürftigkeit unerläßlich. Die Ansicht des Klägers und seine Angaben im Antragsvordruck reichen zur Beurteilung dieses Merkmals nicht aus. Bedürftig iS des § 134 Abs 1 Nr 3 AFG ist ein Arbeitsloser nur, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise als durch Alhi bestreiten kann. Dies trifft ua nicht auf Arbeitslose zu, die über Einkommen verfügen. Einkommen iS der Vorschriften über die Alhi sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert einschließlich der Leistungen, die von Dritten beansprucht werden können (§ 138 Abs 2 Satz 1 AFG). Einkommen sind damit auch tatsächliche Unterhaltsleistungen von Eltern (Kost und Unterkunft) und der Anspruch auf Unterhalt, den der Kläger als Kind gegen seine Eltern haben kann (§§ 1601 ff Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>). Da der 1975 geborene Kläger vor seinem am 1. Oktober 1995 angetretenen Wehrdienst noch keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, sondern eine Schule besucht hat, liegt es nahe, daß auch ab 15. August 1996 noch die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindesunterhalt gegen seine Eltern gegeben waren. Dabei konnten diese gegenüber dem unverheirateten Kläger unter den Voraussetzungen des § 1612 Abs 2 BGB bestimmen, in welcher Art (zB Kost und Unterkunft) sie anstelle einer Geldrente Unterhalt leisten wollten. Die Prüfung dieser familienrechtlichen Vorfrage ist unerläßlich, denn durch seinen Wehrdienst in den dänischen Streitkräften hat der Kläger eine der beitragspflichtigen Beschäftigung gleichgestellte Zeit des Wehrdienstes aufgrund der Wehrpflicht iS des § 134 Abs 2 Nr 2 AFG zurückgelegt.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, § 134 Abs 2 Nr 2 AFG setze Wehrdienstleistung aufgrund einer nach deutschem Recht bestehenden Wehrpflicht voraus. Als deutscher Staatsangehöriger mit ständigem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland war der Kläger vom vollendeten 18. Lebensjahr an wehrpflichtig (§ 1 Abs 1 Wehrpflichtgesetz <WPflG>). Der aufgrund der Wehrpflicht zu leistende Wehrdienst umfaßt ua den Grundwehrdienst (§ 4 Abs 1 Nr 1 WPflG), der 10 Monate dauert (§ 5 Abs 1 Satz 4 WPflG). Zu Unrecht hat jedoch das LSG den vom Kläger in den dänischen Streitkräften geleisteten Wehrdienst nicht als einen aufgrund der deutschen Wehrpflicht zu leistenden Wehrdienst angesehen. Das Gegenteil ergibt sich aus Art 5 ff des von Deutschland ratifizierten Übereinkommens vom 6. Mai 1963 über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern (BGBl 1969 II 1954), das im Verhältnis zu Dänemark 1972 in Kraft getreten ist (BGBl 1973 II 83), und dem Abkommen der beiden Staaten über die Wehrpflicht deutsch-dänischer Doppelstaater vom 10. Oktober 1985 (BGBl 1988 II 143). Da der Kläger auch die dänische Staatsangehörigkeit besitzt, sind diese Vereinbarungen auf ihn anwendbar. Die Vereinbarungen enthalten deutsches Wehrrecht, denn die Bundesrepublik Deutschland hat sie durch Gesetze vom 29. September 1969 (BGBl II 1953) und 8. Februar 1988 (BGBl II 142) zu innerstaatlichem Recht transformiert. Nach Art 5 Abs 1 des Übereinkommens brauchen Mehrstaater ihre Wehrpflicht nur gegenüber einer der Vertragsparteien zu erfüllen. Dazu bestimmt Art 6 Abs 1 des Übereinkommens, die Wehrpflicht bestehe gegenüber der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet der Wehrpflichtige sich gewöhnlich aufhält. Aufenthaltsstaat war Deutschland, denn der Kläger hatte nach den Feststellungen des LSG jedenfalls bis zum Antritt seines Wehrdienstes den Wohnsitz bei seinen Eltern in Schleswig-Holstein. Als Mehrstaater räumte ihm jedoch Art 6 Abs 1 Satz 2 des Übereinkommens bis zum Alter von 19 Jahren die Möglichkeit ein, seine Wehrpflicht bei jeder anderen Vertragspartei zu erfüllen, deren Staatsangehörigkeit er ebenfalls besitzt, indem er als Freiwilliger einen Wehrdienst von mindestens der gleichen tatsächlichen Gesamtdauer ableistet, wie sie für den aktiven Wehrdienst des Aufenthaltsstaates vorgesehen ist. Deutsch-dänische Doppelstaater wahren ihr Optionsrecht schon dadurch, daß sie sich vor Vollendung des 19. Lebensjahres zum Dienst in den Streitkräften des anderen Staates verpflichten (Art 1 des Abkommens). Von dieser Möglichkeit hat der Kläger Gebrauch gemacht. Soweit der Wehrpflichtige den entsprechenden freiwilligen Dienst bei dem anderen Staat erfüllt hat, betrachtet der Aufenthaltsstaat nach Art 4 Satz 1 des Abkommens die Wehrpflicht ihm gegenüber als erfüllt. Der Kläger hat damit als Freiwilliger der dänischen Streitkräfte vom 1. Oktober 1995 bis zum 31. Juli 1996 seiner Wehrpflicht gegenüber der Bundesrepublik Deutschland genügt.

Die Gleichstellung von Wehrdienstzeiten nach § 134 Abs 2 Nr 2 AFG mit Zeiten beitragspflichtiger Beschäftigung knüpft an die Dienstpflichten regelnden Gesetze an (Gagel/ Ebsen, AFG, § 134 RdNr 144 - Stand Mai 1995). Das unterscheidet sie von den Gleichstellungstatbeständen des § 134 Abs 2 Nr 1 AFG, die an das Dienstverhältnis anknüpfen. Allerdings hat der Senat in einem ausschließlich § 134 Abs 2 Nr 1 AFG betreffenden Urteil den in § 134 Abs 2 Nr 1 und 2 AFG "verwendeten rechtstechnischen Begriffen" entnommen, nur in "Dienststellen bei einem inländischen Hoheitsträger" geleisteter Dienst stehe einer Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleich (BSG SozR 4100 § 134 Nr 40). Dieser Grundsatz bedarf einer Einschränkung, soweit die Übernahme eines internationalen Übereinkommens in das deutsche Wehrrecht die Möglichkeit eröffnet, der Wehrpflicht gegenüber der Bundesrepublik Deutschland durch freiwilligen Wehrdienst in einem anderen Staat zu genügen. Andernfalls käme es zu einem Wertungswiderspruch zwischen der wehrrechtlichen und sozialrechtlichen Stellung des Wehrpflichtigen, der von einer ihm nach deutschem Wehrrecht eingeräumten Option Gebrauch macht.

Der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in einer nicht tragenden Erwägung ausgesprochen, eine nach deutschem Wehrrecht erfüllte Wehrpflicht begründe die Gleichstellung nicht, wenn sie nicht bei einem deutschen Hoheitsträger erfüllt wird (BSG SozR 3-6050 Art 71 Nr 11 = SGb 2000, 86, 87; Niesel/Kärcher, AFG, 2. Aufl 1997 § 134 RdNr 46). Die Entscheidung steht der Entscheidung des Senats nicht entgegen. Der 7. Senat hatte sich nicht mit dem Fall eines Mehrstaaters zu befassen. Seine Aussage betrifft damit den Regelfall, daß nur ein Wehrdienst aufgrund deutscher Wehrpflicht in Deutschland die Voraussetzungen für eine Gleichstellung nach § 134 Abs 2 Nr 2 AFG erfüllt. Der 7. Senat hatte das hier einschlägige Übereinkommen mit seinen Ausnahmeregelungen für Mehrstaater nicht in den Blick zu fassen, so daß die Anwendung dieser Regelungen eine Divergenz nicht begründen kann.

Da die tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung des BSG nicht ausreichen, ist das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

Ende der Entscheidung

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