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Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 24.05.2006
Aktenzeichen: B 11a AL 45/05 R
Rechtsgebiete: SGB III
Vorschriften:
SGB III § 143a Abs 1 Satz 4 |
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil
in dem Rechtsstreit
Verkündet am 24. Mai 2006
Az: B 11a AL 45/05 R
Der 11a. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2006 durch die Vizepräsidentin Dr. Wetzel-Steinwedel, die Richter Dr. Voelzke und Dr. Leitherer sowie die ehrenamtlichen Richter Zähringer und Dellmann
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 2005 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die dem Versicherten S. dem Ehemann der Klägerin, im Zusammenhang mit der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses gewährte Abfindung zum Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 1. Mai bis 7. August 2003 führt.
Der am 25. September 1943 geborene S war seit 1978 bei der Firma Sch. KG/Düsseldorf (im Folgenden Arbeitgeberin) als Schlosser beschäftigt. Nach dem maßgeblichen Manteltarifvertrag für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden der metallverarbeitenden Industrie Nordrhein-Westfalen (MTV) von August/September 2001 belief sich die Kündigungsfrist des Arbeitgebers nach einer Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers von 20 Jahren auf sieben Monate zum Ende des Kalendermonats (§ 20 Nr 3 Satz 1 MTV). Beschäftigten, die das 55. Lebensjahr, aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hatten und dem Betrieb/Unternehmen zehn Jahre angehörten, konnte nach § 20 Nr 4 Satz 1 MTV nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Dies galt nach Satz 2 des § 20 Nr 4 MTV auch bei Änderungskündigungen im Einzelfall zum Zwecke der Entgeltminderung; nicht jedoch
- bei allen sonstigen Änderungskündigungen oder
- bei Betriebsänderungen, wenn ein anderer zumutbarer Arbeitsplatz nicht vorhanden war, oder
- bei Zustimmung der Tarifvertragsparteien.
Aus Anlass einer geplanten Betriebsänderung und damit einhergehenden betriebsbedingten Beendigungskündigungen gegenüber 210 Mitarbeitern aus nahezu allen Betriebsabteilungen schloss die Arbeitgeberin mit dem Betriebsrat am 16. August 2002 einen Interessenausgleich und Sozialplan, durch welche den betroffenen - namentlich genannten - Mitarbeitern - darunter S - zum Ausgleich und zur Milderung der wirtschaftlichen Nachteile Abfindungen zur Verfügung gestellt wurden.
Das Beschäftigungsverhältnis des S wurde daraufhin am 18. September 2002 durch die Arbeitgeberin zum 30. April 2003 gekündigt. S erhielt eine Abfindung in Höhe von 38.854,24 €.
S meldete sich im April 2003 arbeitslos und beantragte Alg zum 1. Mai 2003.
Durch Bescheid vom 15. April 2003 stellte die Beklagte wegen der gewährten Entlassungsentschädigung das Ruhen des Leistungsanspruchs bis zum 7. August 2003 fest. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 24. April 2003 zurück mit der Begründung, auf Grund des Sozialplans sei S nur gegen Zahlung einer Abfindung ordentlich kündbar gewesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Dezember 2003). Auf die Berufung des S hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 15. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2003 verurteilt, an S Alg ab 1. Mai 2003 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen (Urteil vom 20. Juni 2005 - L 19 <9> AL 5/04). In den Entscheidungsgründen hat das LSG ua ausgeführt: Entgegen der Auffassung des SG führe der Erhalt der Abfindung nicht zum Ruhen des Anspruchs. Ein Ruhen allein nach § 143a Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) scheide bereits deshalb aus, weil das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist von sieben Monaten beendet worden sei. Die Voraussetzungen des § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III mit der Folge einer fiktiven Kündigungsfrist von einem Jahr lägen nicht vor, da eine ordentliche Kündigung, wie sich aus § 20 Nr 4 MTV ergebe, nicht nur bei Zahlung einer Abfindung möglich gewesen sei. Der Senat schließe sich nach eigener Überprüfung und Überzeugungsbildung den Ausführungen des 12. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen in einem Urteil vom 26. Januar 2005, L 12 AL 5/04, an. (Über die Revision gegen das vorgenannte Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen hat der erkennende Senat mit Urteil vom 24. Mai 2006 unter dem Aktenzeichen B 11a AL 21/05 R entschieden).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfasse § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III gerade Fälle der vorliegenden Art, in denen dem Arbeitgeber tarifvertraglich die ordentliche Kündigung nur noch für den Fall des Bestehens eines Sozialplans vorbehalten sei und der Sozialplan für die betroffenen Arbeitnehmer eine Abfindung vorsehe. Nach Auffassung des BSG entspreche es nicht dem Willen des Gesetzgebers, Sozialplanabfindungen gänzlich aus dem Anwendungsbereich der genannten Vorschrift herausfallen zu lassen. Zwar sei im vorliegenden Fall - anders als bei bisher vom BSG entschiedenen Sachverhalten - nicht im Tarifvertrag selbst auf einen Sozialplan verwiesen worden; jedoch genüge der Hinweis im MTV auf Betriebsänderungen, da eine Betriebsänderung nach den Bestimmungen der §§ 111 und 112 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) zwangsläufig zu einem Sozialplan führe. Die Auffassung des LSG, mit der Betriebsänderung iS des § 111 BetrVG sei nicht notwendigerweise eine Abfindung verbunden, verkenne, dass bei der gegebenen Situation die Kündigung ohne Zahlung einer Abfindung für die Arbeitgeberin keine realisierbare Möglichkeit darstelle.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 2005 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 4. Dezember 2003 zurückzuweisen.
S ist während des Revisionsverfahrens verstorben. Nachdem der Rechtsstreit auf Antrag des Prozessbevollmächtigten zunächst ausgesetzt gewesen ist, hat die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des S das Verfahren aufgenommen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
II
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Die Klägerin ist gemäß § 56 Abs 1 Nr 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch als Rechtsnachfolgerin des verstorbenen S im Wege eines gesetzlichen Beteiligtenwechsels in dessen prozessuale Rechtsposition eingetreten.
Das LSG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine aus Anlass einer Betriebsänderung gezahlte sozialplanmäßige Abfindung nicht dem Anwendungsbereich des § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III unterliegt (dazu im Folgenden unter Ziff 1). Es hat deshalb - von seinem Rechtsstandpunkt folgerichtig - die weitere Frage ungeprüft gelassen, ob das Arbeitsverhältnis des S auch durch eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist iS des § 143a Abs 1 Satz 3 Nr 2 Alt 2 SGB III hätte beendet werden können mit der Konsequenz einer teleologischen Reduktion der gesetzlichen einjährigen Kündigungsfrist auf die ordentliche siebenmonatige Kündigungsfrist (dazu im Folgenden unter Ziff 2).
1. Hat der Arbeitslose wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung (Entlassungsentschädigung) erhalten oder zu beanspruchen und ist das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer der ordentlichen Kündigungsfrist des Arbeitgebers entsprechenden Frist beendet worden, so ruht der Anspruch auf Alg von dem Ende des Arbeitsverhältnisses an bis zu dem Tage, an dem das Arbeitsverhältnis bei Einhaltung dieser Frist geendet hätte (§ 143a Abs 1 Satz 1 SGB III). Kann dem Arbeitgeber nur bei Zahlung einer Entlassungsentschädigung ordentlich gekündigt werden, so gilt eine Kündigungsfrist von einem Jahr (§ 143a Abs 1 Satz 4 SGB III).
Hiernach unterliegt es keinem Zweifel, dass S zwar unter Einhaltung der nach § 20 Nr 3 Satz 1 MTV maßgeblichen Frist von sieben Monaten betriebsbedingt gekündigt wurde. Entgegen der Auffassung des LSG war die aus Anlass der Betriebsänderung eröffnete ordentliche Kündigung des ansonsten sonderkündigungsgeschützten S aber nur bei Zahlung der im Sozialplan vorgesehenen Abfindung möglich, so dass danach eine - nicht eingehaltene - Kündigungsfrist von einem Jahr galt.
Der Senat schließt sich insoweit der Rechtsprechung des 7a. Senats des BSG in einem Parallelverfahren an, bei dem es ebenfalls um die Gewährung einer Sozialplanabfindung im Zusammenhang mit der ordentlichen Kündigung eines langjährig beschäftigten und grundsätzlich mit demselben tariflichen Sonderkündigungsschutz ausgestatteten Arbeitnehmers durch dieselbe Arbeitgeberin auf Grund derselben Betriebsänderung ging (Urteil vom 9. Februar 2006 - B 7a AL 44/05 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; vgl auch Urteil des erkennenden Senats vom 24. Mai 2006 in dem ebenfalls gleichgelagerten Verfahren B 11a AL 21/05 R). Der 7a. Senat hat im Anschluss an die bisherige Rechtsprechung beider Senate (BSG SozR 3-4100 § 117 Nr 15; BSGE 87, 250 = SozR 3-4100 § 117 Nr 22) ausgeführt, dass § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III seiner Entstehungsgeschichte nach die Fälle erfasst, in denen die ordentliche Kündigung für den Arbeitgeber vertraglich grundsätzlich ausgeschlossen ist und nur für Fälle (wieder) eröffnet wird, bei denen eine Abfindung gezahlt wird. Dies betrifft vor allem Fallgestaltungen, in denen dem Arbeitgeber tarifvertraglich die ordentliche Kündigung nur noch für den Fall des Bestehens eines Sozialplans vorbehalten ist und der Sozialplan für den betroffenen Arbeitnehmer eine Abfindung vorsieht. In gleicher Weise erstreckt sich der Anwendungsbereich des § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III auf tarifvertragliche Regelungen, die die Aufhebung des Sonderkündigungsschutzes "bei Betriebsänderungen" ermöglichen. Hierbei geht der erkennende Senat mangels bindender Feststellungen des LSG (§§ 162, 163 SGG) davon aus, dass der konkrete Tarifvertrag (§ 20 Nr 4 Satz 2 MTV) hinsichtlich des Begriffs der "Betriebsänderung" auf sämtliche Regelungselemente des § 111 BetrVG Bezug nimmt mit der Konsequenz eines erzwingbaren Sozialplans iS des § 112 BetrVG. Diese Variante des Sonderkündigungsschutzes ist - entgegen der Rechtsansicht des LSG - von den Rechtsfolgen her jenen der bisherigen "Sozialpanrechtsprechung" vergleichbar, unterfällt daher ebenso wie diese dem Anwendungsbereich des § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III.
Gegen diese Auslegung des § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Hierauf ist der Senat in seinem Urteil vom 24. Mai 2006 im Parallelverfahren B 11a AL 21/05 R näher eingegangen; auf die diesbezüglichen Ausführungen in dem vorbezeichneten Urteil wird Bezug genommen.
2. Weitere vertiefende Ausführungen zu verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten erübrigen sich auch im vorliegenden Fall deshalb, weil sich nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen lässt, ob § 143a Abs 1 Satz 4 SGB III überhaupt zur Anwendung gelangt oder ob weitere ordentliche Kündigungsmöglichkeiten des Arbeitgebers ohne Abfindung (konkret) bestanden (vgl bereits Urteil des 7a. Senats vom 9. Februar 2006 im Parallelverfahren B 7a AL 44/05 R). Wenig wahrscheinlich ist allerdings die Möglichkeit einer tariflich vorgesehenen Änderungskündigung (vgl hierzu Urteil des Senats vom 24. Mai 2006 im Parallelverfahren B 11a AL 21/05 R mit Hinweis auf BSG SozR 3-4100 § 117 Nr 15). Nicht völlig ausgeschlossen ist nach den Umständen des Falles aber die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist (vgl wiederum Urteil des erkennenden Senats vom 24. Mai 2006 - B 11a AL 21/05 R - mit weiteren Hinweisen). Das LSG wird deshalb auch im vorliegenden Fall zu ermitteln haben, ob die Arbeitgeberin - die tarifliche Kündigungsmöglichkeit hinweggedacht - zur fristgebundenen außerordentlichen Kündigung berechtigt gewesen wäre, weil mangels anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten (zB Teilbetriebsstillegung) eine Lohnfortzahlung zu einer unzumutbaren Belastung der Arbeitgeberin geworden wäre. Sollte danach eine teleologische Reduktion auf die ordentliche siebenmonatige Kündigungsfrist geboten sein, wird auch zu beachten sein, dass der Ruhensbescheid und der die Bewilligung von Leistungen für die Zeit nach dem 7. August 2003 verfügende Bescheid eine einheitliche rechtliche Regelung darstellen (vgl BSG, Urteil vom 9. Februar 2006 - B 7a/7 AL 48/04 R ).
Das LSG hat abschließend auch über die Kosten zu entscheiden.
Ende der Entscheidung
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