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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 19.09.2002
Aktenzeichen: B 11 AL 83/01 R
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 103
SGG § 106
SGG § 128 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 11 AL 83/01 R

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat am 19. September 2002 ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden Richter Balzer, die Richter Lüdtke und Voelzke sowie die ehrenamtliche Richterin Farlock und den ehrenamtlichen Richter Bungart

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. August 2000 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der Rechtsstreit betrifft die Höhe eines Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 1. Juni 1994.

Der 1942 geborene Kläger ist von Beruf Diplom-Ingenieur Maschinenbau, Bereich Hydraulik. Er steht - abgesehen von kurzen Unterbrechungen - seit 1. Juli 1982 im laufenden Leistungsbezug bei der Beklagten. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Alhi vom 6. September 1993 bis 31. Mai 1994 nach einem gerundeten Arbeitsentgelt iHv 1.530,00 DM (Leistungsgruppe B, erhöhter Leistungssatz). Bei der Bewilligung von Alhi ab 1. Juni 1994 ging die Beklagte davon aus, der Kläger könne nur noch in die Tätigkeit eines Technikers nach der Tarifgruppe T 4 des Gehaltsrahmentarifvertrages für Angestellte in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen (gültig ab 1. April 1993) mit einem monatlichen Arbeitsentgelt von 4.069,00 DM bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 36 Stunden vermittelt werden. Auf dieser Grundlage bewilligte die Beklagte dem Kläger Alhi ab 1. Juni 1994 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 940,00 DM. Wegen eines auswärtigen Aufenthalts erhielt der Kläger vom 22. August bis 26. August 1994 keine Leistungen (Bescheide vom 20. Juni 1994, 29. August 1994, 5. Januar 1995; Widerspruchsbescheid vom 10. März 1995).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 25. Juni 1998 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger komme im streitbefangenen Zeitraum ab 1. Juni 1994 nicht für eine Beschäftigung in Betracht, deren Entgelt über der eines Technikers mit einem monatlichen Entgelt von 4.059,00 DM liege. Das Gericht stelle nicht in Frage, dass der Kläger auch in der Zeit seit dem 1. Juni 1994 den Beruf eines Ingenieurs weiter auszuüben in der Lage wäre. Nicht bewiesen sei hingegen, dass die Arbeitsmarktsituation dies zulasse.

Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) schriftliche Auskünfte vom Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen sowie von der Industriegewerkschaft Metall zur Einstufung des Klägers eingeholt. In der Anfrage waren Angaben zum beruflichen Werdegang des Klägers einschließlich der Zeiten der Arbeitslosigkeit enthalten sowie Kopien über den Inhalt der ausgeübten Tätigkeiten beigefügt. Im Antwortschreiben der IG Metall vom 7. April 2000 ist ausgeführt worden, in welcher Weise die bisherigen Tätigkeiten des Klägers jeweils einzustufen seien. Zusammenfassend heißt es dann, der Kläger sei 1942 geboren und verfüge über umfangreiche Kenntnisse. Auf Grund des allgemein beklagten Fachkräftemangels sei eine (der früheren Tätigkeit) entsprechende Beschäftigung durchaus möglich. Im Schreiben des Verbandes der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen vom 28. April 2000 wurde ua ausgeführt, der Kläger sei auf Grund der langen Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und der rasanten technologischen Entwicklung auf der anderen Seite nicht in der Lage, Tätigkeiten, die in AT-Gruppen eingruppiert würden, auszuführen. Bei realistischer Betrachtung und Berücksichtigung aller vorgetragenen Einflussgrößen werde davon ausgegangen, dass der Kläger noch Tätigkeiten, die nach dem Gehaltsrahmentarifvertrag für Angestellte in der Gehaltsgruppe T 5 eingruppiert seien, ausführen könne.

Das LSG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alhi ab dem 1. Juni 1994 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 1.070,00 DM zu gewähren und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung seines Urteils hat das LSG ausgeführt, das SG sei zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger nach Maßgabe des § 112 Abs 7 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) das tarifliche Entgelt erzielen könne, das der Gehaltsgruppe 4 des Gehaltsrahmentarifvertrages in der bis 31. Mai 1994 geltenden Fassung zuzuordnen sei. Entgegen der Auffassung des Klägers sei eine höhere Tarifgruppe nach den eingeholten Auskünften nicht gerechtfertigt. Nach beiden Auskünften seien seine bisherigen Tätigkeiten nach der Tarifgruppe T 6 bzw T 5 sowie nach K 6 einzuordnen. Diese Auskünfte hätten zwar ausgeführt, der Kläger könne auf Grund seiner Qualifikation eine Tätigkeit in den Gehaltsgruppen T 6, T 5 ausüben. Beide hätten jedoch nicht zum Ausdruck gebracht, dass insoweit auch die Dauer der Arbeitslosigkeit Berücksichtigung gefunden habe. Bei Anbetracht der Dauer der Arbeitslosigkeit könne nicht angenommen werden, dass der Kläger trotz seiner Qualifikation in eine Tätigkeit mit einem höheren Gehalt als T 4 vermittelt werden könne. Die Berufung des Klägers habe jedoch insoweit Erfolg, als seinem Leistungsanspruch nach dieser Eingruppierung ab dem 1. Juli 1994 ein Bemessungsentgelt von 1.070,00 DM zu Grunde zu legen sei. Der Gehaltsgruppe T 4 zum 1. Juni 1994 entspreche ein monatlicher Grundlohn von 4.151,00 DM. Hinzu komme die durchschnittliche 10 %ige Leistungszulage sowie ein Betrag von 52,00 DM als vermögenswirksame Leistung. Aus der Summe von 4.618,10 DM errechne sich ein gerundetes wöchentliches Bemessungsentgelt von 1.070,00 DM.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 103, 106 und 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm dem Grundrecht auf rechtliches Gehör. Er macht geltend, das LSG habe die schriftlichen Auskünfte des Verbandes der Metall- und Elektrotechnik und der IG Metall offensichtlich falsch interpretiert. Die erteilten Auskünfte berücksichtigten die Dauer der Arbeitslosigkeit, da diese mit der Fragestellung durch das LSG vorgegeben gewesen sei. Es liege eine überraschende Entscheidung vor, da er auf Grund der Fragestellung des Berufungsgerichts davon habe ausgehen können, dass bei der Bewertung der Auskünfte der Tarifparteien die Dauer der Arbeitslosigkeit Berücksichtigung gefunden habe. Die angefochtene Entscheidung beruhe auch auf dem Aufklärungsmangel und der falschen Würdigung der Auskunft. Hätte das Berufungsgericht berücksichtigt, dass in beiden Auskünften die Dauer der Arbeitslosigkeit der Einschätzung zu Grunde gelegen habe, hätte es zu einer höheren tatsächlichen Eingruppierung über den Tarif T 4 hinaus kommen müssen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. August 2000 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 20. Juni 1994, vom 29. September 1994 und vom 5. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 1995 zu verurteilen, dem Kläger Arbeitslosenhilfe ab 1. Juni 1994 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 1.530 DM brutto zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das LSG habe die revisionsrechtlich relevanten Grenzen der freien Beweiswürdigung nicht überschritten. Dem LSG sei bei der Feststellung der tatsächlichen Grundlagen für seine Entscheidung kein vom Kläger gerügter Verfahrensfehler zur Last zu legen. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs zwinge das Gericht nicht dazu, seine Rechtsauffassung dem Kläger zur Kenntnis zu geben. Auch müsse nicht auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hingewiesen werden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz) verletzt, denn es hat mit der Feststellung, das vom Kläger erzielbare Entgelt sei geringer als in den eingeholten Auskünften angegeben, weil "die Auskünfte über die für den Kläger erreichbare tarifliche Entlohnung nicht die Dauer von dessen Arbeitslosigkeit" berücksichtigen, eine Überraschungsentscheidung getroffen. Eine Überraschungsentscheidung in diesem Sinne liegt vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind und wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 4 mwN; BSG Urteil vom 18. November 1997 - 2 RU 19/97 -). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist durch eine solche Entscheidung verletzt, denn das rechtliche Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, zu der sie nach dem tatsächlichen Sach- und Streitstand bisher keine Veranlassung hatten, Stellung zu nehmen. Ein Beteiligter darf deshalb nicht mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, die von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte. Die Beteiligten werden von einer Entscheidung im besonderen Maße überrascht, wenn sie in den Entscheidungsgründen einer Beweiswürdigung begegnen, für die bisher keine Hinweise vorlagen (BSG SozR 1500 § 62 Nr 20; BSG Urteil vom 29. Mai 1991 - 9a RVi 1/90 -).

Ein solcher Sachverhalt liegt hier vor. Das LSG hatte durch die Fassung seiner Anfragen vom 26. März 2000 eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass bei der Beantwortung der Fragen die Zeiten der Arbeitslosigkeit Berücksichtigung finden sollten. Denn es war ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass der Kläger in der Zeit vom 1. Juli 1982 bis zum 12. April 1987 arbeitslos gewesen sei und er seit dem 1. Oktober 1987 im Leistungsbezug der Beklagten gestanden habe. Zudem wurde um Einschätzung gebeten, ob "die von der Beklagten vorgenommene Bemessung im Hinblick auf Alter, Dauer der Arbeitslosigkeit, Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt (1994) für realistisch" erachtet bzw ein höheres Entgelt erzielbar gewesen wäre. Entsprechend dieser Fragestellung weist auch die Beantwortung der Fragen durch Arbeitgeberverband und Gewerkschaften unzweifelhaft aus, dass die Zeiten der Arbeitslosigkeit Berücksichtigung gefunden hatten. Vor diesem Hintergrund konnte der Kläger nicht voraussehen, dass das Gericht den Auskünften im Rahmen seiner Beweiswürdigung die gegenteilige Aussage entnehmen würde.

Die Feststellung, der Kläger könne iS des § 112 Abs 7 AFG abweichend von den Auskünften nur noch ein Entgelt nach der Gehaltsgruppe T 4 des Gehaltsrahmentarifvertrages der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen erzielen, beruht demnach auf Verfahrensfehlern, sodass insoweit neue - verfahrensfehlerfreie - Feststellungen notwendig sind. Dazu ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.

Ende der Entscheidung

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