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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 22.08.2000
Aktenzeichen: B 2 U 15/00 R
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 62
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 2 U 15/00 R

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen, Ottenser Hauptstraße 54, 22765 Hamburg,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 22. August 2000 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Burchardt, die Richter Thiele und Kruschinsky sowie die ehrenamtlichen Richter Gehrken und Brüning

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. Oktober 1999 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob dem Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls Verletztenrente auf unbestimmte Zeit zusteht.

Der im Jahre 1965 geborene Kläger rutschte am 1. Dezember 1995 bei seiner beruflichen Tätigkeit als Kfz-Mechaniker vom Trittbrett eines LKWs ab, fiel auf das rechte Knie und zog sich eine Kniescheibenfraktur rechts zu. Die Beklagte holte von Dr. R. ein Rentengutachten und von dem beratenden Arzt Dr. B. eine Stellungnahme ein. Hierauf gestützt teilte sie dem Kläger mit Bescheid vom 29. Mai 1997 mit, daß bei ihm als Folgen des Arbeitsunfalls ein in geringgradiger Fehlstellung knöchern fest verheilter Kniescheibenbruch rechts, eine Muskelminderung am Oberschenkel des rechten Beines, eine posttraumatische Arthrose des Kniescheibengleitlagers sowie eine Minderung der Belastbarkeit des rechten Beines vorliegen. Wegen der Folgen dieses Arbeitsunfalls habe er Anspruch auf vorläufige Rente für die Zeit ab 9. April 1996 bis auf weiteres nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH.

Zur Feststellung einer Rente auf unbestimmte Zeit holte die Beklagte später ein weiteres Gutachten von Dr. R. ein, in dem dieser die Auffassung vertrat, die MdE sei weiterhin mit 20 vH zu bewerten. Dieser Beurteilung widersprach der beratende Arzt der Beklagten Dr. B. in einer Stellungnahme und meinte, nach den im Gutachten mitgeteilten Befunden sei die MdE lediglich mit 10 vH zu bewerten. Nach Anhörung des Klägers entzog die Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 25. November 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 23. Juni 1998 die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats November 1997 und lehnte die Zahlung einer Dauerrente ab 1. Dezember 1997 ab.

Das Sozialgericht (SG) hat nach weiterer medizinischer Sachaufklärung durch Urteil vom 18. Januar 1999 die Klage abgewiesen. Im anschließenden Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) im Termin zur mündlichen Verhandlung am 7. Oktober 1999 den Arzt für Chirurgie Dr. Sch. gehört. Dieser hat sein schriftlich vorbereitetes Gutachten verlesen, erläutert und auf Befragen ergänzt. Darin ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, daß eine unfallbedingte MdE in Höhe von 20 vH ab Dezember 1997 nicht feststellbar sei. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat sodann in der mündlichen Verhandlung neben dem Sachantrag hilfsweise beantragt, "den Rechtsstreit zu vertagen, um zum heutigen Beweisergebnis Stellung nehmen zu können". Mit dem am Ende der Sitzung verkündeten Urteil hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und sich dabei auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. Sch. gestützt.

Zur Begründung hat es weiter ausgeführt, es bedürfe keiner Vertagung des Rechtsstreits. Das Gebot des rechtlichen Gehörs könne es erforderlich machen, den Beteiligten eine Äußerungsfrist zu einem Sachverständigengutachten einzuräumen. Einem solchen Antrag sei aber nur dann stattzugeben, wenn das Gutachten Tatsachen oder Wertungen in den Prozeßstoff einbringe, auf die sich die Beteiligten bisher nicht hätten einstellen können. Komme das Gutachten nicht zu unerwarteten Feststellungen, könnten die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung ihr Recht auf Gehör wahrnehmen. Es sei jedem gewissenhaften Prozeßbeteiligten zumutbar, es gehöre sogar zu seinen Mitwirkungspflichten, sich auf die mündliche Verhandlung so gründlich vorzubereiten, daß er eine Beweiswürdigung zu einem Gutachten nicht unerwarteten Inhalts abgeben könne. Das müsse insbesondere von einem juristisch geschulten Prozeßvertreter verlangt werden. Denn gleiche Erwartungen stelle das Gesetz auch an die Berufs- und ehrenamtlichen Richter. Sie hätten das Ergebnis einer Beweisaufnahme noch in der mündlichen Verhandlung zu würdigen und danach zu entscheiden. Die Prozeßordnung stelle Kläger und Beklagte nicht besser als Richter.

Mit seiner - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger, er sei durch die Ablehnung seines hilfsweise gestellten Vertagungsantrags in seinem Recht auf rechtliches Gehör (§ 62 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>) verletzt worden. Das LSG hätte dem Antrag entsprechen müssen, weil es für ihn und seinen Bevollmächtigten als Nichtmediziner unmöglich gewesen sei, den medizinischen Sachverhalt in der Kürze der Zeit, die ein mündlicher Vortrag mit sich bringe, komplett zu erfassen und nachzuvollziehen, ob sich nicht andere als in dem Gutachten genannte Möglichkeiten oder Ansatzpunkte für seine Beschwerden ergeben könnten und ob diese neue Diagnose zu einer Erhöhung der MdE führe. Dies sei hier insbesondere deshalb der Fall gewesen, weil der medizinische Sachvortrag an einigen Punkten von dem bisherigen medizinischen Sachverhalt abgewichen sei und neue Erklärungsversuche enthalten habe. So führe der Sachverständige in seinem Gutachten auf, daß möglicherweise infolge einer operationsbedingten Nervenirritation an der Außenseite des Kniegelenks die Beschwerden an der Innenseite dieses Gelenks stärker empfunden würden, daß an der Innenseite eine stärkere Belastung der Innenfacette der Kniescheibe stattfinde und daß eine Weichteilvermehrung des rechten Kniegelenks als Zeichen einer Narbenbildung vorhanden sei. Es sei geboten gewesen, ihm bzw seinem Bevollmächtigten ausreichend Zeit einzuräumen, um zu diesem überraschend in die mündliche Verhandlung eingebrachten Sachverhalt nach Einholung sachkundigen Rates oder nach Eigenstudium medizinischer Fachliteratur sachgerecht Stellung nehmen zu können. Das LSG dürfe insoweit auch nicht einen Beteiligten mit einem Richter gleichsetzen. Das angefochtene Urteil des LSG beruhe auch auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs. Bei Vertagung des Rechtsstreits hätte er eine fundierte ergänzende medizinische Stellungnahme abgegeben, die das LSG zu weiterer medizinischer Sachaufklärung hätte bewegen können. Insbesondere die Feststellung einer Nervenreizung hätte zu einer weiteren neurologischen Sachaufklärung führen müssen, die dann eventuell zu einem höheren MdE-Grad hätte beitragen können.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG vom 7. Oktober 1999 und das Urteil des SG vom 18. Januar 1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. November 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Juni 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm aufgrund des Arbeitsunfalls vom 1. Dezember 1997 eine Dauerrente nach einer MdE von 20 vH zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückzuverweisen.

Die Beklagte sieht von einem Antrag und einer Stellungnahme ab.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist, weil der geltend gemachte Verfahrensmangel vorliegt und die Entscheidung des LSG darauf beruhen kann.

Auf das Sachverständigengutachten des Arztes für Chirurgie Dr. Sch. durfte das LSG seine Entscheidung nicht stützen, weil es dieses Gutachten unter Verstoß gegen den in den §§ 62, 128 Abs 2 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes enthaltenen Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs in das Verfahren einbezogen und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Es hat dem Kläger keine ausreichende Gelegenheit gegeben, sich zu diesem in der mündlichen Verhandlung erstatteten Gutachten zu äußern.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör zählt zu den prozessualen Grundrechten. Er gewährt den Beteiligten ua das Recht, sich in bezug auf Tatsachen und Beweisergebnisse zu äußern. Ihnen ist Gelegenheit zu geben, sachgemäße Erklärungen abzugeben. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist daher nur genügt, wenn den Beteiligten für die Abgabe ihrer Erklärung eine angemessene Zeit eingeräumt wird (BSGE 11, 165, 166; BSG SozR Nr 13 zu § 106 SGG; BSG SozR 1500 § 117 Nr 2; BSG Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 4/81 - SozSich 1982, 324; BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5). Ob eine Äußerungsfrist angemessen ist oder nicht, richtet sich dabei nach dem Gegenstand der Beweisaufnahme. Handelt es sich - wie hier - um die durch einen medizinischen Sachverständigen vorgenommene Bewertung komplexer und schwieriger medizinischer Befunde und Zusammenhänge, die sich jedenfalls in den von der Revision aufgeführten Punkten von den Vorgutachten unterscheiden, und ist der betroffene Beteiligte medizinischer Laie, so kann dieser eine sachgerechte Äußerung zu den Beweisergebnissen naturgemäß erst abgeben, wenn er sich entsprechend sachkundig hat beraten lassen. Seinem dementsprechenden Verlangen hat das Gericht zu entsprechen (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5 und zuletzt BSG Urteil vom 14. Dezember 1999 - B 2 U 6/99 R - HVBG-Info 2000, 298). Gegenüber der Vorschrift, das gerichtliche Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abzuschließen (§ 106 Abs 2 SGG), gebührt dem Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs aus rechtsstaatlichen Gründen der Vorrang (BSG SozR Nr 13 zu § 106 SGG). Es ist Sache des Gerichts, die mündliche Verhandlung durch rechtzeitige Einholung und Übermittlung von Sachverständigengutachten so vorzubereiten, daß die Streitsache ohne Vertagung verfahrensfehlerfrei erledigt werden kann (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5). Das LSG hätte daher dem Vertagungsantrag des Klägers stattgeben müssen.

Unerheblich ist es für die Verpflichtung des LSG, die Entscheidung zu vertagen, ob die Ausführungen des Dr. Sch. unerwartete Feststellungen enthielten oder nicht. Für den Anspruch auf rechtliches Gehör spielt es keine Rolle, ob der ärztliche Sachverständige sich im Ergebnis oder in seiner Begründung einem bereits vorliegenden Gutachten eines anderen Sachverständigen angeschlossen hat, oder ob er zu einer abweichenden Beurteilung gelangt ist. Entscheidend ist allein, daß das Gericht eine - weitere - Beweisaufnahme für erforderlich gehalten und durchgeführt hat. Zu deren Ergebnis müssen sich die Beteiligten in angemessener Zeit äußern dürfen. Die Verpflichtung, dem betroffenen Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Äußerung zum Beweisergebnis zu geben, hängt auch nicht davon ab, ob das Gericht das Beweisergebnis für eindeutig und deshalb für nicht mehr diskutabel hält. Handelt es sich - wie hier - um die Beurteilung gutachterlicher Ausführungen des Sachverständigen, die den Beteiligten erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung zur Kenntnis gebracht werden, ist deren Verlangen, sich vor Abgabe einer Stellungnahme sachkundig beraten zu lassen, zu entsprechen (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5; BSG Urteil vom 14. Dezember 1999 - B 2 U 6/99 R - HVBG-Info 2000, 298). Dies gilt im vorliegenden Fall um so mehr, als das Gutachten des Dr. Sch. in den von der Revision bezeichneten Punkten neue Erklärungsversuche für die Beschwerden des Klägers enthält.

Entgegen der Auffassung des LSG kann auch nicht Maßstab für den Umfang des zu gewährenden rechtlichen Gehörs sein, ob die erkennenden Richter sich durch ein in der mündlichen Verhandlung vom Sachverständigen vorgetragenes medizinisches Gutachten so ausreichend unterrichtet fühlen, daß sie im Anschluß daran durch Urteil entscheiden können. Ein derartiger Maßstab ist schon deshalb auszuschließen, weil - anders als die Beteiligten - die Richter selbst darüber entscheiden können, ob der Vortrag des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung für die Urteilsfindung ausreicht oder ob noch eine gewisse Zeit benötigt wird, um das Gutachten einer näheren Prüfung zu unterziehen.

Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn eine medizinisch begründete Stellungnahme des Klägers hätte die Ausführungen von Dr. Sch. erschüttern und das LSG zu einer weiteren Beweiserhebung veranlassen können. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG aufgrund dann durchgeführter weiterer medizinischer Ermittlungen zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis hinsichtlich der Höhe der durch den Arbeitsunfall verursachten MdE gelangt wäre.

Der Rechtsstreit ist deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.



Ende der Entscheidung

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