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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 22.06.2004
Aktenzeichen: B 2 U 39/03 R
Rechtsgebiete: SGB VII, GG


Vorschriften:

SGB VII § 162
GG Art 14
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Verkündet am 22. Juni 2004

Az: B 2 U 39/03 R

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2004 durch den Vorsitzenden Richter Steege, die Richter Mütze und Kruschinsky sowie die ehrenamtliche Richterin Grützmacher und den ehrenamtlichen Richter Brüning

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. September 2003 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Beiträge der Klägerin zu der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) für die Jahre 1998 bis 2000. Konkret beansprucht die Klägerin die Herabsetzung der Gefahrklasse.

Die Klägerin betreibt ein Industriemontageunternehmen sowie ein Unternehmen der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung im Bereich des Maschinen- und Stahlbaus. Mit Letzterem ist sie mit Wirkung vom 3. November 1986 im Unternehmerverzeichnis der Beklagten eingetragen.

Für die Dauer des von 1995 bis 1997 geltenden Gefahrtarifs der Beklagten (Gefahrtarif 95) veranlagte die Beklagte die Klägerin zu den Gefahrtarifstellen 23 (Gefahrklasse 1,60) und 24 (Gefahrklasse 12,64 bzw 15,04) und setzte die Gefahrklasse der Gefahrtarifstelle 24 nach Teil II Nr 2 des Gefahrtarifs 95 um 20 % herab (Bescheid vom 24. Juni 1997). Für den ab dem 1. Januar 1998 bis einschließlich 31. Dezember 2000 geltenden Gefahrtarif der Beklagten (Gefahrtarif 98) veranlagte die Beklagte die Klägerin durch Bescheid vom 24. Juni 1998 zu der Gefahrtarifstelle 48 (Gefahrklasse 0,57) und zu der Gefahrtarifstelle 49 (Gefahrklasse 10,66). Widerspruch und Klage dagegen waren erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 1999, Urteil des Sozialgerichts Duisburg - SG - vom 21. März 2001). Das anhängige Berufungsverfahren (L 15 U 102/01 LSG NRW) ruht.

Den im Oktober 1999 gestellten Antrag auf Herabsetzung der Gefahrklasse lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 1. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2000 ab. Mit Klage und Berufung hat die Klägerin geltend gemacht, sie praktiziere eine von der üblichen Betriebsweise von Arbeitnehmerüberlassungsfirmen erheblich abweichende Betriebsweise (erhebliche Maßnahmen zum Arbeitsschutz, Arbeitsplatzbesichtigung, Arbeitsschutzvereinbarungen im Arbeitnehmerüberlassungsvertrag), die von höchstens 20 % der Überlassungsunternehmen eingeführt worden sei. Aufgrund der Herabsetzungsentscheidung für die Jahre 1995 bis 1997 genieße sie zudem Vertrauensschutz. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Oktober 2001); das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 12. September 2003). Gegenstand des Berufungsverfahrens sei nur der Bescheid vom 1. März 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2000. Dieser Bescheid sei rechtmäßig. Die Voraussetzungen für die Herabsetzung der Gefahrklasse nach Teil II Nr 2a Gefahrtarif 98 seien nicht gegeben. Die Verwirklichung besonderer Maßnahmen zum Arbeitsschutz stelle keine "von der üblichen erheblich abweichende Betriebsweise" iS der Satzungsbestimmung dar. Dies folge aus Teil II Nr 2b Gefahrtarif 98, wonach die Einhaltung der vorgeschriebenen und üblichen Vorkehrungen zur Verhütung von Unfällen und zur Abwehr von Gesundheitsgefahren keine Herabsetzung der Gefahrklasse begründe. Damit stelle nach dem Willen der Beklagten als Satzungsgeber die Verwirklichung besonderer Maßnahmen des Arbeitsschutzes keine von der üblichen erheblich abweichende Betriebsweise dar. Die genannten Satzungsbestimmungen verstießen nicht gegen höherrangiges Recht. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) durch die Urteile vom 6. Mai 2003 (B 2 U 7/02 R - SozR 4-2700 § 162 Nr 1 und B 2 U 17/02 R - HVBG-Info 2003, 2003 ff) entschieden. Ein Anspruch auf Herabsetzung der Gefahrklasse lasse sich auch nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes nach Treu und Glauben ableiten. Auch dies habe das BSG (aaO) in einem ähnlichen Fall entschieden. Dahinstehen könne, ob der Klägerin ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Beklagten über die Gewährung einer Prämie nach § 162 Abs 3 SGB VII zustehe, denn dies sei nicht Gegenstand des angefochtenen Bescheides der Beklagten.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Sowohl der Gefahrtarif der Beklagten wie auch die darin enthaltene Herabsetzungsregelung hätten Satzungscharakter und seien damit als Rechtsnormen revisibel. Das LSG habe die Herabsetzungsregelung in Ziffer II 2 Gefahrtarif 98 fehlerhaft ausgelegt. Es habe die Regelung offensichtlich so verstanden, dass bereits die Einhaltung vorgeschriebener und üblicher Vorkehrungen zur Verhütung von Unfällen und zur Abwehr von Gesundheitsgefahren besondere Maßnahmen des Arbeitsschutzes darstellen würden. Diese Auslegung sei fehlerhaft und sei auch von der Revisionsbeklagten nie so verstanden worden. Nach der Herabsetzungsregelung sollten vielmehr besondere Maßnahmen des Arbeitsschutzes, die über die üblichen und vorgeschriebenen Vorkehrungen hinausgingen, einen Anspruch auf Herabsetzung der Gefahrklasse begründen. Folge man der Auffassung des LSG, so seien auch die die Jahre 1995 bis 1997 betreffenden Herabsetzungsentscheidungen der Beklagten fehlerhaft gewesen. Bis zum Jahre 1997 habe die Klägerin Herabsetzungen auf die Gefahrklassen erhalten, weil im Rahmen entsprechender Prüfungen festgestellt worden sei, dass sie eine besondere Arbeitsschutzorganisation unterhielt und damit der Betrieb unter Berücksichtigung des tatsächlichen Unfallgeschehens einer geringeren Gefährdung unterlag, als dies für sonstige Betriebe der Fall war. Im streitgegenständlichen Tarifzeitraum seien vergleichbare Prüfungen nicht angestellt worden. Die Beklagte sei vielmehr davon ausgegangen, dass sich die Bedingungen im Betrieb hinsichtlich des Arbeitsschutzes nicht verändert hätten. Bei dieser Annahme sei aber die Voraussetzung für ein Herabsetzungsbegehren der Revisionsklägerin gegeben und die Ablehnung der Beklagten verstoße gegen § 162 SGB VII. Sie verstoße auch deswegen gegen diese gesetzliche Bestimmung, weil die Beklagte ihren Präventionsauftrag verletze. Nachdem die Beklagte die Auffassung vertrete, besondere Unfallverhütungsmaßnahmen würden keinen Anspruch auf Herabsetzung der Gefahrklasse begründen, finde nämlich ein präventionsorientiertes Beitragsausgleichsverfahren nicht mehr statt. Wirksam sei bei der Beklagten danach nur noch das in der Satzung festgelegte Beitragszuschlagssystem, welches aber keinen wirksamen Anreiz im Hinblick auf die Unfallverhütung biete. Die ablehnenden Entscheidungen der Beklagten und die nachfolgenden Gerichtsentscheidungen verstießen schließlich gegen das in Art 14 des Grundgesetzes (GG) garantierte Recht am ausgeübten Betrieb. Die Beklagte habe der Klägerin bereits mit Bescheid vom 24. Juni 1997 eine Herabsetzung um 20 % für die Jahre "1998 und 1999" gewährt. Die Klägerin habe daher auf die Zusage der Beklagten vertrauen können, dass ihre besonderen Maßnahmen zur Unfallverhütung weiterhin zu erheblichen Beitragseinsparungen führen würden. Daneben sei auch ein allgemeiner Vertrauensschutztatbestand zu berücksichtigen, den die Beklagte selbst geschaffen habe, indem sie die Durchführung von Qualitäts-Management-Systemmaßnahmen propagiert habe. Schließlich verstießen die angegriffenen Entscheidungen auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des GG, denn die Beklagte habe im Tarifzeitraum 1998 bis 2000 einer ganzen Reihe von Zeitarbeitsunternehmen Herabsetzungen wegen besonderer Unfallverhütungsmaßnahmen eingeräumt.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. September 2003 und des Sozialgerichts Duisburg vom 16. Oktober 2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihren Herabsetzungsantrag unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist nicht rechtswidrig und beschwert die Klägerin nicht iS von § 54 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Beklagte hat darin in rechtmäßiger Weise die Herabsetzung der Gefahrklasse für den Geltungszeitraum des Gefahrtarif 98, also die Jahre 1998 bis 2000, abgelehnt.

Der Bescheid vom 1. März 2000 ist entgegen dem Revisionsvorbringen nicht deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte der Klägerin zuvor mit Bescheid vom 24. Juni 1997 eine Herabsetzung der Gefahrklasse um 20 % für die Jahre 1998 und 1999 gewährt hätte und hieran gebunden gewesen sei. Der Bescheid (Anschreiben vom 24. Juni 1997 mit als Anlage bezeichnetem Veranlagungsbescheid vom selben Tag) enthält in Übereinstimmung mit der Regelung in § 159 Abs 1 Satz 1 SGB VII den ausdrücklichen Hinweis, dass die Herabsetzung "längstens bis zum Ablauf des jetzigen Tarifzeitraumes" gilt. Da dieser am 31. Dezember 1997 mit dem In-Kraft-Treten des Gefahrtarifs 98 zum 1. Januar 1998 endete, kann aus der vorsorglichen Angabe der im Gefahrtarif für die Jahre 1997 bis 1999 vorgesehenen Gefahrklasse keine weiterreichende Bindungswirkung abgeleitet werden.

Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteile vom 6. Mai 2003 - B 2 U 7/02 R - SozR 4-2700 § 162 Nr 1 und - B 2 U 17/02 R - HVBG-Info 2003, 2003 ff), beruht die Regelung im Gefahrtarif 95 der Beklagten in Teil II Nr 2, wonach die BG die Gefahrklasse herabsetzen oder heraufsetzen kann, wenn sich in Einzelfällen ergibt, dass wegen einer von der üblichen erheblich abweichenden Betriebsweise die Unternehmen geringeren oder höheren Gefahren unterliegen, auf einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage und steht mit dieser in Einklang. Für die vorliegend zu beurteilende Grundlage des angefochtenen Bescheides der Beklagten in Teil II Nr 2 Gefahrtarif 98 gilt das Gleiche, denn diese Vorschrift ist mit ihrer Vorgängervorschrift im Gefahrtarif 95 wortlautidentisch und die gesetzlichen Grundlagen (vgl für die Zeit bis zum 31. Dezember 1996 § 725 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung und danach § 162 Abs 1 SGB VII) sind unverändert.

Nach den unangegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) sowie dem Vorbringen der Klägerin im Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahren liegen die Voraussetzungen für eine Herabsetzung der Gefahrklasse der Klägerin gemäß Teil II Nr 2 Gefahrtarif 98 der Beklagten nicht vor. Die Klägerin betreibt nach ihrem eigenen Vorbringen durch Arbeitsplatzbesichtigungen und Arbeitsschutzvereinbarungen im Arbeitnehmerüberlassungsvertrag für ihre an andere Unternehmen ausgeliehenen Arbeitnehmer erhebliche Maßnahmen zum Arbeitsschutz, die von höchstens 20 % der Arbeitnehmerüberlassungsunternehmen eingeführt worden sind. Es kann danach dahinstehen, ob die von der Klägerin geschilderten Maßnahmen zu einer von der üblichen erheblich abweichenden Betriebsweise iS des Teil II Nr 2 Gefahrtarif 98 führen. Denn bei dem von der Klägerin selbst dargestellten prozentualen Anteil von Betrieben, die diese Betriebsweise eingeführt haben, handelt es sich nicht mehr um Einzelfälle iS der zitierten Bestimmung des Gefahrtarifs 98. In den Entscheidungen vom 6. Mai 2003 (aaO) hat der Senat zum Ausdruck gebracht, dass der Begriff "Einzelfälle" sowohl zahlenmäßig als auch qualitativ zu verstehen ist. Die Korrekturmöglichkeit soll auf einzelne aus dem Rahmen fallende Betriebe beschränkt bleiben, die wegen spezifischer Besonderheiten ein vom Durchschnitt ihrer Unternehmensart erheblich nach oben oder unten abweichendes Unfallrisiko aufweisen; sie darf dagegen nicht dazu führen, dass für eine größere Zahl von Unternehmen, die sich durch eine bestimmte gemeinsame Betriebsweise von den anderen der Gefahrtarifstelle zugeordneten Unternehmen unterscheiden, über den Weg der Herabsetzung eine eigene Gefahrklasse festgesetzt und damit im Ergebnis die vom Gesetz in § 157 Abs 2 SGB VII vorgeschriebene Gliederung in ausreichend große, einen versicherungsmäßigen Risikoausgleich gewährleistende Gefahrgemeinschaften unterlaufen wird (BSG, Urteile vom 6. Mai 2003, aaO; BSG, Urteil vom 11. November 2003 - B 2 U 55/02 R - HVBG-Info 2004, 62 ff).

Auf dieser rechtlichen Grundlage hat der Senat entschieden, dass sog Direktversicherer mit ihrer besonderen Betriebsweise gegenüber den üblichen Unternehmen der privaten Versicherungswirtschaft, obgleich es sich um eine Minderheit innerhalb der Tarifstelle 02 des Gefahrtarif 95 (Versicherungsunternehmen/Versicherungsvertreter, -fachmann, -makler/Bausparkassenvertreter) handelt, keine Einzelfälle darstellen. Ebenso (keine Einzelfälle) hat der Senat in dem Verfahren von drei Niederlassungen eines Unternehmens der privaten Versicherungswirtschaft, die über keinen eigenen Außendienst verfügten, entschieden (BSG Urteile vom 6. Mai 2003, aaO). Nichts anderes gilt für die vorliegend zu beurteilende Unternehmensart der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung, wenn bis zu 20 % dieser Unternehmen in gleicher Weise wie die Klägerin betrieben werden. Wenn auch keine absoluten Zahlen genannt worden sind, folgt doch aus dem angegebenen Prozentsatz, dass ein größerer, zahlenmäßig ins Gewicht fallender Teil der Zeitarbeitsfirmen die angeführten Arbeitsschutzmaßnahmen praktiziert. Damit aber geht es nicht mehr nur um Einzelfälle iS von Teil II Nr 2 Gefahrtarif 98 und die Voraussetzungen für eine Herabsetzung der Gefahrklasse sind jedenfalls aus diesem Grunde nicht erfüllt.

Aus den in den Urteilen des Senats vom 6. Mai 2003 im Einzelnen dargestellten Gründen war die Beklagte auch gegenüber der Klägerin zu einer Herabsetzung der Gefahrklasse für den Geltungszeitraum des Gefahrtarif 98, also die Jahre 1998 bis 2000, weder aus Gründen des Vertrauensschutzes, der Selbstbindung oder zur Vermeidung eines behaupteten Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG verpflichtet. Mangels substantiellen Vortrags lässt sich die Behauptung einer Verletzung des Art 14 GG nicht nachvollziehen.

Die Revision war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden Fassung.

Ende der Entscheidung

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