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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 27.06.2006
Aktenzeichen: B 2 U 20/04 R
Rechtsgebiete: BKV, SGG


Vorschriften:

BKV Anl 1 Nr 2110
SGG § 163

Entscheidung wurde am 21.03.2007 korrigiert: die Rechtsgebiete, die Vorschriften und der Verfahrensgang wurden geändert, Stichworte und ein amtlicher Leitsatz wurden hinzugefügt
1. Rechtstatsachen, die für die Auslegung, dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt werden, unterliegen nicht der in § 163 SGG angeordneten Bindung des Revisionsgerichts an tatrichterliche Feststellungen (teilweise Aufgabe von BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R = SozR 3-2200 § 551 Nr 16; BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1).

2. Die Frage, welcher Einwirkungen es mindestens bedarf, um eine bestimmte Berufskrankheit zu verursachen, ist unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten.


BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Verkündet am 27. Juni 2006

Az: B 2 U 20/04 R

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2006 durch den Vorsitzenden Richter Steege, die Richter Mütze und Kruschinsky sowie die ehrenamtlichen Richter Senske und Dr. Burdenski

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 10. September 2003 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten wegen der Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) gemäß Nr 2110 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (Anl BKV) und die Gewährung einer Verletztenrente.

Der im Jahre 1948 geborene Kläger war seit 1972 als Lkw-Fahrer beschäftigt. Zunächst war er bis 1977 bei der Firma Erdbau-Sch. im Baustellenverkehr - ab Mai 1973 als Baustoffanfahrer - tätig. Seit dem 5. April 1977 arbeitet er bei der Firma Spedition M. als Lkw-Fahrer im Fernverkehr.

Im März 1999 bat der Kläger die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) um Prüfung, ob bei ihm eine BK Nr 2110 Anl BKV anerkannt werden könne. Aufgrund seiner langjährigen beruflichen Tätigkeit bestünden Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS), die auf vertikale Ganzkörperschwingungen zurückgeführt werden könnten. Die Beklagte leitete hierauf medizinische und arbeitstechnische Ermittlungen ein.

Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) verneinte das Vorliegen der sog arbeitstechnischen Voraussetzungen der BKen Nr 2108 bis 2110 Anl BKV. Bezüglich der BK Nr 2110 Anl BKV führte er aus, die von dem Versicherten als Kraftfahrer im Güterfernverkehr geführten Lkw seien innerhalb der Lenkzeit nicht geeignet gewesen, Werte der Beurteilungsschwingstärke Kr >= 16,2 zu bewirken; die Belastungsanalyse der LWS habe lediglich Beurteilungsschwingstärken zwischen Kr = 8,1 und Kr = 11,3 ergeben. Nachdem auch der Gewerbearzt das Fehlen der arbeitstechnischen Voraussetzungen bestätigt hatte, lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung einer BK ab (Bescheid vom 18. Januar 2000).

Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, während seiner Tätigkeit bei der Firma Sch. bis 1977 im Baubereich sei er ganztägig erheblichen Schwingstärken ausgesetzt gewesen und machte dazu nähere Angaben. Daraufhin erstellte der TAD unter Zugrundelegung dieser Angaben eine neue Belastungsanalyse und führte aus, es hätten sich auch jetzt keine Werte der Beurteilungsschwingstärke Kr >= 16,2 ergeben, vielmehr lediglich solche von zwischen Kr = 10,4 und Kr = 13,6. Selbst unter Berücksichtigung der vom Kläger geltend gemachten schlechten Straßenverhältnisse und auf Baustellen ergäben sich Beurteilungsschwingstärken von lediglich zwischen Kr = 12,5 und Kr = 15,5. Unter Hinweis auf den damit nicht erreichten Grenzwert wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 16. November 2000).

Die Klage vor dem Sozialgericht (SG) blieb erfolglos (Urteil vom 31. Januar 2002). Das Landessozialgericht (LSG) hat die vom Kläger hiergegen eingelegte Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 10. September 2003). Weil bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK Nr 2110 Anl BKV zu verneinen seien, müssten die wegen bereits im Jahre 1974 diagnostizierter Wirbelsäulenbeschwerden bestehenden erheblichen medizinischen Bedenken gegen die Kausalität der beruflichen Exposition mit der beim Kläger gegebenen Wirbelsäulenerkrankung nicht vertieft werden. Nach dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK Nr 2110 Anl BKV (BArBl 3/1993, 55 ff) sei Voraussetzung für die Annahme eines beruflichen Kausalzusammenhanges eine langjährige, in der Regel mindestens 10-jährige wiederholte Einwirkung von vorwiegend vertikalen Ganzkörperschwingungen in Sitzhaltung; dabei müsse nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand davon ausgegangen werden, dass die gesundheitliche Gefährdung von der gesamten beruflichen Schwingungsbelastung abhänge. Diese setze sich aus der Gesamtzahl der Expositionstage mit Beurteilungsschwingstärken (Tagesdosis) Kr >= 16,2 nach VDI-Richtlinie 2057 zusammen. Sofern Belastungen durch stoßhaltige Schwingungen oder solche mit ungünstiger Körperhaltung vorlägen, die zu erhöhter Gefährdung führten, seien Expositionstage bereits mit einer Beurteilungsschwingstärke Kr > 12,5 zu berücksichtigen. Derartigen Expositionen sei der Kläger während seiner Tätigkeit als Lkw-Fahrer bei der Spedition M. in der Zeit seit 1977 aber nicht ausgesetzt gewesen. In zahlreichen Belastungsanalysen, die der TAD in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Merkblattes für die medizinische Untersuchung zur BK Nr 2110 Anl BKV und in Übereinstimmung mit der VDI-Richtlinie 2057 durchgeführt habe, sei für keinen Zeitraum der beruflichen Tätigkeit des Klägers seit 1977 eine Beurteilungsschwingstärke von Kr = 16,2 erreicht worden; auch unter kumulativer Berücksichtigung aller vom Kläger geltend gemachten Erschwernisse und bei großzügig bemessenen Fahrzeitanteilen auf schlechter Fahrbahn bzw im Gelände könnten Spitzenwerte der Beurteilungsschwingstärke von zeitweise maximal Kr = 15,5 errechnet werden.

Dem könne auch nicht entgegengehalten werden, dass für die Zeit der Tätigkeit bei der Firma Sch. von 1972 bis 1977 bislang keine konkreten Ermittlungen erfolgt seien. Zum einen seien auch insofern keine höheren Beurteilungsschwingstärken als nach Maßgabe der Berechnungen des TAD unter Zugrundelegung von 20 vH Geländefahrten bei Lenkzeiten von täglich 11 Stunden (max Kr = 15,5) zu erwarten. Denn ausweislich seiner eigenen Angaben habe der Kläger von 1973 bis 1977 lediglich Baustellenanfahrten, also Transporte von Baumaterialien über die Straße bis auf das Baustellengelände, ausgeführt, so dass ein größerer Anteil als 20 vH an Geländefahrten nicht realistisch erscheine. Selbst wenn ungeachtet dessen für diesen Zeitraum davon ausgegangen würde, dass Belastungsschwingstärken von Kr = 16,2 oder mehr erreicht worden wären, so wäre das Kriterium der Langjährigkeit bei weitem nicht erreicht. Dabei könne auch nicht die vom Kläger für die Zeit von 1968 bis 1972 angegebene Tätigkeit als Panzerfahrer bei der Deutschen Bundeswehr herangezogen werden.

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 7 und 9 Abs 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) iVm Nr 2110 Anl BKV. Mit der Festsetzung eines Grenzwertes von einer Beurteilungsschwingstärke (Tagesdosis) in Höhe von Kr >= 16,2 habe das LSG ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal zur Anerkennung einer BK Nr 2110 Anl BKV aufgestellt, das weder in der BKV seinen Niederschlag finde noch auf einem allgemeinen Erfahrungssatz beruhe. Ein Ausschluss von Leistungen bei Nichterreichen eines vorgegebenen Grenzwertes müsse aber zumindest vom Verordnungsgeber geregelt werden. Die VDI-Richtlinie 2057, aus der dieser Grenzwert komme, sei indes weder ein gesetzliches Regelwerk noch habe sie Verordnungscharakter; sie sei zudem im März 2002 zurückgezogen und durch die Richtlinie ISO 6954 ersetzt worden. Gegen die Annahme eines entsprechenden allgemeinen Erfahrungssatzes müsse angeführt werden, dass der Grenzwert nicht unumstritten sei.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts für das Saarland vom 10. September 2003 und des Sozialgerichts für das Saarland vom 31. Januar 2002 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18. Januar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2000 zu verurteilen, sein Wirbelsäulenleiden als Berufskrankheit nach Nr 2110 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen und ihm wegen der Folgen dieser Berufskrankheit eine Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Die VDI-Richtlinie 2057 sei zwar überarbeitet und im September 2002 neu veröffentlicht worden. Die Änderungen darin hätten jedoch nicht den Schwellenwert von Kr >= 16,2, ab dem von einer gefährdenden Einwirkung auszugehen sei, betroffen; dieser Wert sei vielmehr unverändert geblieben, so dass auch die überarbeitete Richtlinie keine geänderte Beurteilungsweise hinsichtlich der BK 2110 herbeigeführt habe.

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>). Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende Entscheidung über die vom Kläger geltend gemachte Anerkennung und Entschädigung seiner Erkrankung als BK Nr 2110 Anl BKV nicht aus.

Der von dem Kläger verfolgte Anspruch richtet sich nach den Vorschriften des SGB VII, weil der diesem Anspruch möglicherweise zugrundeliegende Versicherungsfall, zu dem auch die (hier wohl erst 1999 erfolgte) Aufgabe aller einschlägig belastenden Tätigkeiten gehört, nach dem In-Kraft-Treten des SGB VII am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).

Nach § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und BKen (§ 7 Abs 1 SGB VII). Die Voraussetzungen für die Anerkennung der umstrittenen BK ergeben sich aus § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2110 Anl BKV. Hiernach müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem Versicherten muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vorliegen, die durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen entstanden ist. Die Erkrankung muss den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben, und der Versicherte darf eine solche Tätigkeit tatsächlich nicht mehr ausüben.

Für das Vorliegen des Tatbestandes der BK ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß iS des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein, während für den ursächlichen Zusammenhang, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2 mwN).

Soweit das Gesetz speziell für die Kausalitätsbeurteilung bei BKen in § 9 Abs 3 SGB VII unter bestimmten Voraussetzungen eine widerlegbare Vermutung für einen Ursachenzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Auftreten einer BK begründet, bezieht sich auch diese Beweiserleichterung allein auf den Kausalverlauf. Die tatsächlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutung müssen in vollem Umfang bewiesen sein (vgl Ricke in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: 2006, § 9 SGB VII RdNr 28; Kater/Leube, SGB VII, 1997, § 9 RdNr 15).

Das LSG hat bereits das Vorliegen der sog arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr 2110 Anl BKV verneint und die weiteren Voraussetzungen für die Anerkennung der BK - aus seiner Sicht konsequent - nicht geprüft. Mit dem in Rechtsprechung und Literatur bei verschiedenen BKen verwendeten Begriff der "arbeitstechnischen Voraussetzungen" sind die für die Anerkennung einer Krankheit als BK erforderlichen besonderen Einwirkungen iS des § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII gemeint. Es geht darum, welche Einwirkungen vorgelegen haben und wie sie beschaffen gewesen sein müssen, um von einer beruflichen Ursache der eingetretenen Erkrankung ausgehen zu können. Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Kläger im Verlauf seiner Berufstätigkeit keiner für eine Krankheitsverursachung ausreichenden Dosis an Schwingungsbelastungen ausgesetzt gewesen. Aus dem im Bundesarbeitsblatt 3/1993 veröffentlichten Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK Nr 2110 Anl BKV ergebe sich, dass eine gesundheitliche Gefährdung erst gegeben sei, wenn die Tagesdosis an Ganzkörperschwingungen die Beurteilungsschwingstärke Kr = 16,2 nach der VDI-Richtlinie 2057 überschreite. Dieser Grenzwert sei aber nach den Belastungsanalysen des TAD für keinen Zeitraum der beruflichen Tätigkeit des Klägers seit 1977 erreicht worden.

Diesen Ausführungen liegt die zutreffende Überlegung zugrunde, dass es Aufgabe der Verwaltung und der Gerichte ist, die im Text der BKV nur unbestimmt beschriebenen Einwirkungen zu präzisieren. Dazu kann im hier interessierenden Zusammenhang die Festlegung gehören, welches Maß an Schwingungsbelastungen im Verlauf der versicherten Berufstätigkeit mindestens erreicht worden sein muss, damit überhaupt ein Kausalzusammenhang mit der Wirbelsäulenerkrankung in Betracht kommt. Zwar ist dem Wortlaut der Nr 2110 Anl BKV für die Notwendigkeit einer Mindestbelastungsdosis nichts zu entnehmen. Aus dem Fehlen einer Angabe zum Grad der erforderlichen Einwirkungen kann aber nicht gefolgert werden, dass Ganzkörperschwingungen schlechthin, unabhängig von ihrer Intensität und Stärke, als geeignet angesehen werden, Bandscheibenschäden zu verursachen, sofern sie nur langjährig einwirken. Der Senat hat schon früher darauf hingewiesen, dass der Verordnungsgeber bei der Formulierung der BK-Tatbestände vielfach bewusst auf die Angabe konkreter Belastungsarten und Belastungsgrenzwerte verzichtet und stattdessen auslegungsbedürftige unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet hat, um bei der späteren Rechtsanwendung Raum für die Berücksichtigung neuer, nach Erlass der Verordnung gewonnener oder bekannt gewordener wissenschaftlicher Erkenntnisse zu lassen (vgl Urteil vom 2. Mai 2001 - B 2 U 16/00 R = SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 82; Urteil vom 18. März 2003 - B 2 U 13/02 R = BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1 RdNr 10; so ausdrücklich auch schon die Begründung zur 1. BKVO vom 12. Mai 1925, RArbBl - Amtl Teil - 1925, 262). Von daher ist es notwendig, die Begriffe auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt erreichten Forschungsstandes zu konkretisieren und festzustellen, wie danach die beruflichen Einwirkungen beschaffen sein müssen, um die betreffende Krankheit hervorrufen zu können (BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 83).

Wird eine Mindestbelastungsdosis bestimmt, muss deren Wert so niedrig bemessen werden, dass im Falle seiner Unterschreitung auch in besonders gelagerten Fällen, etwa auch beim Zusammenwirken der Schwingungsbelastungen mit anderen schädlichen Einwirkungen und unter Berücksichtigung der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS ein rechtlich relevanter Kausalzusammenhang ohne weitere medizinische Prüfung ausgeschlossen ist. Das bedeutet andererseits nicht, dass beim Erreichen der Mindestdosis der Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Krankheit automatisch anzuerkennen ist, weil Art und Ausmaß der Einwirkungen nur ein Kriterium zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs sind. Diese Überlegungen erfordern also neben der Festlegung einer Mindestdosis unter Umständen auch die Benennung von höheren Dosiswerten, bei denen unter Einbeziehung weiterer Kriterien zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs die Wahrscheinlichkeit einer Verursachung der Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen steigt (vgl beispielhaft das neue Merkblatt zur BK Nr 2110, BArbBl 2005, Heft 7, S 43, 46 mit einer Untergrenze für erhöhte Gesundheitsgefährdung und einer Obergrenze, bei der von einem Gesundheitsrisiko auszugehen ist). Soll ein Antrag auf Anerkennung einer Krankheit als BK allein aufgrund des Nichtvorliegens ausreichender Einwirkungen abgelehnt werden, ist es notwendig, die in der Definition der BK beschriebenen Einwirkungen zu konkretisieren und festzustellen, bei welcher Dosis sie nicht mehr geeignet sind, die betreffende Krankheit nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu verursachen. Für die höheren Dosiswerte, die unter Einbeziehung weiterer Kriterien zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs eine Anerkennung der Krankheit als BK rechtfertigen, gilt dasselbe entsprechend.

Die Frage, welcher Einwirkungen es mindestens bedarf, um eine BK zu verursachen bzw die Anerkennung einer BK unter Einbeziehung weiterer Kriterien zu rechtfertigen, ist unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten (allgemein dazu: Senatsurteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen; vgl auch BSG SozR 3850 § 51 Nr 9; BSG SozR 1500 § 128 Nr 31 = SGb 1988, 506 mit Anm K. Müller; BSG SozR 3-3850 § 52 Nr 1; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, Kap III RdNr 47, 57; Rauschelbach, MedSach 2001, 97; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl 2003, Kap 2.3.4.3, S 146). Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht.

Das Gericht, das die für die Anerkennung als BK erforderlichen Einwirkungen zu präzisieren hat, muss sich Klarheit darüber verschaffen, welches in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist. Ausgehend von der Begründung des Verordnungsgebers zur Einführung der BK können dazu einschlägige Publikationen, beispielsweise die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums und die wissenschaftliche Begründung des ärztlichen Sachverständigenbeirats, Sektion Berufskrankheiten, zu der betreffenden BK oder Konsensusempfehlungen der mit der Fragestellung befassten Fachmediziner herangezogen werden, sofern sie zeitnah erstellt oder aktualisiert worden sind und sich auf dem neuesten Stand befinden. Fehlen solche Zusammenstellungen oder sind sie veraltet, bedarf es entsprechender Ermittlungen. Da Gerichte regelmäßig nicht selbst über den notwendigen medizinischen und technischen Sachverstand verfügen, um den Stand der fachlichen Diskussion zuverlässig nachzeichnen und bewerten zu können, muss in solchen Fällen ein Sachverständiger gehört werden.

Der für die ablehnende Entscheidung maßgebenden Einschätzung des Berufungsgerichts, Ganzkörperschwingungen seien nur dann generell geeignet, eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Sinne der Nr 2110 Anl BKV herbeizuführen, wenn sie langjährig einen Tagesdosiswert von Kr >= 16,2 erreichen, kann nicht gefolgt werden. Diese Annahme stützt sich auf Materialien, die durch neuere Veröffentlichungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr 2110 Anl BKV überholt sind und nicht mehr dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen. So kommt eine vom Hauptverband der gewerblichen BGen in Auftrag gegebene, 1999 veröffentlichte epidemiologische Studie zu dem Ergebnis, dass Expositionen oberhalb einer Beurteilungsschwingstärke von Kr 12,5 mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zum Auftreten eines Lumbalsyndroms führen (vgl Schwarze et al, Epidemiologische Studie "Ganzkörperschwingungen", Abschlussbericht S 40; Schwarze/Notbohm/Hartung/Dupuis, Schwingungsbelastung als gesundheitliches Risiko für die Lendenwirbelsäule, BG 1998, 690; Konietzko/Dupuis/Letzel <Hrsg>, Handbuch der Arbeitsmedizin, Stand 2003, Abschn IV 3.5.2, S 4). Dies wird durch das Ergebnis anderer Analysen gestützt, die auf der Grundlage der seit September 2002 geltenden Neufassung der VDI-Richtlinie 2057 als Parameter für Schwingungsbelastungen die frequenzbewertete Beschleunigung verwenden (Konietzko/Dupuis/Letzel, aaO, Abschn IV 3.5.1, S 3). Der in diesen Studien ermittelte Schwellenwert von 0,63 m/s2, der einer Beurteilungsschwingstärke von Kr = 12,5 entspricht, wird deshalb auch in dem am 1. Juni 2005 vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen neuen Merkblatt zur BK 2110 (BArbBl 2005, Heft 7, S 43, 46, berichtigt in BArBl 2005, Heft 8-9, S 46) als Tagesdosis zugrunde gelegt, bei der im Regelfall ein arbeitsbezogener Kausalzusammenhang in Betracht gezogen werden kann.

Dies festzustellen, ist der Senat durch revisionsrechtliche Vorgaben, insbesondere die Bindung an Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz (§ 163 SGG), nicht gehindert. Bei der Ermittlung, was Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Ursachen- und Wirkungszusammenhänge bei der Entstehung von BKen ist, geht es allerdings um Tatsachen, vorwiegend in Gestalt von medizinischen Erfahrungssätzen. Der Senat hat diesbezügliche Feststellungen der Instanzgerichte deshalb in der Vergangenheit dem Anwendungsbereich des § 163 SGG zugerechnet und sich außerstande gesehen, sie auf ihre inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen oder gar durch eigene Feststellungen zu ersetzen oder zu ergänzen (so BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 16 S 83; BSGE 91, 23, 29 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1 RdNr 12, jeweils mwN).

Diese rechtliche Bewertung wird nach erneuter Überprüfung im bisherigen Umfang nicht aufrechterhalten. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Möglichkeiten der Krankheitsverursachung durch schädliche Einwirkungen am Arbeitsplatz sind keine Tatsachen des Einzelfalles, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind. Ihre Ermittlung dient nicht nur der Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt. Vielmehr geht es um die Feststellung sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung, dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm - hier der BK Nr 2110 Anl BKV - benötigt werden. Solche Rechtstatsachen (zur Begriffsbildung: BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4 S 19; BSGE 84, 90, 94 f = SozR 3-2500 § 18 Nr 4 S 16 f; Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, S 791, 793 f) unterliegen nicht der in § 163 SGG angeordneten Bindung des Revisionsgerichts an tatrichterliche Feststellungen. Mit dem Zweck der Revision, die Einheit des Rechts zu wahren und eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten, wäre es nicht vereinbar, wenn eine Rechtsvorschrift des Bundesrechts von den LSGen unterschiedlich ausgelegt werden könnte, ohne dass das Ergebnis der Auslegung einer revisionsgerichtlichen Prüfung zugänglich wäre (BSG aaO; siehe auch BSG Urteil vom 13. Dezember 2005 - B 1 KR 21/04 R - SozR 4-2500 § 18 Nr 5 RdNr 18). Es obliegt deshalb dem BSG, Feststellungen, die der Konkretisierung einer im Tatbestand der BK geforderten arbeitstechnischen Voraussetzung dienen, auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen (so schon zum Begriff einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS im Rahmen der BK Nr 2108 Anl BKV: Senatsurteil vom 31. Mai 2005 - B 2 U 12/04 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 2).

Das LSG, an das die Sache zurückzuverweisen ist, muss prüfen, ob die Schwingungsbelastungen, denen der Kläger durch seine berufliche Tätigkeit ausgesetzt war, nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand geeignet waren, die Wirbelsäulenerkrankung des Klägers zu verursachen. Lässt sich das nicht ausschließen, muss weiter ermittelt werden, ob im konkreten Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang bestanden hat und ob die sonstigen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK gegeben sind.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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